Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4140. Wien, Sonntag, den 5. März 1876

Die italienische Saison im Hofoperntheater.

Wien, 4. März 1876.

0003Ed. H. Heute eröffnet das Hofoperntheater nach vollen
0004neun Jahren wieder eine italienische Saison, zugleich die erste,
0005die überhaupt im neuen Hause stattfindet. Die Wirksamkeit
0006italienischer Sängergesellschaften in Wien, ihr häufigeres oder
0007selteneres Erscheinen, ihr Triumph oder Mißerfolg, bildet
0008einen kunsthistorisch bedeutsamen Factor unseres Musiklebens.
0009Bis zu Mozart und Kaiser Joseph war in Wien die italie-
0010nische Oper alleinherrschend. Sodann, nach allmäliger Ent-
0011wicklung und Anerkennung des deutschen Singspiels, folgt in
0012Wien die Periode gleichzeitigen Engagements einer italieni-
0013schen und einer deutschen Truppe. Je nachdem der Zeit-
0014geschmack und die Gunst des Hofes wechselten, bald die eine,
0015bald die andere Gattung bevorzugend, entschloß man sich,
0016im Kärntnerthor-Theater nur eine italienische oder nur 
0017eine deutsche Truppe zu halten. So wurde z. B. 1787 die
0018deutsche Oper entlassen, und es herrschte durch acht Jahre
0019die italienische allein; im Jahre 1795 sehen wir wieder
0020italienische Sänger neben den deutschen eingeführt, endlich
0021(1806) die italienische Oper definitiv aufgelöst. Von diesem
0022Zeitpunkte an sind die Deutschen die alleinigen, ansässigen
0023Herren im Hause und erscheinen die Italiener nur mehr
0024zeitweilig als Gäste. Eine in München gastirende italie-
0025nische Gesellschaft wurde im Herbste 1816 nach Wien einge-
0026laden und brachte hier die ersten Rossini’schen Opern
0027(„L’Inganno“, „Tancredi“) zur Aufführung. Die Erinne-
0028rung daran wirkte durch die folgenden Jahre nach, und so
0029bereitete sich (unterstützt durch die politische Restauration
0030Oesterreichs in Italien) jene glänzendste Vertretung ita-
0031lienischen Gesanges in Wien vor, welche im Früh-
0032ling 1822 unter Barbaja ihren Anfang nahm.
0033Barbaja, Pächter des Hofoperntheaters von 1821 bis
00341828, ließ deutsche und italienische Vorstellungen regelmäßig
0035mit einander abwechseln. So konnte man heute eine Mozart’sche,
0036Cherubini’sche oder Weber’sche Oper mit der Schröder,
0037Sontag, Ungher, Grünbaum, morgen eine Rossini’sche mit
0038der Colbrand, Fodor, mit David, Donzelli, Rubini, und am
0039dritten Abend ein Ballet mit der Elßler oder Taglioni sehen.
0040Seltsamerweise blieben nach diesem glänzendsten Gastspiele 
0041die Italiener beinahe ein Decennium aus; erst unter dem
0042Pächter Duport begann (1835) die Einführung einer
0043regelmäßigen, ausschließlich italienischen Opernsaison von drei
0044Monaten, während welcher die deutschen Sänger beurlaubt
0045wurden. Nun brachte durch dreizehn Jahre jeder Ostermontag
0046pünktlich seine italienische Stagione, bis der Märzsturm 1848 
0047die „fremden Sänger“ aus Wien vertrieb. Schon 1851 
0048kehrten sie wieder, um jedoch nach dem Kriegssturme des
0049Jahres 1859 abermals zu verschwinden. Der Luxus der
0050italienischen Oper schien fast definitiv aufgegeben, man war
0051ästhetisch und finanziell verdrießlich geworden; das Publicum
0052hatte nachgerade die italienische Musik und der Hof das
0053regelmäßige italienische Deficit satt. Aber eine heimliche
0054Sehnsucht mußte doch unter der Asche fortglimmen, denn
0055was das Hoftheater nicht mehr thun wollte, das wagten
0056nun Privat-Unternehmer. Matteo Salvi etablirt 1860 
0057eine italienische Gesellschaft mit der La Grua und der
0058Charton-Demeur im Theater an der Wien. Im Früh-
0059ling 1862 erscheint zum erstenmale Désirée Artôt,
0060umgeben von einem babylonischen Sprachengemenge, im
0061Kaitheater und wieder ein Jahr später als sieg-
0062reicher Superlativ Adelina Patti im Carl-Theater.
0063Offenbar waren es diese so günstig aufgenommenen Vorstadt-
0064Stagiones, was nunmehr die Nacheiferung der Hofopern-
0065Direction weckte. Diese lud durch die vier Jahre 1864 bis
00661867 eine italienische Gesellschaft, jedesmal mit der Artôt,
0067zu Gast. In Désirée Artôt, Calzolari, Everardi 
0068und Zucchini besaß diese Truppe ein unvergleichliches
0069Sängerquartett für die Opera buffa und pflegte dieses früher
0070vernachlässigte Genre als glänzendste Specialität. Die Auf-
0071führungen von „Cenerentola“, „Matrimonio segreto“,
0072„Barbiere“, „Italiana“, „Elisir d’amore“ etc. entzückten
0073Kenner und Laien. Allein das Genre erwies sich doch für
0074die Länge als zu beschränkt, da die Opera buffa seit Doni-
0075zetti keinen Nachwuchs zu Tage förderte und für die Tragödie
0076große Stimmen und hochdramatische Talente fehlten. Schon
00771866 erkaltete die Theilnahme des Publicums auffallend,
0078und mit der folgenden Saison schloß sich das Hofopern-
0079theater wieder für neun Jahre gegen jede italienische Gesell-
0080schaft ab. Die Frühlings-Stagione 1867 war die letzte im
0081Kärntnerthor-Theater. Aber siehe da, es wiederholte sich der
0082nämliche Rückschlag wie nach dem Jahre 1859: Privat-
0083Unternehmer verpflanzten auf eigene Faust die italienische
0084Oper in die Vorstadt; die dort zurückgedrängte Knospe (oder 
0085„Giftbeule“, wie die fanatischen Teutonen sagten) brach an
0086den Ufern der Wien fröhlich wieder auf. Die Artôt er-
0087schien 1872 als Madame de Padilla mit unverminderter
0088Bravour, aber etwas verblühter Stimme und verschwenderi-
0089scher Körperfülle im Theater an der Wien, wo im folgen-
0090den Jahre Adelina Patti, die ewig junge, eine
0091Reihe von glänzenden Saisons eröffnete. Ihr folgte
0092unmittelbar, als unfreiwilliges Satyrspiel, Franchetti’s Buka-
0093rester Operngesellschaft und fuhr mit der singenden Panzer-
0094fregatte Patierno in den erschreckten Miniatur-Hafen des
0095Strampfer-Theaters ein. Durch vier Jahre (1872 bis 1875)
0096kam mit jedem Frühling Adelina Patti angeflogen und sang
0097(zuletzt in der Komischen Oper) so schön, als man nur singen
0098kann. Aber trotzdem fehlte es nicht an Klagen. Wie schade,
0099hörte man allenthalben, daß der unvergleichlichen Sängerin
0100nicht ein besseres Orchester, ein stärkerer Chor zur Seite steht,
0101daß so ärmliche Ausstattung und ungenügende Scenirung uns
0102regelmäßig den Genuß trüben! Ja, wenn die Patti im Opern-
0103theater sänge! Und so ereignet es sich jetzt wieder, wie vor
0104zwölf Jahren, daß die Erfolge wie die Mängel der Vorstadt-
0105Stagiones den Italienern wieder die Hallen des kaiserlichen
0106Opernhauses öffnen.

0107Die Idee, Adelina Patti für ein Gastspiel am Hof-
0108operntheater zu gewinnen, war schon von Herbeck gefaßt,
0109welcher den detaillirten Plan vollständig auf dem Papier und
0110die Zustimmung der Diva in Händen hatte. Es fehlte nur
0111die Unterschrift des damaligen Intendanten, dessen Regie-
0112rungskunst bekanntlich in der Passion gipfelte, auf Alles
0113Nein zu sagen. Director Jauner brachte das gleiche
0114Project glücklich durch, und wir stehen nach langer, langer
0115Zeit wieder vor einer italienischen Saison in großem Style.
0116Ja, wenn wir die Eleganz, Bequemlichkeit und scenische Voll-
0117kommenheit des neuen Hauses mit in Rechnung ziehen, so ist
0118es die erste italienische Opernsaison, mit welcher das zur
0119Großstadt aufgeblühte Wien sich London und Petersburg an
0120die Seite stellt. Ich nenne als dritte nicht die Italienische
0121Oper in Paris, welche, seit zehn Jahren immer tiefer ge-
0122sunken, im vorigen gänzlich eingestellt ward. Schon 1867, im
0123glänzenden Ausstellungsjahre, konnte ich wahrheitsgetreu von
0124der Pariser Italienischen Oper nur berichten, daß sie sich —
0125mit der Patti als einzigem Juwel in der unwürdigen
0126Fassung eines schlechten Chors und Orchesters und einer ge-
0127radezu schädigen Ausstattung — lediglich durch das Gesetz
0128der Trägheit und der Mode noch erhalte. Nach dem Wiener [2]
0129Programm, dass neben Adelina Patti die gefeierte Pauline
0130Lucca und eine Anzahl der namhaftesten Sänger aufführt,
0131dürfen wir uns eine Paris weit übertreffende Stagione
0132versprechen.

0133Werfen wir einen Blick auf dieses Programm. Jeder
0134aufmerksame Beobachter weiß, daß die italienische Oper seit
0135geraumer Zeit an zwei Dingen auffallenden Mangel leidet:
0136an italienischen Sängern und an italienischen Opern. In
0137beiden Punkten hat sie längst aufgehört, national zu sein, sie
0138ist kosmopolitisch geworden und wird es mit jedem Jahre
0139mehr. In den besten italienischen Opern-Gesellschaften sind
0140derzeit die Italiener in der Minorität. Wie viele Wiener
0141Kinder glänzen darin, von Pauline Lucca angefangen bis zu
0142den melodisch romanisirten Namen: Fricci, Smeroschi,
0143Proska, d’Angeri etc.! Wie ehemals aus den großen Gesang-
0144schulen von Mailand, Venedig, Bologna, so gehen heute die
0145gesuchtesten italienischen Sängerinnen aus Frau Marchesi’s 
0146Musikzimmer in der Maximilianstraße hervor. Die Heil-
0147bron, Jamett, Cary etc. in Merelli’s Gesellschaft
0148machen kein Hehl aus ihrem nichtitalischen Ursprung, und
0149an Nicolini ist bekanntlich Alles französisch, bis auf das
0150ini. Man muß zufrieden sein, wenn die Mitglieder, wo
0151immer ihre Wiege stand, schöne Stimme, eine gute italienische
0152Schule und tadellose italienische Aussprache besitzen. Auf
0153diesen drei Qualitäten müssen wir aber bei den „Ehren-
0154Italienern“ bestehen.

0155Was das von Merelli veröffentlichte Repertoire betrifft,
0156so frappirt es durch seinen kosmopolitischen Stempel. Von
0157den angekündigten siebzehn Opern sind nur acht ita-
0158lienisch („Don Giovanni“, „Barbiere“, „Aïda“, „Rigo-
0159letto“, „Traviata“, „Trovatore“, „Elisir d’amore“), acht
0160französisch („Mireille“, „Faust“, „Romeo“, „La Favo-
0161rite“, „Fra Diavolo“, „Mignon“, „Die Afrikanerin“, „Die
0162Hugenotten“), eine endlich („Lohengrin“) deutsch. Gegen einen
0163allgemeinen Zug der Zeit wird sich kein Vernünftiger stemmen, aber
0164etwas weniger kosmopolitisch und mehr italienisch hätten wir das
0165Repertoire Merelli’s trotzdem gewünscht. Von „Lohengrin“
0166wollen wir gar nicht reden; ein in Text und Musik so
0167specifisch deutsches Werk, das von Ausländern niemals so
0168richtig wiedergegeben werden kann, wie von unseren Sängern,
0169einen „Lohengrin“ auf deutscher Bühne italienisch singen zu
0170lassen, ist der bare Unsinn. Desgleichen hätten wir die abge-
0171spieltesten französischen Opern („Faust“, „Hugenotten“,
0172„Mignon“, „Afrikanerin“) gerne zu Gunsten guter italienischer 
0173geopfert. Indessen, da wir sie hier ohnehin nur in Uebersetzung
0174geben, so mag es einmal zur Abwechslung eine italienische sein;
0175das Interesse, diese Werke von neuen ausgezeichneten Sängern
0176vortragen zu hören, wird einen starken Magnet dafür abgeben. Im
0177Princip müssen wir aber die Forderung festhalten, daß eine
0178„Italienische Saison“ überwiegend italienische Opern
0179enthalten soll, vor Allem solche, die auf unserm deutschen
0180Repertoire gänzlich fehlen oder von deutschen Sängern nur
0181unvollkommen bewältigt werden. Die Merelli’sche Gesellschaft
0182bringt uns das internationale Repertoire von Her Majesty’s
0183Theatre und Coventgarden. Allein Wien nimmt eine ganz
0184andere Stellung zur italienischen Oper als London, wo das
0185Italienische eben nur die musikalische Hof- und Amtssprache
0186bildet für Alles, was Frankreich, Deutschland, Italien an
0187namhaften Opern producirt. Da eine englische Oper erst
0188seit neuester Zeit und nur im leichteren Genre, mit gerin-
0189geren Kräften sich versucht, so kann man „Fidelio“ und die
0190„Zauberflöte“, „Fra Diavolo“ und die „Hugenotten“ in
0191London nur italienisch hören und kennt sie dort in keinem
0192andern Idiom. Anders in Wien, wo wir für die deutschen
0193und französischen Opern unsere eigenen guten Sänger haben.
0194Ein überwiegend national-italienisches Repertoire findet man
0195eigentlich nur noch auf den kleineren Opernbühnen Italiens
0196und — in Paris. Der „Italienischen Oper“ in Paris ist es
0197nämlich nicht gestattet, Opern des französischen Repertoires
0198(Meyerbeer, Auber, Gounod etc.) aufzuführen, und ihr deut-
0199sches Repertoire beschränkt sich auf „Martha“. Man gibt
0200daher in der Salle Ventadour fast ausschließlich original-
0201italienische Werke, freilich die allerbekanntesten. Mit letzteren
0202wäre uns in Wien allerdings nicht gedient. Warum fehlen
0203aber in Merelli’s Programm die Perlen der älteren italieni-
0204schen Musik und die gepriesenen Novitäten der neuesten?
0205Was die Classiker betrifft, so nehmen wir dankbar Act von
0206dem versprochenen „Don Giovanni“, vermissen aber daneben
0207schmerzlich die „Nozze di Figaro“. Wir vermissen schmerz-
0208lich jene köstlichen älteren Buffo-Opern, welche den Glanz-
0209punkt der früher erwähnten Artôt-Stagione bildeten: Cima-
0210rosa’s „Matrimonio segreto“, Rossini’s „Italiana“ und
0211„Cenerentola“, Donizetti’s „Don Pasquale“. Dazu Ros-
0212sini’s „Gazza ladra“, welche, in London und Petersburg von
0213der Patti wieder zu Ehren gebracht, dem heutigen Wien 
0214eine Novität wäre. Das sind die „italienischen“ Opern par
0215excellence, die vollständig nur zu verstehen und zu genießen
0216sind, wenn sie in italienischer Sprache von italienischen Ge
0217sangsvirtuosen ausgeführt werden. Auch von den neuesten
0218italienischen Componisten hätten wir gerne etwas kennen ge-
0219lernt. Ihre Zahl ist Legion, und wenn wir die jährliche
0220Opern-Statistik Italiens lesen, überkommt uns eine Art
0221Schrecken vor solcher Productivität. Das Meiste davon
0222fristet nur ein kurzes Dasein — Futter für den Car-
0223neval! Aber einige von den Jüngern Verdi’s (der
0224ja bereits zu den alten Herren zählt) haben doch nach-
0225haltige Erfolge auf allen Bühnen Italiens errungen und
0226sich bei der Kritik in einigen Respect gesetzt. Es sind
0227dies namentlich: Ponchielli, Gomez und Marchetti.
0228Ponchielli’s „Promessi sposi“ (nicht zu verwechseln mit
0229der gleichnamigen Oper des alten Leimsieders Petrella);
0230„I Guarany“ von Gomez und vor Allem Marchetti’s 
0231„Ruy Blas“ heißen die namhaftesten und relativ anhal-
0232tendsten Erfolge der nach-Verdi’schen Epoche in Italien. Als
0233Novitäten für unsere deutsche Saison würden wir sie nicht
0234empfehlen, aber von italienischen Gästen hätten wir eine oder
0235die andere dieser Bekanntschaften mit Dank angenommen.
0236Die Merelli’sche Gesellschaft ist jedoch, wie gesagt, eine kosmo-
0237politische; es sind die italienischen Sänger von London und
0238Petersburg, fremd in dem neuesten italienischen Repertoire,
0239ja, meistens fremd in Italien selbst, das sie zu bezahlen
0240nicht vermag. Von Verdi hätten wir „Don Carlos“ als
0241Novität mit Interesse begrüßt oder wenigstens als Halb-
0242novität „La forza del destino“, welche hier vor elf Jahren
0243etwas vorschnell verurtheilt wurde und in ihrer neuen Um-
0244arbeitung zu den respectabelsten Werken des Maëstro gehört.
0245War endlich der französischen Musik eine so unver-
0246hältnißmäßige Area eingeräumt, so durften einige neue Glanz-
0247partien der Patti, wie ihre beiden Katharinen (im „Nord-
0248stern“ und den „Krondiamanten“) in Wien nicht fehlen.

0249Nun sind wir mit unseren Bedenken fertig und können
0250mit der herzhaften Versicherung schließen, daß wir allen
0251Grund haben, uns auf die bevorstehende italienische Saison
0252nicht wenig zu freuen. Die Freude an dem Zauber italieni-
0253scher Stimmen und der Kunstvollendung italienischen Ge-
0254sanges ist uns niemals abhanden gekommen; jetzt soll uns
0255im neuen Opernhause dieser Genuß zum erstenmale wieder
0256in würdiger Form und allseitig künstlerischer Abrundung
0257geboten werden. Hoffen wir, daß jeder einzelne Opern-Abend
0258harmonisch mit der vergnügten Stimmung zusammenklingen
0259werde, welche ein auf das Ganze vorausgeworfener Blick
0260heute in uns erweckt hat!