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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4073. Wien, Dienstag, den 28. December 1875

[1]

Concerte.


0002Ed. H.
0003... zwar die Ritter /
0004Ehren wir in allen Fällen /
0005Doch auch Fräulein sind nicht bitter, /
0006Wenn sie sich dazwischen stellen! /


0007Kaum wären diese Goethe’schen Gelegenheitsverse uns
0008je wieder in Erinnerung gekommen, ohne die jüngste Auf-
0009führung von Mendelssohn’s Octett, zu welcher Hellmesber-
0010ger’s Quartettspieler und vier weißgekleidete junge Mädchen
0011sich vereinigten. Ein freundlicher Anblick und auch musikalisch
0012ein lebensvolles Zusammenwirken! Hellmesberger an
0013der Spitze seiner „Ritter“ hielt das Doppelfähnlein mit ge-
0014waltigem Bogenstrich zusammen; ihm gegenüber commandirte
0015das nicht bittere Fräulein Theresine Seydel das weibliche
0016Quartett, welches durch Fräulein Lechner und die beiden
0017Schwestern Epstein vervollständigt war. Bratsche und Cello
0018drohten mitunter in zarten Händen zu erlahmen, doch blieb
0019der Eindruck des Ganzen ungetrübt, und das geist- und
0020klangreiche Tonwerk flog siegreich zum Schlusse. Sein erstes
0021Thema würde hinreichen, dieses Octett zu den glücklichsten
0022Eingebungen Mendelssohn’s zu stempeln. Während der
0023Meister sonst gerne seine Themen in engem Umfang, diato-
0024nisch, bildet und hoch einsetzend sie rasch nach abwärts fallen
0025läßt, was ihnen einen Zug von Kleinlichkeit und Gedrückt-
0026heit gibt, greift das B-dur-Motiv des Octetts mächtig aus
0027und drängt in dreimaligem weiten Bogen kühn in die Höhe.
0028Mendelssohn’s Octett verleitete uns zu jenem wenig bekann-
0029ten Goethe’schen Citat; ein noch näherliegendes ist das
0030Stammbuchblatt, womit Goethe den ihm so schnell lieb-
0031gewordenen jungen Felix beglückte.


0032Es steht in derselben Sammlung meist unscheinbarer
0033und seltsamer Spätfrüchte, welche Goethe als Gelegenheits-
0034dichter zu Hunderten abschüttelte und deren Werth häufig
0035nur darin besteht, mit „Faust“ und „Tasso“ auf Einem 
0036Stamm gewachsen zu sein. Das Gedicht an Mendelssohn 
0037lautet:


0038Wenn das Talent verständig waltet, /
0039Wirksame Tugend nie veraltet. /
0040Wer Menschen gründlich konnt’ erfreuen, /
0041Der darf sich vor der Zeit nicht scheuen; /
0042Und möchtet ihr ihm Beifall geben, /
0043So gebt ihn uns, die wir ihn frisch beleben. /


0044Man braucht nicht Goethe zu sein, um dergleichen zu
0045können, weit eher, um es zu dürfen. Allein der herzliche Ver-
0046kehr des großen Alten mit dem Knaben Mendelssohn, auf
0047dem zeitlebens ein sonniger Abglanz von dem Glücke des
0048Olympiers haften blieb, gehört zu den schönsten intimen
0049Momenten der Kunstgeschichte. Und darum halten wir jedes
0050Denkmal desselben als solches werth. Schubert’s A-moll-
0051Quartett und das neue F-moll-Quintett von Brahms 
0052(dessen Clavierpart Herr Epstein aufs feinste ausführte)
0053hörten wir an demselben Abend. Vor mehreren Jahren hatte
0054Brahms diese Composition als „Sonate für zwei Claviere“
0055mit Tausig öffentlich vorgetragen, ohne damit durchzu-
0056dringen. In seiner gegenwärtigen Gestalt, als Clavierquintett,
0057gewinnt das Werk ungemein an Fülle, Reiz und Klarheit.
0058Durchaus von ernstem, starkem Pathos getragen, nimmt es
0059doch im Scherzo und Adagio Züge voll reizender Lieblichkeit
0060auf. Daß es manche harmonisch dichtverflochten, geheimniß-
0061tiefe Stelle birgt und sich nicht dem ersten Eindruck voll-
0062ständig erschließt, braucht von einer neuen größeren Compo-
0063sition dieses Meisters nicht erst gesagt zu werden.


0064Auch Jean Becker’s Florentiner Quartett erfreute
0065uns mit einem Stück von Brahms, dem von Hellmes-
0066berger hier eingeführten Streichquartett in A-moll (op. 51).
0067Es wurde technisch vollendet, in meisterhaftem Zusammen-
0068spiel und großer Klangschönheit vorgetragen. In diesem fein
0069ausgeglichenen Ensemble, an welchem den zwei Mittelstimmen
0070großes Verdienst zufällt, dann in dem, von jedem rasselnden,
0071schabenden Beiklang freien schönen Ton fanden wir auch dies-
0072mal wieder den wesentlichsten Reiz des „Florentiner Quar
0073tetts“ und seinen theilweisen Vorzug vor dem Hellmesberger’-
0074schen. Gleicherweise wiederholte sich uns aber auch der Ein-
0075druck, es sei Hellmesberger’s Individualität eine poetischer
0076angelegte, lebhafter und feiner vibrirende, als jene Jean
0077Becker’s; sie herrscht im Quartett über keinen so vollkomme-
0078nen Gesammt-Organismus, fällt aber durch ihr geistiges Ge-
0079wicht desto schwerer in die Wagschale. Ein zum erstenmal
0080hier aufgeführtes Streichquartett von Theodor Kirchner 
0081hat das Publicum kalt gelassen und die zahlreichen Verehrer
0082des feinsinnigen Clavier-Componisten ein wenig enttäuscht. Es
0083fehlt dem Talente Kirchner’s der lange Athem für eine
0084größere Form; so glücklich es im stimmungsvollen Verklingen
0085oder Abbrechen eines Gedankens ist, so schwach erweist es sich
0086im organischen Aufbauen ganzer Gedankenreihen. Trotz hüb-
0087scher Einzelheiten bleibt doch das Werk ohne innere Treib-
0088kraft und verfällt an mehr als Einer Stelle der Gewöhnlich-
0089keit gebildeter Routine. In Schumann’s Es-dur Quar-
0090tett spielte Herr Alfred Grünfeld die Clavierstimme mit
0091vollendet schönem Anschlag und virtuoser Sicherheit.


0092Die Officierstöchter in Hernals, so vielgenannt und
0093reichbedacht in diesen Tagen, ließen auch das Concertleben
0094nicht ohne Einwirkung. Ihnen zum Vortheil gab die seit
0095Jahren hier beliebte Clavier-Virtuosin Fräulein Gabriele
0096Joël ein gut besuchtes Concert. Die Perle desselben war
0097Frau Gräfin Wilhelmine Wickenburg-Almasy, die-
0098selbe schöne, geistvolle Dame, welche eine freigebig gelaunte
0099Natur zugleich mit poetischem und musikalischem Talent so
0100reich ausgestattet hat. Italienisches und Deutsches, Classisches
0101und Modernes, heiter und schmerzlich bewegte Lieder, trug
0102sie gleich schön und ausdrucksvoll vor. Sie sang wie eine
0103gut geschulte Sängerin, die zugleich echte Dichterin ist. Das
0104undefinirbare Aroma einer edlen Geistes- und Gemüths-
0105bildung drang wie feiner Blüthenduft durch diese Gesänge.
0106Wir erfreuten uns daran ohne Voreingenommenheit; wäre
0107die Sängerin als eine völlig Unbekannte aufgetreten,
0108sie hätte denselben stürmischen Beifall wenn nicht er[2]
0109halten, doch jedenfalls verdient. Noch einen an-
0110deren Sänger hatte der Wohlthätigkeitszweck aus dem
0111Salon vor die Oeffentlichkeit gelockt: den Reichsraths-Abge-
0112ordneten Dr. Wanka, dessen kräftige und geschmackvoll
0113verwendete Baritonstimme in mehreren Liedern einen Effect
0114erzielte, um alle Operndirectoren neidisch zu machen. Am
0115selben Tage, zur selben Stunde mit dem Joël’schen Concert
0116producirte sich in einem andern Saale die talentvolle junge
0117Violinspielerin Fräulein Bertha Haft. Da wir nicht
0118allgegenwärtig sind (man schreibt diese Eigenschaft nur dem
0119Doyen der Wiener Musik-Kritik, Grafen Laurencin, zu, aber
0120auch von ihm ist es nicht gewiß), so folgen wir einem ge-
0121wissenhaften Freunde, der uns den glänzenden Erfolg Fräu-
0122lein Haft’s und ihre großen Fortschritte seit dem Vorjahre
0123constatirt. Den lebhaftesten Beifall erntete sie mit Reber’s 
0124Berceuse“, einem zierlichen Sordinenstück, das wir von
0125Herrn Hellmesberger mit unvergleichlicher Eleganz
0126vortragen gehört. Zwei nur halböffentliche, aber erwähnens-
0127werthe Productionen der letzten Woche waren das erste
0128Concert des „Orchester-Vereins“ und die Beethoven-
0129Feier in Horak’s Musik-Institut. Im Orchester-Verein
0130hat den von Friedrich Heßler mehrere Jahre lang ehren-
0131voll geführten Tactirstab nunmehr Herr Robert Fuchs auf-
0132genommen, dessen erstes Dirigenten-Debüt vollkommen
0133glückte. Herr Ed. Horak vergißt niemals, am 17. De-
0134cember den Geburtstag Beethoven’s in seiner rühmlich be-
0135kannten Musikschule zu feiern. Nach einer einleitenden
0136Festrede von Dr. Th. Helm, welche lebhaft ansprach,
0137hörten wir die Waldstein-Sonate, das Es-dur-Trio, den
0138ersten Satz des Es-dur-Concertes und andere Beethoven’sche
0139Compositionen, in deren sicherem und verständnisvollem Vor-
0140trage sich Herrn Horak’s Schüler, darunter besonders die
0141Fräulein Lorinser und Sochor, auszeichneten.


0142Die vollendete Vortragskunst des Wiener Männer-
0143gesang-Vereins
hatte Sonntag gegen die Ungunst
0144eines wirkungslosen Programmes zu kämpfen. Der herrliche 
0145Gefangenen-Chor aus „Fidelio“ wirkt nur auf der Bühne
0146und bedarf ihrer. Esser’s bekannter Chor: „Mahomet’s
0147Gesang“, eine Arbeit voll Kunst und Sorgfalt, vermag sich
0148des gedankenreichen Goethe’schen Gedichtes nur von Seite
0149der Tonmalerei zu bemächtigen und läßt kalt trotz aller
0150darauf gehäuften Instrumentalreize. Fischer’sMeeres-
0151stille und glückliche Fahrt“ (mit sehr couragirten „Verbesse-
0152rungen“ des Goethe’schen Textes) webt in ordinären Lieder-
0153tafel-Effecten; Brambach führt in seinen zwei Chören:
0154Am Rhein“ (op. 23) zwar eine gewähltere Sprache, weiß
0155uns aber darin auch gar nichts Neues zu sagen. In dem
0156„Chor der vom Feste heimkehrenden jungen Capulets“ aus
0157Berlioz’Romeo“-Symphonie ist uns jederzeit die trüb-
0158selige Stimmung dieser jungen Nachtschwärmer aufgefallen;
0159gar so grämlich reflectirend pflegt man doch in Italien einen
0160„Götterball“ und eine „Himmelsnacht“ nicht zu preisen.
0161Allein nach dem darauffolgenden „Ständchen“ von A. E.
0162(nicht Heinrich) Marschner mochten wir Berlioz fast Ab-
0163bitte leisten. Solche leichensteinige Serenaden bringt nicht der
0164unglücklichste Liebhaber, kaum die Entreprise des pompes
0165funèbres. Was die Neugierde der Musikfreunde zumeist er-
0166regte, waren vier Nummern aus Franz Schubert’s unge-
0167druckter zweiactiger Oper: „Die beiden Freunde von Sala-
0168manca.“ Auf einem recht schauderhaften Libretto von Mayer-
0169hofer hatte der neunzehnjährige Schubert die ganze Partitur
0170in kürzester Zeit hingeworfen. (Das uns vorliegende Manuscript
0171von Schubert bezeichnet die Oper als „angefangen am 18. No-
0172vember, beendet am 31. December 1815“.) Die vier aufgeführten
0173Fragmente (eine Sopran-Arie, ein Liebesduett, ein Strophen-
0174lied der Guerillas und ein größeres Ensemble: „Weinlese“) sind
0175durchaus physiognomielose, matte, altmodische Musik, die gerade
0176nur die mittlere Höhe Gyrowetz-Weigl’scher Opern-Production
0177— an die „Schweizerfamilie“ nicht zu denken — erreicht. Schade
0178um das Aufgebot von Orchester, Männer- und Frauenchor nebst
0179Solosängern für diese flüchtige Jugendarbeit, welche der reife
0180Meister wahrscheinlich selbst der Oeffentlichkeit verweigert hätte.


0181Diese Schubert-Ausgrabungen um jeden Preis, wie sie
0182hier seit Jahren betrieben werden, vermehren weder seinen
0183Ruhm noch unsern Genuß. Sie haben vielleicht nur den
0184Einen unbeabsichtigten Nutzen, daß sie das immer wieder
0185nachgebetete Geschwätz widerlegen: die Opern-Directoren
0186brauchten in ihrer Novitäten-Noth nur frischweg aus dem
0187Nachlasse Schubert’s zu schöpfen. Abgesehen von dem lie-
0188benswürdigen Singspiel: „Der häusliche Krieg“, wird man
0189im Gegentheile gar nichts darin finden, was heute auf der
0190Bühne halbwegs lebensfähig wäre. Von allen Nummern des
0191Programms hat diesmal eine einzige eingeschlagen, ist eine
0192einzige zur Wiederholung begehrt worden: Engelsberg’s 
0193Heini von Steyer“, ein Chor von poetischem Gehalt und
0194reizender Melodie, charakteristisch durchwebt von einem
0195Violinsolo, das Hellmesberger allerliebst vortrug.
0196Nachdem unmittelbar zuvor das angebliche „Ständchen“ von
0197A. E. Marschner im eigenen Grabe bestattet worden war,
0198fühlte man sich in „Heini von Steyer“ wieder zu frischem
0199Leben auferstanden. Sämmtliche Chöre waren von den Her-
0200ren Weinwurm und Kremser vorzüglich einstudirt
0201und dirigirt; in den Schubert’schen Opernfragmenten machte
0202sich die prächtige Sopranstimme von Frau Kauser-Gerster 
0203und der gediegene Vortrag der Herren Maaß, Ruff,
0204Gaßner und Deckner vortheilhaft bemerkbar.


0205Das Hofoperntheater brachte in der Christwoche bei sehr
0206besuchtem Hause Byron’sManfred“ mit der Schu-
0207mann
’schen Musik und das Requiem von Verdi. Die
0208Einführung und treffliche Darstellung des „Manfred“ im
0209Hofoperntheater ist ein bleibendes Verdienst Herbeck’s.
0210Das bei aller Fremdart und Seltsamkeit doch tief ergreifende
0211Drama verfehlte auch diesmal nicht seine Wirkung, obgleich
0212die Aufführung in manchen Einzelheiten von ihrer früheren
0213Höhe herabgestiegen war. Den Manfred spielte Herr Emerich
0214Robert, dessen Name gewiß manchen Zuschauer und noch
0215mehr Zuschauerinnen ins Theater gelockt hat. Herr Robert 
0216erfreut sich bekanntlich großer Beliebtheit als Liebhaber und [3]
0217Heldenspieler; das verrieth nur zu sehr auch sein Manfred.
0218Die glänzenden Mittel des Darstellers traten stark in den
0219Vordergrund: melodisch tönte jede Phrase aus, plastisch schön
0220rundete sich jede Stellung. Nur die innere Ueberzeugung
0221schien diesem Manfred zu fehlen, und darum wirkte er auch
0222nicht überzeugend. Bei aller äußeren Anerkennung, welche
0223Herrn Robert wurde, stand doch alsbald das Urtheil fest,
0224daß er den Manfred Lewinsky’s nicht entfernt erreiche.
0225Wenn Byron und Schumann den „Manfred“ mit ihrem
0226Herzblut geschrieben haben, so kann man ähnlich von
0227Lewinsky sagen, daß er ihn mit seinem Herzblut spielte.
0228Jedes Wort quoll ihm aus tiefstem Gemüthe, einfach, wahr,
0229natürlich, mit prahlloser und darum unwiderstehlicher Be-
0230redsamkeit. Herr Robert wollte in bester Absicht noch mehr
0231thun, that zu viel und erreichte wenig. Bekanntlich wirken
0232im „Manfred“ alle Kräfte des Hofoperntheaters mit; wir
0233müßten den langen Theaterzettel abschreiben, um Jedem ge-
0234recht zu werden. So sei nur erwähnt, daß im gesprochenen
0235Dialog, dieser Klippe für alle Opernsänger, Frau Dillner 
0236(als Alpensee eine prachtvolle Erscheinung) und Frau Ehnn 
0237das Beste leisteten; unter den Herren die Sänger Beck,
0238Mayerhofer und Lay. Herr Capellmeister Gericke 
0239dirigirte das Orchester.


0240Für das letzte Philharmonische Concert 
0241haben wir die lobendste Anerkennung bezüglich der Auffüh-
0242rung, bei triftigen Bedenken gegen das Programm. Es be-
0243stand aus Beethoven’s Ouvertüre Op. 124, einem Violoncell-
0244Concert von J. Raff und der vollständigen „Harold“-
0245Symphonie von Berlioz. Beethoven’s Ouvertüre zur
0246Eröffnung des Josephstädter Theaters gerieth, wie fast alle
0247seine Gelegenheits-Compositionen, zu groß für die Gelegen-
0248heit und doch unter dem Einfluß derselben weniger groß und
0249frei, als der ungelegentliche Beethoven. Auf diesen Einen
0250Beethoven-Satz kamen im Philharmonischen Concert drei
0251Sätze Raff und vier Sätze Berlioz. Das ist entschieden
0252zu viel, insbesondere wenn man außer diesen Namen auch
0253die Qualität der gewählten Stücke in Betracht zieht. Raff, 
0254den ehemals enragirten Zukunftsmusiker, finden wir erstaun-
0255lich zahm geworden. Sein Violoncell-Concert, ein reines
0256Virtuosenstück, ist so wenig symphonisch gedacht, daß das
0257Orchester nirgends selbstständig hervortritt, sondern nur den
0258unterthänigen Begleiter des Virtuosen abgibt. Nachdem der
0259erste Satz nichts als fortwährende Seiltänzerei des Solisten
0260enthält, nur nothdürftig vom Orchester accompagnirt, so er-
0261scheint die „Cadenz“ darin als barer Ueberfluß. Das Andante,
0262ein romanzenartiger Sechsachtel-Tact, läßt sich nicht übel an,
0263geräth aber bald in die langweiligste Ausführlichkeit. Der dritte
0264von den (in einander übergehenden) Sätzen beginnt mit einem
0265Thema von trivialer Lustigkeit, ist aber trotzdem ein gar trau-
0266riges, gedankenarmes Stück. Um in einer langen Composition
0267nichts als die schweißtriefende Bravour eines Virtuosen zu
0268bewundern, gehen wir nicht ins Philharmonische Concert.
0269Herr Grützmacher bewährte seinen großen Ruf als Cel-
0270list vollkommen und entwickelte in dem Raff’schen Concert 
0271den schönsten Ton und die erstaunlichste Bravour. Die Kühle
0272seines Vortrages ihm vorzuwerfen, fällt uns nicht ein — wer
0273will den Frost warm vortragen? Die „Harold“-Symphonie 
0274haben wir wiederholt unter Herbeck und Dessoff und erst im
0275vorigen Winter unter Brahms gehört; sie jetzt wieder zu
0276bringen, war vom Ueberfluß. Sollte Berlioz (der erst im
0277dritten Philharmonie-Concert durch „Benvenuto Cellini“
0278vertreten gewesen) durchaus wieder im vierten erscheinen, so
0279war die lange nicht gehörte und weit wirkungsvollere „Sin-
0280fonie fantastique“ vorzuziehen. Unsere Meinung, daß aus
0281der „Harold“-Symphonie nur der Pilgermarsch einen gesun-
0282den musikalischen Kern und ein Anrecht auf häufigere Wieder-
0283holung habe, blieb auch nach der jüngsten vortrefflichen Auf-
0284führung unerschüttert. Die übrigen drei Sätze gehören zu dem
0285Ungesundesten, Raffinirtesten und musikalisch Dürftigsten,
0286was unter der schützenden Flagge eines berühmten Namens
0287je in die Welt verschifft wurde. Wir haben uns jüngst die
0288Freiheit genommen, Herrn Capellmeister Hanns Richter 
0289vor ähnlichen Programmbildungen zu warnen; wir wieder-
0290holen heute unsere freundschaftliche Mahnung.