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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4079. Wien, Dienstag, den 4. Januar 1876

[1]

Hofoperntheater.

(Frau Dustmann’s Abschied.)


0003Ed. H. Man kennt die schöne Antwort jenes arabischen
0004Weisen, der, nach der Unsterblichkeit der Seele befragt, er-
0005widerte: „Der Mensch lebt fort in seinen Kindern, in seinen
0006Schriften und in seinen guten Werken.“ Zu den letzteren
0007zähle der Künstler getrost seine guten Rollen. Er lebt in
0008ihnen fort, noch lange, nachdem sie Andere spielen. Die Nach-
0009wirkung großer dramatischer Leistungen schlägt man gemeinig-
0010lich viel zu gering an und stützt sich dabei auf Schiller’s
0011todmüde citirtes Wort. Die Nachwelt wirft dem Mimen
0012keine Kränze, aber sie flicht sie ihm in der Erinnerung
0013lange und reichlich. Die edlen Eindrücke, die wir, in der
0014Jugend zumal, vom Theater empfangen, gehören zu den aller-
0015stärksten; sie sind unsterblich in jedem künstlerisch gearteten
0016Gemüth. Und an jenem unauslöschlichen Eindrucke der Bühnen-
0017dichtungen selbst haftet festverbunden das Bild der großen
0018Darsteller. Ja in gewissem Sinne regt sich diese lang nach-
0019wirkende persönliche Pietät für unsere Künstler noch inniger,
0020als für die Autoren selbst. Nachschwelgend in der Erinnerung
0021an unser erstes Erleben des „Freischütz“, „Hanns Heiling“, der
0022Jessonda“, denken wir weniger an die Persönlichkeit der Com-
0023ponisten, die uns ja meist im Leben fremd geblieben, als
0024an die geliebten Sänger, die uns jene Opern in lebendiger
0025Schönheit verwirklicht haben. Die Werke selbst überleben den
0026Meister, den Sänger, den Hörer; aber im Laufe der Zeit
0027löst sich allmälig das Bild des Autors von seinen Schöpfun-
0028gen los, das Bild des Sängers, der Sängerin bleibt damit
0029in unserer Seele als etwas Individuelles, uns persönlich
0030Theures verknüpft. Seit zwölf Jahren ruht Ander in
0031kühler Erde, aber in jeder seiner Rollen sehen wir ihn heute
0032noch leben und hören die Zuschauer rechts und links flüstern:
0033„Wie hat Ander das gesungen!“ Ja nicht einmal dieses
0034thatsächlichen Zusammenhanges bedarf die überlebende Ver-
0035ehrung für einen Künstler — auch in den „Meistersingern“,
0036in „Romeo und Julie“ vernehmen wir unzähligemal den
0037halbunterdrückten Ausruf: „Wie hätte Ander das gesungen!“


0038Und diese Unsterblichkeit verbleibt auch der Künstlerin,
0039welche soeben freiwillig sich von unserer Opernbühne verab-
0040schiedet hat: Louise Dustmann. Von den Hunderttausen-
0041den, die ihr im Verlaufe der letzten 25 Jahre gelauscht
0042haben, wird Keiner sie vergessen, und wenn die jugendlich-
0043sten ihrer Zuhörer einst als Greise den „Don Juan“,
0044Fidelio“, „Die Hugenotten“ hören, so werden sie sich noch
0045sagen: Wie herrlich war die Dustmann in diesen Rollen!
0046Die Theater-Eindrücke der Jugend sind etwas Ideales, wie
0047diese selbst, und werden im Alter idealisirt, wie diese selbst.
0048Meine Erinnerung an Louise Dustmann reicht bis in den
0049Winter 48 auf 49 zurück. Da begann sie als Fräulein
0050Meyer mit kleinen Partien in der von Stöger und Albert
0051Lortzing geleiteten Josephstädter Oper. Ein schönes junges
0052Mädchen mit angenehmer, noch ungeschulter Stimme —
0053das ist Alles, was damals von ihr zu sagen war und gün-
0054stigenfalls auch gesagt wurde. Sieben Jahre später kam diese
0055„Anfängerin“ als Gast (von Prag) an’s Wiener Hofopern-
0056theater, eine fertige Künstlerin. Mit der souveränen Sicher-
0057heit des Gelingens, welche die Dreieinigkeit von Schönheit,
0058Stimme und heiligem Geist verleiht, trat sie im Juli 1855 als
0059Valentine auf und nahm das Publicum für immer gefangen.
0060Sie hat im Verlaufe der folgenden zehn Jahre große Fort-
0061schritte gemacht — ihre spätere Darstellung der Armida und
0062Klytämnestra wäre ihr damals noch unerreichbar gewesen —
0063aber die Signatur ihres ganzen künstlerischen Wesens stand
0064bereits fest ausgeprägt vor uns. Sie offenbarte sich sofort
0065als echte Künstlernatur, sodann als eminent deutsche Sän-
0066gerin. Ersteres bezeugte das begeisterte, vollständige Aufgehen
0067der Dustmann in jeder Rolle. Mit der ganzen Hingebung
0068eines schaffensfreudigen Enthusiasmus stürzte sie sich, gleich-
0069sam mit ausgebreiteten Armen, auf den darzustellenden
0070Charakter; sie war Donna Anna, war Fidelio auch in
0071den unscheinbarsten Scenen stummen Spieles; über der
0072Situation sich selbst und das Publicum total vergessend. In
0073dieser echten, hochfliegenden Begeisterung, mit der sie Alles
0074spielte, und das Beste am besten, that es ihr Niemand gleich.
0075Wo sie sich übernahm, dachte sie nicht entfernt an ein „Cou-
0076lissenreißen“, im Gegentheil nur sie selbst ward gerissen von
0077der Uebermacht der eigenen Empfindung. Niemals haben
0078wir die geringste Koketterie, niemals das kleinste Vordrängen 
0079der eigenen Person oder Kunstfertigkeit an ihr bemerkt. In
0080einem noch ungedruckten Tagebuche von Grillparzer las
0081ich einmal folgenden Ausspruch über den Sänger Pöck;
0082„Es gibt edle Naturen in der Kunstwelt, wie in der sitt-
0083lichen; man kann sie durch Bemühung theilweise überbieten,
0084im Ganzen aber nie erreichen.“ Dieses herrliche Wort Grill-
0085parzer’s wende ich getrost auf Louise Dustmann.


0086In ihren Neigungen, ihrem Wollen und Können war
0087die Dustmann ausgeprägt deutsche Sängerin. Für die
0088italienische Oper hegte sie so wenig Sympathie, wie für die
0089französische Spieloper. Consequent sträubte sie sich gegen jede
0090Rolle von Verdi, weil er ihren Geschmack beleidigte; erst in
0091letzter Zeit hat sie ausnahmsweise die Amalia im „Masken-
0092ball“, eine noblere und dramatisch bedeutsame Partie, über-
0093nommen. Außerdem erinnern wir uns von italienischen Rollen
0094nur der Norma. Wie der deutsche Gesang überhaupt die
0095virtuose Schulung der Stimme vernachlässigt, so war auch
0096die Dustmann nach dieser Richtung nicht hervorragend. Aber
0097die Thatsache allein, daß sie die Norma singen konnte 
0098und wiederholt mit großem Erfolg sang, hebt sie hoch über
0099die Mehrzahl der heutigen „dramatischen Sängerinnen“,
0100welche, nur in Richard Wagner nistend, vor jedem Lauf,
0101vor jedem Triller zittern müssen. Frau Dustmann hat mit
0102rühmenswerthem Fleiß sich auch im Coloratur-Gesang unab-
0103lässig vervollkommt und darin mit Hilfe ihres später so
0104kunstreich ausgebildeten Mezza-voce respectable Erfolge er-
0105zielt. In dramatischer Hinsicht war ihre Norma so großartig
0106angelegt, so hinreißend ausgeführt, daß wir davon uns un-
0107vergleichlich mehr gerührt und ergriffen fühlten, als von
0108mancher berühmten Gesangsvirtuosin, die auch als Norma 
0109nur ein Concert im Costüm singt. Lieblings- und Meisterfach
0110der Dustmann blieb jederzeit die deutsche Musik, insbeson-
0111dere die romantische von Weber, Marschner und
0112Spohr. Damit fiel ihre eigenste Empfindungsweise zusam-
0113men; ein Ueberquellen der Empfindung, ein süßes, ahnungs-
0114volles Dämmern und Sinnen, eine durchaus romantisch an-
0115gewehte, aber stets gemüthvoll durchwärmte Phantasie war
0116bestimmend für ihren Gesang, wie für die Tondichtungen
0117jener Meister. Jessonda, Agathe, Rezia, Euryanthe, Rebekka 
0118(„Templer und Jüdin“) und Anna („Hanns Heiling“) ge-
0119hörten zu den edelsten, innigsten Gestalten der Dustmann. [2]
0120In den Jahren 58 und 59 kamen „Lohengrin“ und „Tann-
0121häuser“ auf die Bühne des Hofoperntheaters. Mit ihrer Elsa,
0122Elisabeth und der bald nachfolgenden Senta hat die Dust-
0123mann Wagner’s Erfolge in Wien mächtig gefördert und ihre
0124eigenen auf den Culminationspunkt gehoben. Ihre letzte neue
0125Rolle gehörte gleichfalls der romantischen Schule: es war
0126die Genovefa von Robert Schumann. Die classischen
0127Gestalten der Iphigenia, Klytämnestra, Armida, Donna Anna 
0128und Leonore („Fidelio“) reihten sich jenen würdig an, ja sie
0129bezeichneten gegen den Ausgang ihrer Künstlerlaufbahn die
0130Höhe des gewaltigen dramatischen Talents der Dustmann.
0131In dem Maße, als die letzten Jahre die Kraft und den
0132Schmelz dieser schönen Stimme fühlbarer antasteten,
0133schien sich die darstellende Kunst der Sängerin noch zu stei-
0134gern. Die gewaltsame physische Anstrengung, gesteigert durch
0135eine immer zunehmende nervöse Unruhe, war in den späteren
0136Leistungen der Dustmann allerdings nicht mehr zu übersehen,
0137aber in zahlreichen Einzelmomenten siegten die Gluth und
0138Genialität der dramatischen Darstellung noch vollständig über
0139die widerspenstig gewordenen Mittel. Noch in ihrem letzten
0140Auftreten als Donna Anna (am 25. December) sang sie
0141das Recitativ an der Leiche des Gouverneurs und die Er-
0142zählung von dem nächtlichen Ueberfall mit so erschütternder
0143Wahrheit und Leidenschaft, daß wir vergebens nachsinnen
0144würden, wer es ihr heute darin etwa zuvorthue? In solchem
0145Lobe ihres Spiels, und wahrlich zum Lobe desselben, muß
0146ausdrücklich betont werden, daß darin nichts Reflectirtes,
0147Ausgeklügeltes lag, sondern jeder einzelne Zug spontan
0148aus der genialen Anschauung des Ganzen hervorquoll.
0149Louise Dustmann kannte nicht den unkünstlerischen Ehrgeiz,
0150um jeden Preis neu, geistreich und anders als Andere zu
0151spielen; niemals wollte sie gescheiter sein, als ihre Rolle.
0152Sie stand, bei aller Accentuirung des Dramatischen, doch
0153noch auf der richtigen Mitte zwischen Zuviel- und Zuwenig-
0154spielen. Ehemals genügte ein Opernsänger mit den allge-
0155meinen Gesten eines Ballet-Tänzers; jetzt verlangt man von
0156ihm fast die mimische Durchbildung und die psychologische
0157Detailmalerei des Schauspielers. Diese Richtung des dra-
0158matischen Gesanges geht Hand in Hand mit einer analogen
0159Wendung in der Composition. Eine Opernmusik galt vor-
0160mals für hinreichend „dramatisch“, wenn sie im Allgemeinen 
0161den Charakter der Scenen und Personen traf und in Einzel-
0162heiten ihn nicht gerade Lügen strafte. Heutzutage begünstigt
0163man die genaue Charakteristik, die mikroskopische Deutlichkeit
0164der Tonschilderung so sehr, daß die Forderungen schöner
0165Musik und schönen Gesanges darüber fast verschwinden. In
0166beiden Punkten sollten wir, ohne die Dürftigkeit früherer
0167Anschauungen zurückzuwünschen, doch wieder nach dem richti-
0168gen Gleichgewichte, diesem Lebensprincip der Oper, zurück-
0169streben. Frau Dustmann war frei von dieser modernsten
0170Ueberwucherung mit dramatischen „Nüancen“, aber im besten
0171Sinne productiv in der Reproduction. Hätten große Ton-
0172dichter Rollen für sie geschrieben, sie würde ohne Zweifel
0173einen so bedeutenden Einfluß darauf gewonnen haben, wie
0174mancher geistvolle Sänger auf einzelne Partien von Rossini,
0175Halévy und Meyerbeer. Zur Begründung dieser Ansicht ein
0176Beispiel. In der Oper „Judith“ von Mosenthal und Dopp-
0177ler übernahm Frau Dustmann nach mehreren Vorstellungen
0178die Titelrolle aus den Händen einer andern Darstellerin.
0179Nach Vorschrift des Dichters war Judith, nachdem sie in
0180das Schlafgemach des Holofernes geeilt, um ihn zu tödten,
0181nicht wieder herausgekommen; die Scene verwandelte sich in
0182eine freie Gegend, wo Judith im Triumph einzieht. So
0183sahen wir die Oper in den ersten Aufführungen. Frau Dust-
0184mann gewahrte hier eine Lücke oder doch das Uebersehen eines
0185naheliegenden, fast selbstverständlichen Effects. Sie stürzt nach
0186kurzem Verweilen aus Holofernes’ Gemach, mit dem blutigen
0187Schwert in der Hand, heraus und eilt aus dem Zelte ins Lager.
0188Jetzt erst wurde die Scene deutlich, vollständig und effectvoll.


0189Eine gefeierte Specialität in allen heroischen und tragi-
0190schen Rollen, blieb doch Frau Dustmann keineswegs darauf
0191beschränkt, sondern beherrschte im Gegentheil ein ungewöhn-
0192lich großes Repertoire. Sie gab mit schönstem Erfolg auch
0193Partien di mezzo carattere, wie Gabriele im „Nachtlager“,
0194ja Lustspielrollen, wie Susanne in „Figaro’s Hochzeit“, Frau
0195Fluth in den „Lustigen Weibern“. Nicht aus eitlen Usurpa-
0196tions-Gelüsten, sondern im künstlerischen Interesse für das
0197Institut und dessen classisches Repertoire sang sie zeitweilig
0198auch vorwiegende Bravourpartien, wie die Königin der Nacht,
0199Constanze in der „Entführung“ und andere. Als unermüd-
0200lich fleißiges, pünktliches und bereitwilliges Mitglied konnte
0201die Dustmann Allen zum Muster dienen. Sie spielte heute 
0202in der „Zauberflöte“ die Pamina, morgen die Königin der
0203Nacht; im „Tannhäuser“ einmal die Elisabeth, das andere-
0204mal die Venus — und wohlgemerkt, aus rein künstlerischem
0205Pflichteifer; denn die heutige unsaubere Praxis des Mäkelns
0206und Feilschens um ein Extra-Honorar für jede nicht streng
0207contractliche Leistung war ihr fremd. Auch das wunderbare
0208Naturspiel, Mittags stockheiser zu sein, aber für einige hun-
0209dert Gulden Abends dennoch mit voller Stimme singen zu
0210können, kam hier erst durch andere Primadonnen in Schwang,
0211welche eines Tages auch gewiß reicher an Geld die Bühne
0212verlassen werden.


0213Die Verehrung für eine Künstlerin wie Louise Dust-
0214mann
mußte ebenso groß und allgemein, wie die Betrübniß
0215ob ihres Verlustes sein. Die ganz außerordentlichen Ova-
0216tionen, welche ihr bei ihrem letzten Auftreten in „Lohengrin“
0217zu Theil wurden, haben das vollauf bewiesen. Sollten wir
0218nach alledem nicht mit der Aufforderung schließen, die ge-
0219feierte Künstlerin möge ihren Entschluß zurücknehmen und
0220ihre Theaterwirksamkeit noch eine zeitlang fortsetzen? Nein.
0221Wir möchten die Erinnerung an Louise Dustmann uns lieber
0222ungetrübt und unverfälscht erhalten. Jedwedes Ding hat
0223seine Zeit, und die einer Silberstimme ist leider kurz be-
0224messen. Den Sängern ist es nicht beschieden, wie manchem
0225Altmeister im Schauspiel, noch hoch bei Jahren das Publi-
0226cum wahrhaft zu erfreuen. Es gibt keinen singenden La
0227Roche, keine singende Haizinger. Die Oper bedarf der schö-
0228nen Sinnlichkeit, der jugendkräftigen Mittel. Sie bietet keinen
0229Uebergang in ein älteres Rollenfach, sie kennt nicht alte Par-
0230tien, sondern höchstens Altpartien, und auch diese nur mit
0231junger Stimme. Eine Sängerin, die über ein Vierteljahr-
0232hundert ruhmvoll gewirkt, darf getrost auf ihren Lorbeern
0233ausruhen. Frau Dustmann ist gewiß zu einsichtsvoll, um,
0234überredet von falschen Freunden und beirrt von den jüngsten
0235Huldigungen, den glänzendsten Abschiedstriumph durch ein
0236zweifelhaftes Nachspiel abzuschwächen. Sie wird nicht wollen,
0237daß man 1876 zu den Sängerinnen, welche die unvergeßliche
0238Dustmann nicht entfernt erreichen — Frau Dustmann selber
0239zähle. Fügen wir uns darum in das Unabwendbare und
0240danken dem Geschick, das uns so lange und ungetrübt den
0241wertvollsten theatralischen Besitz vergönnt hat; den Besitz
0242einer Louise Dustmann.