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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4056. Wien, Freitag, den 10. December 1875

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Concerte.


0002Ed. H. Der große Anschlagzettel des letzten „Gesell-
0003schafts-Concerts
“ versprach Alles in Allem eine
0004Tondichtung von Händel und drei von Mozart. Bei
0005der Aufführung wurde eine der letzteren (Concert für Flöte
0006und Harfe) durch ein Bach’sches Violin-Concert ersetzt, die
0007zweite („Misericordias“) ganz weggelassen. Entscheidend
0008wirkte wol zunächst die Erwägung, es möchte die dreifache
0009Vertretung Mozart’s in einem Concerte von nur vier Nummern
0010doch unverhältnißmäßig erscheinen, sodann der bei der Gene-
0011ral-Probe gewonnene Eindruck von der zu langen Dauer der
0012Aufführung. Beide Gründe sind stichhältig, und wie wir das
0013Gesellschafts-Concert am letzten Sonntag zu hören bekamen,
0014war es nach Dauer und Zusammenstellung unanfechtbar.
0015Eine vorläufige gründliche Erwägung aller Umstände
0016empfiehlt sich allerdings besser als eine nachträgliche; im
0017vorliegenden Falle jedoch hat Herbeck, gerade so wie jüngst
0018Hanns Richter, mit der späteren Abänderung des Pro-
0019gramms weise gehandelt. Auf die beiden genannten Mozart-
0020Stücke können wir uns wie auf zwei aufgesparte gute Bissen
0021für das nächste Concert freuen. Die G-moll-Symphonie 
0022machte den Anfang. Von Mozart’s neunundvierzig Sympho-
0023nien (!) behaupten leider nur noch die drei letzten (G-moll,
0024Es-dur, C-dur) ungeschmälert ihren festen Platz in den Con-
0025cert-Repertoires. Diese drei aber verfehlen niemals ihre Wir-
0026kung, am wenigsten die in G-moll, das populärste und
0027zugleich genialste von Mozart’s symphonischen Werken. Die
0028bezauberndste Lieblichkeit verbindet sich hier mit einer voll-
0029endeten Meisterschaft, und diese wieder mit einer Anspruchs-
0030losigkeit, wie sie nur dem wahren Genie eigen. Die Aufführung
0031gelang unter Herbeck’s Leitung vorzüglich, nur das Scherzo
0032hätten wir etwas langsamer gewünscht. In den gestochenen
0033Partituren führt dieser Satz regelmäßig die Tempobezeich-
0034nung „Allegro“, während in Mozart’s Autograph (im Be
0035sitze von Brahms) „Allegretto“ steht. Mit Recht hielt
0036sich Herbeck an diese authentische Bezeichnung gegenüber der
0037vulgären, näherte sie jedoch bereits dem Andantino. Es
0038folgte ein Bach’sches Violin-Concert (A-moll), das wir vor
0039Jahren von Hellmesberger in einem Gesellschafts-
0040Concert gehört. Diesmal spielte es eine seiner Schülerinnen,
0041Fräulein Theresia Seydel, deren jugendliche Anmuth und
0042bescheidene Haltung das Publicum sofort günstig zu stimmen
0043schien. Ihre Leistung fand großen und wohlverdienten Bei-
0044fall. Glockenhelle Reinheit der Intonation — diese erste
0045und doch selbst bei Koryphäen nicht immer vorhandene
0046Grundbedingung schönen Violinspieles — bildet die vor-
0047nehmste Tugend dieser jungen Virtuosin. Dazu gesellt sich
0048ein durchaus musikalischer, ruhiger, unaffectirter Vortrag
0049und eine sehr respectable Geläufigkeit, die namentlich in den
0050Trillern und rapiden Scalenläufen der Cadenz, auch in
0051einigen Proben mehrstimmigen Spieles fleckenlos hervortrat.
0052Daß Hellmesberger in der von ihm componirten Cadenz die
0053Polyphonie sehr mäßig verwendet, hat unseren vollen Bei-
0054fall; das anhaltende Accordenspiel, zu welchem wol Bach’s
0055Chaconne“ so Manchen verleitet, ist gegen die Natur der
0056Geige, bleibt immer dürftig und geht selbst bei den kühnsten
0057Virtuosen ohne Reißen und Quetschen nicht ab. Fräulein
0058Seydel unternahm auf ihrem Instrumente nichts, was sie
0059nicht vollkommen gut und sicher herausbrachte; das allein
0060spricht schon für sie und ihren Meister.


0061Einen würdigen Abschluß machte Händel’sCäcilien-
0062Ode“, die wir zuerst (unter Herbeck) im Jahre 1863 und
0063seither nicht wieder gehört. Der Dichter Dryden schildert
0064darin den Einfluß der Musik auf das Gemüth des Men-
0065schen, ein Stoff, den bekanntlich auch Händel’s „Timotheus“
0066behandelt. Ein Lieblingsthema früherer Musik-Epochen, ist
0067jetzt die directe Verherrlichung der Musik durch die Musik
0068selbst dem modernen Kunstgeschmacke entfremdet. Den Com-
0069ponisten unserer Zeit muß ein solches Unterfangen theils kindlich,
0070theils vermessen erscheinen. Wir überlassen es lieber den an-
0071deren Künsten, einen Orpheus, Arion, eine heilige Cäcilia zu 
0072illustriren, als daß wir deren mythische Zauberwirkungen durch
0073Compositionen versinnlichen, welchen ein ebenbürtiger Effect
0074vielleicht ausbleibt. Einer naiver zugreifenden Zeit blieben
0075solche ästhetische Bedenken fremd — glücklicherweise, müssen
0076wir beifügen, indem wir an Händel und Gluck denken.
0077Händel knüpft in der Cäcilien-Ode die verschiedenen Arten
0078der durch Musik erregten Gemüthszustände an bestimmte
0079charakteristische Instrumente. Bei den Klängen der Laute
0080„hebt und senkt sich der Seele Flug“, die helle Geige tönt
0081„Eifersucht und Verzweiflung“ u. s. w. Ueber alle Instrumente,
0082die Orgel mit inbegriffen, siegt jedoch die menschliche Stimme
0083„durch heiliger Lieder Macht“. Indem Händel jede dieser
0084Schilderungen mit unvergleichlicher Charakteristik von dem betref-
0085fenden Solo-Instrument begleiten läßt, liefert er gleichsam eine
0086ideale Abhandlung über Instrumentirung. Die Cäcilien-Ode 
0087gehört, von einigen schwächeren, ihrer Zeit stark tributpflich-
0088tigen Momenten abgesehen, zu den frischesten und farbenreichsten
0089Schöpfungen des Meisters. Zuhöchst möchten wir die „Schlacht-
0090Arie“ setzen, deren rhythmische Kraft und wie aus Stein
0091gehauene Melodik hinreißend wirken. Durch Zartheit der
0092Empfindung bezaubert die erste Sopran-Arie mit Cello-
0093begleitung. (Im Original ist das Accompagnement wirklich
0094der Laute — „Liuto“ — zugewiesen, welches außer Gebrauch
0095gekommene Instrument jetzt recht wirksam durch das Violon-
0096cell ersetzt ist.) Der zweiten Sopran-Arie, welche den „Jam-
0097mer hoffnungsloser Liebe“ schildert, gibt Händel eine Flöten-
0098begleitung; war doch im classischen Alterthum, wie bei den
0099meisten vorhellenischen Culturvölkern, die Flöte vorzugsweise
0100das Instrument der Trauer und Klage. Die Verzweiflungs-
0101Arie des Tenors mit Violinsolo erscheint uns heute kalt und
0102formalistisch, mitunter sogar verzweifelt lustig — für der
0103„Sehnsucht tiefste Qual“ fehlten dem Meister die entsprechen-
0104den Töne. Ebenso klingt uns die Sopran-Arie: „Orpheus 
0105bezwang die wilde Brut“, mit ihren Rococoschnörkeln con-
0106ventionell und äußerlich. Aber Händel läßt uns keine Zeit
0107zur Ernüchterung: die Orgel erbraust in mächtigen Accorden,
0108der ganze Chor, einer Vorsängerin folgend, fällt kraftvoll [2]
0109ein und bringt das Werk feierlich, in begeistertem Schwung
0110zum Abschlusse. Die Cantate machte große Wirkung, die paar
0111befremdend altmodischen Stellen verschwanden in der genialen
0112Kraft des Ganzen. Wesentliches Verdienst an diesem Erfolg
0113hat die von Director Herbeck mit Energie und eingehend-
0114stem Verständniß geleitete Aufführung. Wie jubelten die fri-
0115schen Stimmen des „Singvereins“ in diesen markigen, so
0116unübertrefflich stimm- und chorgemäß gesetzten Chören! Die
0117Solopartien sangen Frau Wilt und Herr Walter. Letz-
0118terer fand keine seiner Individualität angemessene Aufgabe
0119vor, war auch nicht bei Stimme. Schnorr v. Carolsfeld
0120wußte, 1863, mit der „Trompeten-Arie“ ganz anders drein-
0121zuschmettern. Dafür schlug Frau Wilt nicht nur ihre Vor-
0122gängerin von damals, sondern alle nur denkbaren Riva-
0123linnen. Wirklich erinnern wir uns keiner Leistung im Ora-
0124torienfache, welche an imposanter Wirkung mit jener der
0125Frau Wilt in der Cäcilien-Ode zu vergleichen wäre. Nebst
0126einer ungewöhnlichen Kraft und Ausdehnung der Stimme
0127fordert diese Partie vollkommene Meisterschaft auf zwei selten
0128vereinigten Gebieten: im breit aushallenden, getragenen Ge-
0129sang und in virtuoser Coloratur. Beide Ansprüche erfüllte
0130Frau Wilt in eminenter Weise. Geradezu hinreißend war
0131der Glanz und die Kraft ihrer Stimme in dem letzten, mit
0132Chor und Orgel wetteifernden Solo. Als sie die Stelle
0133sang: „Doch wess’ Stimme gleicht, o welche Kunst erreicht
0134der Orgel Klang?“ da drängte sich Manchem die improvisirte
0135Antwort auf die Lippen: Die Ihre, Frau Wilt, die Ihre! —


0136Die Sängerin Frau Martha Prochazka aus Prag 
0137gab — von ihrem Gatten auf dem Piano begleitet — ein
0138äußerst beifällig aufgenommenes Concert. Ihr Organ und
0139Vortrag, die jüngst im großen Musikvereinssaale nicht recht
0140ausreichen wollten für die heroische Aufgabe der „Ocean“-
0141Arie, machten sich in kleinerem Raum und einem durchwegs
0142aus Liedern zusammengesetzten Programm sehr vortheilhaft
0143geltend. Herr Anton Door, dem wir schon so manche inter-
0144essante Bekanntschaft verdanken, spielte (mit seiner Schülerin
0145Fräulein Gröber) eine Novität: „Variationen zu vier 
0146Händen“, op. 10, von Robert Fuchs. Das anmuthige und
0147solide Talent des jungen Componisten erreicht in diesem
0148Werke abermals eine höhere Stufe künstlerischer Entfaltung.
0149Seine Variationen bewegen sich klar und ungezwungen in
0150einem durchaus musikalischen, vornehmen Ideenkreise. Der
0151Virtuosität bieten sie keine Aufgaben, sie sind leicht zu spie-
0152len und deßhalb recht eigentlich Hausmusik bester Art.


0153Hellmesberger’s zweite Quartett-Soirée begann
0154mit dem bereits bekannten A-moll-Quintett von Gold-
0155mark
; der Componist der „Königin von Saba“ hatte an
0156diesem Abende die schwere Wahl, sich entweder im Opern-
0157hause oder im Concertsaale applaudiren zu hören. Die bei-
0158den anderen Nummern waren Beethoven’s G-dur-
0159Quartett (aus op. 18) und ein neues Clavier-Quartett 
0160(B-dur, op. 41) von Saint-Saëns. Lebhaft und geist-
0161reich, eine Composition von feinem Geschmack und vollendeter
0162Geschicklichkeit, fand dieses Clavier-Quartett allgemeinen Bei-
0163fall und hatte ihn verdient, woher und von wem immer es
0164stammen mochte. Als das Werk eines Franzosen ist es uns
0165aber doppelt interessant. Die Kammermusik war bis heute
0166Monopol der deutschen Tonkunst geblieben. Seit Cherubini 
0167ausnahmsweise einige Streichquartette geschrieben, folgte in
0168dieser Gattung kein Italiener nach. Unter den Franzosen
0169ist Camille Saint-Saëns der Einzige, der seinen daheim
0170gefeierten, in Deutschland bereits geachteten Namen aus-
0171schließlich der Kammermusik verdankt. Seine Compositionen
0172lassen uns schauen, wie sich der Geist deutscher Meister in dem
0173Kopfe eines talentvollen Franzosen spiegelt. Pariser von Geburt
0174und in seinem ganzen Wesen, steht doch Saint-Saëns unter dem
0175directen Einflusse deutscher Musik. Beethoven und Mendelssohn,
0176Schumann und Brahms, sogar Bach und Händel (wie
0177das einen Choral contrapunktirende Adagio seines Quartetts
0178beweist) klingen in seinen Werken an, nicht nachgeahmt, son-
0179dern ausgesogen von dem selbstständig producirenden Talente
0180einer beweglicheren Nation und eines südlicheren Himmels-
0181striches. Als wesentlichster Vorzug ist ihm nachzurühmen, daß
0182seine Themen von Haus aus instrumental gedacht und quar
0183tettmäßig durchgeführt sind, während ähnliche Versuche von
0184Franzosen und Italienern nur zu oft wie arrangirter Ge-
0185sang oder Claviersatz klingen. Mit dem ganzen Rüstzeuge
0186harmonischer und contrapunktischer Kenntnisse ausgestattet,
0187producirt Saint-Saëns dieselben doch niemals auf Kosten
0188der Anmuth und des Geschmackes. Die alte französische
0189Sprachregel: „Was nicht klar ist, ist nicht gut französisch,“
0190leitet ihn auch in seiner Musik. Er fliegt nicht (um ein
0191Schumann’sches Gleichniß zu brauchen) so hoch in den Aether,
0192daß uns der Athem ausgeht, noch steigt er in Tiefen hinab,
0193wo jedes Grubenlicht verlischt. Ist aber Saint-Saëns’ Cla-
0194vier-Quartett auch nicht erfüllt von starker und tiefer Leiden-
0195schaft, so reicht es doch weit hinaus über das blos Gefällige
0196und gewährt eine durchaus ernsthafte, geistreich anregende
0197Beschäftigung. Die drei ersten Sätze sind theoretisch glücklich
0198erfunden und in ihrem ausgeprägten Charakter consequent
0199festgehalten. Das Finale spinnt ein nicht bedeutendes
0200Thema allzu redselig aus und ist eben auf dem Punkt, den
0201Hörer durch imitatorische Nothhelfer zu ermüden, als der
0202Componist es durch einen glücklichen Einfall rettet. Er leitet
0203unvermuthet das Thema des ersten Satzes wie einen frischen
0204Quell auf die etwas ausgetrocknete Wiese und benützt hierauf
0205die früheren Motive zu einem artigen Kunststück. Das zweite
0206Thema des ersten Satzes und der Choral aus dem Adagio
0207(verkleinert, alla breve) vereinigen sich nämlich zu einer freien
0208Doppelfuge, welche, weder aufdringlich noch ausgedehnt, das
0209Stück als geistreiches Aperçu beschließt. Das Quartett wurde
0210vortrefflich gespielt und namentlich in seinem schwierigen
0211Clavierpart von Herrn Door frisch und energisch aus-
0212geführt.


0213Wenn die Schneeverwehungen der letzten Tage einen
0214Concertgeber, Herrn Jean Becker, von seinen Hörern ab-
0215sperren konnten, warum sollte nicht auch das Umgekehrte sich
0216ereignen? In der That hat die „Force majeure“ hoher
0217Schneebarricaden den freiwilligen wie den obligatorischen
0218Besuch eines Abendconcertes von Herrn J. H. Bonawitz 
0219in bedauerlicher Weise verringert. Aus schuldiger Rücksicht [3]
0220für den vielgereisten Concertgeber wendete ich mich um
0221Auskunft an einen Collegen, der nebst dem unerbittlichsten
0222Pflichtgefühl auch die stärksten Juchtenstiefel besitzt, und er-
0223fuhr glücklich, daß Herr Bonawitz als virtuoser Pianist und
0224gediegener Compositeur, ferner seine Frau als feingebildete
0225Sängerin lebhafte Anerkennung gefunden haben.


0226Am 8. d. M. gab die „Wiener Sing-Akademie
0227im kleinen Musikvereinssaale ihr erstes Concert. Herr Direc-
0228tor Weinwurm, dessen eifrige und erfolgreiche Bemühung
0229um diesen alljährlich sich erneuernden Chor wir wiederholt
0230hervorgehoben, hatte auch diesmal ein anziehendes Programm
0231zusammengestellt. Wir hörten zuerst einen aus fünf Sätzen
0232bestehenden Chor von Giovanni Clari (geboren 1669):
0233De profundis“, welcher sich aus dem conventionellen Kirchen-
0234styl des früheren achtzehnten Jahrhunderts einigemal zu indi-
0235viduellerem Ausdruck erhebt. Sodann ein wohlgesetztes „Salve
0236Regina“ von G. Nottebohm, dessen überaus einfache
0237Erfindung dem Auditorium wenig Eindruck, aber wahrschein-
0238lich auch dem Componisten keine Kopfschmerzen gemacht hat.
0239Auf einen unbedeutenden Vocalchor von Fr. Lachner 
0240(„Um Mitternacht“) folgten zwei schottische Volkslieder, von
0241Weinwurm für gemischten Chor gesetzt, deren zweites
0242Der Pfeifer von Dundee“, durch seine volksthümliche Frische
0243außerordentlich gefiel und zur Wiederholung verlangt wurde.
0244Zwei größere Chornummern: Händel’sO preist den
0245Herrn“ und F. Hiller’sO weint um sie“, bewährten
0246abermals ihren erprobten Effect. Zwischen diesen Gesang-
0247stücken producirte sich die Pianistin Fräulein Monica
0248Terminsky
(die Russinnen nehmen stark überhand),
0249die wol demnächst ihr eigenes Concert geben wird
0250und von der wir vorläufig blos melden wollen,
0251daß sie einen schönen, kräftigen Anschlag besitzt.
0252Beethoven’s Es-dur-Sonate (aus der Salieri gewidmeten
0253Trias op. 12), welche Fräulein Terminsky mit Herrn Hell-
0254mesberger
vortrug, ist heute keine passende Wahl mehr
0255für den Concertvortrag; sie gehört durch ihre Einfachheit
0256und Leichtigkeit längst der häuslichen Erbauung. Die be-
0257deutendste Novität, deren Bekanntschaft wir Herrn Wein
0258wurm verdanken, war die neue Folge der „Liebes-
0259lieder
“ für vier Solostimmen mit vierhändiger Clavier-
0260begleitung von Johannes Brahms (op. 65). Sie zählen
0261mit zu dem Schönsten, was wir von Brahms kennen. Welche
0262Fülle von wechselnden Stimmungen, Bildern, Scenen,
0263welche Mannichfaltigkeit musikalischen Ausdrucks hat er in diesen
0264engen Rahmen gebannt! Die Liebe kann nicht zarter singen,
0265als in dem Sopransolo „Rosen“, nicht ungestümer, als in
0266dem Quartett „Vom Gebirge“, nicht sinnlich verlangender,
0267als in dem Frauen-Duo „Flammenauge, dunkles Haar!“
0268Als Ganzes ist dieser Cyklus das würdigste Nach- und
0269Seitenstück zu Schumann’s in gleicher Form gefaßtem
0270Spanischen Liederspiel“. Jedes dieser kleinen, anscheinend so
0271leicht skizzirten Bildchen verräth den großen Meister.
0272Ihr feines Geäder durchschaut man freilich nicht auf
0273den ersten Blick, so genußreich dieser auch sei. Darum wäre
0274die Wiederholung der „Neuen Liebeslieder“ in einer nächsten
0275Production der Sing-Akademie sehr zu empfehlen; auch die
0276Ausführung würde dann noch besser gelingen. Sie entbehrte
0277diesmal des echt quartettmäßigen Charakters, so redliche Mühe
0278sich auch die Solosänger einzeln gaben. Es waren die Fräu-
0279lein Marie Leeder und Anna Riegel, die Herren
0280Deckner und Buchholz; die beiden jungen Damen
0281(Schülerinnen der Frau Marchesi) mußten ihr Duett
0282wiederholen. Von Brahms existirt eine Anzahl schöner
0283und dankbarer Chor-Compositionen früheren Datums, welche,
0284hier noch unaufgeführt, den Singvereinen auf das wärmste
0285zu empfehlen wären. Vor Allem „der dreiundzwanzigste Psalm“
0286mit Orchester (op. 27), ein „Ave Maria“ für Frauenstimmen
0287a capella (op. 12), Gesänge für Frauenchor mit Begleitung
0288von Harfe und Waldhorn (op. 17), Romanzen für Frauen-
0289chor mit Clavierbegleitung (op. 44). Wir hatten jüngst
0290Gelegenheit, uns von der Wirkung dieser Tondichtungen zu
0291überzeugen — freilich nicht im Concertsaal, aber in einer un-
0292vergleichlichen musikalischen Hausandacht, zu welcher die besten
0293Künstler und Kunstfreunde pilgern und die schon mit manchem
0294kleinen Wunder unserer officiellen Hierarchie zuvorge-
0295kommen ist.