Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4119. Wien, Sonntag, den 13. Februar 1876

[1]

Concerte.

(Der kleine Busoni. Fräulein Baumeyer. Frau Gomperz-Bettelheim. Herr A. Door.)


0004Ed. H. „Wüchsen die Kinder in der Art fort, wie sie
0005sich andeuten, so hätten wir lauter Genies.“ Mit diesem
0006Satz aus Goethe’s „Wahrheit und Dichtung“ ist das Trü-
0007gerische in der so vielverheißend raschen Entwicklung der Kin-
0008der schlagend bezeichnet. Und nicht blos bei Normalmenschen,
0009auch bei Wunderkindern trügt der Schluß auf eine unaus-
0010bleibliche Weiterentwicklung in gleicher Progression — Sechse
0011treffen, Sieben äffen! Unter den Wunderkindern sind wieder
0012die musikalischen besonders unzuverlässig. Frühgenies, die auch
0013später noch Genies bleiben und große Meister werden, wie
0014Mozart und Mendelssohn, ragen als Seltenheiten empor
0015aus der Schaar von Wunderkindern, bei denen das Wunder
0016aufhört mit der Kindheit. Man braucht nur in den Wiener
0017Concert-Programmen von 1830 bis 1850 zu blättern —
0018welche Menge von kleinen Tonmirakeln beiderlei Geschlechts,
0019welche, anscheinend zur Meisterschaft prädestinirt, sich trotzdem
0020ruhmlos in der Alltäglichkeit verliefen. Es wird wol selten
0021ein aufgeweckter kleiner Junge ins Conservatorium gethan,
0022von dem nicht seine Eltern glauben, vielleicht mit einigem
0023Grunde glauben, er sei ein künftiger Paganini. Ein Glück,
0024daß die Meisten sich darin täuschen; denn wenn all diese Ab-
0025sichten und Hoffnungen erfüllt würden, hätten wir lauter
0026Paganinis und kein Orchester mehr. Immerhin bleibt früh
0027entwickelte technische Fertigkeit auf einem Instrument noch
0028weit verläßlicher, als vorzeitiges Aufdämmern schöpferischen
0029Talents. Kleine Compositionsversuche, auffallend, ja erstaun-
0030lich in zartem Alter, führen häufig nicht weiter, als zu
0031großen Compositionsversuchen; das niedliche leuchtende Wun-
0032der wird allmälig zum dunklen Ehrenmann, das Bild von
0033Raupe und Schmetterling kehrt sich um.


0034Solche Erfahrungen warnen uns, zu prophezeien, es
0035müsse aus dem neunjährigen Busoni, der kürzlich hier mit 
0036glänzendem Erfolg concertirt hat, ein großer Tonkünstler
0037werden. Aber ungewöhnliche Anlagen darf man ihm getrost
0038zugestehen, die herzlichsten Wünsche und Hoffnungen ihm für
0039seine Laufbahn mitgeben. Seit langer Zeit hat kein Wunder-
0040kind uns so sympathisch angesprochen, wie der kleine Feruccio
0041Busoni. Gerade weil er so wenig vom Wunderkind an sich
0042hat, hingegen viel vom guten Musiker. Sowol als Pianist,
0043wie als angehender Compositeur. Am Clavier verräth der
0044Kleine sofort eine entschieden musikalische Natur; er spielt
0045frisch, natürlich, mit jenem nicht leicht definirbaren, aber
0046unmittelbar einleuchtenden Tonsinn, welcher unbeirrt von
0047subjectiven Gefühls-Prätensionen überall das rechte Tempo,
0048die rechten Accente trifft, den Geist des Rhythmus erfaßt, die
0049Stimmen in polyphonem Satz klar auseinanderhält, kurz
0050durchwegs musikalisch empfindet und gestaltet. Mit vollkom-
0051mener Sicherheit spielt er Alles auswendig, selbst mehrsätzige,
0052begleitete Stücke, wie das Haydn’sche Trio. Die Haltung des
0053Körpers und der Hände ist ruhig, leicht und frei, der An-
0054schlag singend, wenngleich noch von geringer Kraft, die
0055Technik correct. Dabei hat das Alles nichts Marionetten-
0056haftes, ängstlich Eingelerntes, im Gegentheil, es ist dem
0057Jungen ein vergnügliches Spiel, bei dem er oft statt auf
0058die Tasten unbefangen ins Publicum schaut. Offenbar besitzt
0059der kleine Feruccio in seinem Vater, dem Clarinett-Virtuosen
0060Busoni, einen tüchtigen, vernünftigen Lehrer. Dieser hält
0061ihm weislich die Plage der Bravourstücke fern und das süße
0062Gift der Romantiker. Ein so junges Blümchen gedeiht nicht
0063in dem dämmernden Zwielicht eines Chopin, Henselt, Schu-
0064mann, sondern nur in dem hellen Tage Haydn’s, Mozart’s, Hum-
0065mel’s. Als Componist trat der kleine Busoni mit sechs kurzen
0066Clavierstücken auf. Sie offenbaren denselben gesunden Musik-
0067sinn, der uns in seinem Spiel erfreute; keine frühreife Sen-
0068timentalität oder gesuchte Bizarrerie, sondern naive Freude
0069am Tonspiel, an lebensvoller Figuration und kleinen combi-
0070natorischen Künsten. Nichts Opernhaftes oder Tanzmäßiges,
0071vielmehr ein merkwürdig ernster, männlicher Sinn, welcher
0072auf liebevolles Studium Bach’s hinweist. Die Stücke sind
0073sämmtlich kurz, wie es einem noch halbflüggen Talent an
0074steht, kurz und gut, und auch wieder nicht so gut, daß man
0075die Hilfe eines Meisters argwöhnen müßte. Die Echtheit
0076seiner Composition steht mir außer Zweifel, da ich dem
0077Knaben am Clavier mehrere Motive aufgab, die er sofort
0078in freier Phantasie in derselben ernsthaften Weise, meist
0079imitatorisch und contrapunktirend, durchführte. So hat denn
0080der herzige, lebhafte Junge unser Publicum im Flug gewon-
0081nen und einen erfolgreichen ersten Schritt in die Oeffentlich-
0082keit gethan. Für sein eigenes Bestes wünschen wir nur, daß
0083er dieser Oeffentlichkeit so bald als möglich wieder entrückt
0084werde. An ermunternder Anerkennung hat er vorläufig genug
0085eingeerntet, um muthig an die Arbeit zu gehen, an ruhige,
0086gesammelte Arbeit für mehrere Jahre. Zu den Gefahren
0087einer glänzenden Frühreife gehört in erster Linie die Gewöh-
0088nung an leicht errungenen, schmeichelnden Applaus.


0089In Busoni’s Concert besorgten Fräulein Lüdecke und
0090Frau Kauser-Gerster die Gesangsnummern. Erstere
0091verdankte auch diesmal ihrer leichtflüssigen Coloratur und
0092ihrem schönen langen Triller den gespendeten Beifall. Die
0093Stimme ist aber derzeit noch zu spitz, in mittlerer und tiefer
0094Lage zu tonlos, um mit einer Verdi’schen Arie Effect zu
0095machen. Die erste Arie der „Traviata“ verlangt unbedingt
0096Kraft und Frische des Organs, packende Sinnlichkeit des
0097Vortrages. Im Gegensatze zu Fräulein Lüdecke wird ihre
0098Collegin Frau Kauser immer mit Vortheil solche Gesangs-
0099stücke wählen, in welchen die sinnliche Klangschönheit ent-
0100scheidend ist. Welch’ süße, reine, kraftvolle Stimme! Eine
0101Stimme allerdings, in welcher, wie in manchem schönen
0102Menschenbilde, das üppige Fleisch den geistigen Ausdruck
0103überwuchert; eine Stimme, die gleichsam immer in voller
0104Mittagssonne strahlt und dem sanften, dunklen Abendroth
0105der Empfindung sich nicht willig darbietet. In der ersten
0106Arie aus Verdi’s „Forza del destino“, in Meyerbeer’s
0107theatralisch kokettem „Mailied“ und dergleichen lauschten wir
0108Frau Kauser mit ungetrübtem Genuß. Hingegen fehlte ihrem
0109Vortrage Schumann’scher und Brahms’scher Lieder (in
0110Door’s Concert) der poetische Hauch, die Vergeistigung.
0111Ihre Stimme, die etwas von der instrumentalen Schönheit [2]
0112der Clarinette hat, läßt die feineren Vibrationen der Empfin-
0113dung und des Gedankens nicht leicht an die Oberfläche des
0114Wortes treten. Zu diesem Charakter ihres Organs scheint
0115auch das gelassene Temperament der Sängerin zu stimmen.
0116Frau Kauser fand reichlichen Beifall und wird wol auf der
0117Bühne eine noch glänzendere Rolle spielen, als im Con-
0118certsaale.


0119Das Concert, welches die k. k. Kammersängerin Frau
0120Gomperz-Bettelheim zum Vortheile der Taubstum-
0121men veranstaltete, wurde bereits in einer Notiz gewürdigt.
0122Vollständigkeitshalber wiederholen wir gerne, daß die ver-
0123ehrte Künstlerin noch weit mehr zum Vortheile der Hörenden
0124gesungen und mit den verschiedenartigsten Gesangsstücken, am
0125meisten mit den „Beiden Grenadieren“ von Schumann,
0126Furore gemacht hat. Sie darf sich noch heute getrost sagen,
0127daß keine ihrer Nachfolgerinnen im Hofoperntheater uns den
0128Verlust von Caroline Bettelheim vergessen gemacht hat. —
0129Eine junge Pianistin aus Epstein’s bewährter Schule,
0130Fräulein Anna Baumeyer, gab ein eigenes Concert im
0131Musikvereinssaale. In Bach’s A-dur-Sonate, die sie mit
0132Hellmesberger spielte, konnte die Concertgeberin sich
0133wenig hervorthun; das reizlose, namentlich in den ersten
0134Sätzen steife, schnörkelhafte Stück paßt mehr in das Studir-
0135zimmer, als in den Concertsaal. Desto größer wuchs die
0136Aufgabe in Schumann’sPhantasie“, Op. 17, einer der
0137eigenartigsten, tiefsinnigsten, dabei technisch schwierigsten Com-
0138positionen, welche Fräulein Baumeyer vollständig spielte und
0139auswendig obendrein. Wie ihr Gedächtniß, erschien auch
0140ihre Bravour erstaunlich für ein so junges Mädchen.
0141Aber das Stück ging doch über ihre Kräfte, über
0142die physischen zunächst. Sie mußte sich mühsam durch-
0143kämpfen, und ihr Arbeiten mit beiden Armen und dem
0144Oberkörper machte dem Hörer auch äußerlich den Eindruck
0145großer Anstrengung. Durch eine ruhigere Haltung und mäßi-
0146geren Pedalgebrauch würde Fräulein Baumeyer’s Spiel sehr
0147gewinnen. Kleinere Charakterstücke zarten, anmuthigen Inhalts
0148gelangen ihr vollkommen und zur lebhaften Zufriedenheit des
0149Publicums. Der Baritonist Herr A. Wallnöfer, dessen
0150[???] Auffassung und deutliche Aussprache doch nur 
0151theilweise mit dem starren, hohlen Klang seiner Stimme ver-
0152söhnen kann, sang mehrere Lieder, worunter das seit mehre-
0153ren Jahren Mode gewordene „Willst du dein Herz mir
0154schenken“. Nachdem diese Composition erst kürzlich wieder in
0155drei bis vier Concerten als „Lied von Johann Sebastian
0156Bach
“ paradirte, möchten wir doch endlich dem Schwindel
0157ein Ende gemacht wissen. Wir haben uns von allem Anfang
0158erlaubt, dieses Lied, dessen frostige Rococo-Musik tief unter
0159dem schlichten, herzlichen Gedichte steht, einen „an-
0160geblichen Sebastian Bach von Herrn Brachvogel’s Gnaden“
0161zu nennen. Gab es doch nichts Gekünstelteres und Abgeschmack-
0162teres, als die Beweisführung der Autorschaft S. Bach’s, wie
0163sie Brachvogel in seinem vielgelesenen Kunstroman „Friede-
0164mann Bach“ unternimmt, um den der Lieder-Composition
0165stets ferngebliebenen, strengen Meister auch als Componisten
0166eines Liebesliedes einführen zu können. Die Thatsache, auf die
0167er seine Argumentation baut, ist einzig die, daß jenes Lied
0168(obendrein nicht von S. Bach’s Handschrift) sich in einer
0169geschriebenen Liedersammlung von Bach’s Frau unter dem
0170Titel „Aria di Giovannini“ vorfand. Nun wird uns
0171die Schlußfolgerung zugemuthet, „Giovannini“ habe hier wahr-
0172scheinlich einen italisirten Schäfer- oder Kosenamen des
0173Johann Sebastian Bach vorgestellt, und sei das Lied somit
0174ihm zuzuschreiben. Der gelehrte Biograph S. Bach’s Ph.
0175Spitta, hat jedoch nachgewiesen, daß „Giovannini“ kein
0176Schäfer- oder Kosename Bach’s, sondern ein leibhaftiger italie-
0177nischer Componist aus der Mitte des achtzehnten Jahrhun-
0178derts gewesen, welcher längere Zeit in Deutschland lebte, der
0179deutschen Sprache mächtig war und sich mehrfach in der
0180Lieder-Composition versuchte. Es wollen daher die geehrten
0181Sänger und Sängerinnen so gewissenhaft sein, wie Frau Bach 
0182selbst, und das genannte Lied künftig als „von Giovannini“
0183im Programm aufführen. Damit wird es allerdings seinen
0184Hauptreiz eingebüßt haben.


0185Ein sehr zahlreiches und gewähltes Publicum hatte sich
0186Donnerstag Abends in dem Concert von Herrn Anton Door 
0187eingefunden. Es war eines der immer seltener werdenden
0188Concerte mit Orchester und mit großen Novitäten aus dem
0189Programm. Zuerst ein neues Clavier-Concert (G-moll, op. 22) 
0190von Camille Saint-Saëns, dem geistreichen Pariser Com-
0191ponisten, dessen Einführung in Wien ein Verdienst Door’s
0192ist. An Ideengehalt und Noblesse des Styls können wir das
0193Concert dem kürzlich gehörten Clavier-Trio von Saint-Saëns 
0194nur sehr theilweise gleichstellen. Effectvoller ist das Concert 
0195allerdings, aber die Effecte klingen mitunter recht bizarr und
0196materiell. Immerhin bleibt es ein Werk voll Esprit und
0197nervöser Lebendigkeit, äußerst geschickt gemacht, melodiös an-
0198sprechend, häufig originell in seinen Clavier-Effecten und
0199deren Combination mit dem Orchester. Charakteristisch für
0200Saint-Saëns ist auch hier die Vereinigung des alten, figurirten
0201und gebundenen Styls mit dem modernen — da er Meister
0202des Orgelspiels und modernster Franzose in Einer Person
0203ist, gelingt ihm diese Verschmelzung gut und natürlich. Gleich
0204der Anfang: das Clavier beginnt Solo, über einen Orgel-
0205punkt frei präludirend, ein modernisirter Sebastian Bach; da
0206fällt das Orchester mit drei wuchtigen Schlägen ein und weckt
0207gleichsam den Träumer zu Kampf und Arbeit auf. Dieser
0208erste Satz scheint uns der bedeutendste von den dreien. Ent-
0209gegen der allgemeinen Regel ist der erste Satz (G-moll) ein
0210Andante. Als zweiter folgt ein Scherzo (Es-dur, Sechsachtel-
0211Tact, etwas mendelssohnisch), als dritter ein Presto (G-moll),
0212dessen Tonfeuerwerk sogar Beckenschläge nicht verschmäht.
0213Herr Door, dessen Spiel im vorigen Jahre Spuren von
0214Vernachlässigung aufwies, scheint sich vollkommen wiedergefun-
0215den zu haben, ja er überraschte geradezu durch die kraftvoll
0216ausdauernde, brillante Virtuosität, womit er die enorme Auf-
0217gabe des Concerts von Saint-Saëns bewältigte. Er spielte
0218ferner das Scherzo aus Litolff’sConcert symphonique“
0219in D-moll, eine effectvolle, geistreich prickelnde Composition,
0220welche übrigens Litolff selbst, unseres Erinnern, schon in Wien 
0221vorgetragen hat. Beide Concertstücke accompagnirte das jugend-
0222liche Orchester des Conservatoriums unter Hellmesber-
0223ger’s
Leitung ganz zufriedenstellend. Allein spielte Herr Door 
0224schließlich Rubinstein’sDeutsche Tänze“ (mit dem gleich-
0225sam als Citat eingewebten Ländler aus dem „Freischütz“)
0226dann zwei originelle und interessante Genrestücke von Tschay-
0227kowsky
, einem neueren russischen Componisten, der auch
0228außerhalb Rußlands bald Beachtung finden dürfte.