Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4167. Wien, Sonntag, den 2. April 1876
[1]Musik.
(Italienische Oper. — Concerte. — Saint-Saëns.)
0003Ed. H. Es war nach dem ersten Act von Gounod’s
0004„Romeo und Julia“, daß ein Herr neben mir seinen Jubel-
0005hymnus für die Patti mit einer Mollcadenz über die hohen
0006Eintrittspreise schloß; worauf ihm seine freundliche Nach-
0007barin sehr hübsch erwiderte: „Mir scheint im Gegentheil
0008kein Preis zu hochgegriffen für den Genuß, den ich heute
0009der Patti verdanke — das kann eigentlich mit Geld gar
0010nicht bezahlt werden.“ Ja wol ist das unbezahlbar und leider
0011auch unbeschreibbar. Wer überhaupt die glückliche Empfäng-
0012lichkeit für den Zauber vollendet schönen Gesangs nicht ein-
0013gebüßt, der durfte und mußte über die Giulietta der Patti
0014in gelindes Schwärmen gerathen. Unwillkürlich rühmte man
0015diese Julia, noch ehe sie zu singen begann. Es findet sich gar
0016so selten für diese Shakspeare’sche Gestalt, sei es im Drama
0017oder der Oper, eine ganz entsprechende Persönlichkeit. Adelina
0018Patti, die noch immer wie ein sechzehnjähriges Mädchen
0019aussieht, ist mit ihrer zierlichen Figur, ihrem flammenden
0020Auge, ihrer fast kindlichen Anmuth dafür wie geschaffen. Die
0021naive Ballfreudigkeit, mit der sie in den Saal tritt, die rasch
0022aufbrechende Liebe zu Romeo — man glaubt ihr das Alles
0023ohneweiters. Wie oft vergißt die Kritik und vergessen die
0024Künstlerinnen selbst die Wichtigkeit der äußeren Erscheinung
0025für einen bestimmten Charakter! Dieselbe große Sängerin
0026kann uns in einer Rolle entzücken, in der andern ungerührt
0027lassen, lediglich weil ihr Aeußeres mit der einen harmonirt,
0028mit der andern nicht. Beispiele dafür bietet wol in Fülle
0029die Erinnerung eines jeden Theaterfreundes. Die Julia der
0030Patti hat fürs erste die Glaubwürdigkeit der Erscheinung
0031für sich. Und nun ihr Gesang! Ihr Vortrag der Walzer-Arie
0032ist für sich ein kleines Wunder: vollendete Gesangskunst, gepaart
0033mit dem reinsten Geschmack und der lieblichsten Natürlichkeit.
0034Die Patti singt das Stück, das fast alle Sängerinnen einen
0035Ton tiefer transponiren müssen, in der Original-Tonart
0036G-dur; die Leichtigkeit, mit der ihre helle Silberstimme die
0037hohe Lage beherrscht, die immer wiederkehrenden A, H und
0038C anschlägt, wirkt bezaubernd. Sie trug die Arie mit einer
0039Lieblichkeit und Freude vor, daß es Morgen in der Seele
0040der Zuhörer wurde. Immer streng im Tacte, gestaltet sie
0041doch innerhalb desselben den Rhythmus mit individueller Frei-
0042heit, nichts wird geschleppt, noch gejagt und doch Alles bis
0043in die leiseste Tonschwingung belebt. Mit wie feinem musika-
0044lischen Gefühl bringt sie gleich die dreimal wiederholten Vor-
0045schläge des Themas, nicht scharf und geschnellt, sondern als
0046ruhig-bewegten Hauch — und später die chromatische
0047Scala, nicht etwa als gesungenen Sturmwind, sondern mit
0048unvergleichlicher Ruhe und Reinheit jede Tonstufe wie in
0049Marmor meißelnd! Ein ebenbürtiges Seitenstück zu ihrem
0050Schattenwalzer in „Dinorah“; hier wie dort die größte Be-
0051stimmtheit der Zeichnung und darüber der lieblichste Duft
0052und Farbenschmelz ausgegossen. Von beiden Tanzmelodien
0053weiß sie jeden trivialen Beischmack zu tilgen und erhebt zu
0054reiner Schönheit, was sonst im besten Fall ein gelungenes
0055Bravour-Kunststück bleibt. Die künstlerische Größe der Patti
0056besteht aber, wie wir oft hervorgehoben, keineswegs in ihrer
0057Virtuosität, sondern ebensosehr in ihrem eminent musika-
0058lischen, von Schönheit getragenen Vortrag der Canti-
0059lenen. Gleich die folgende Nummer Giulietta’s bewies das
0060aufs neue: ihr mit so keuscher Einfachheit vorgetragenes
0061„Madrigal“ mit Romeo. Im zweiten Act der Oper stritten
0062Gesang, Spiel und unübertreffliche Deutlichkeit der Aus-
0063sprache um die Palme. Wie dieser zweite, so ist auch der vierte
0064und der fünfte Act im Grunde Ein langes Liebesduett, und schon
0065darum finden letztere eine weniger empfängliche Hörerschaft.
0066Die sentimentale Monotonie der Composition, die gerade
0067hier, wo sie nach dem höchsten Ausdrucke ringt, unter ihrer
0068Aufgabe bleibt, dann das passive Spiel Romeo’s, der in der
0069Biedermannshaltung eines „Risler aîné“ vor seiner Julie
0070saß — sie trugen beide Mitschuld an der geringeren Wir-
0071kung des Liebesduetts im vierten Acte. Desto bedeutender
0072wuchs die Leistung Adelina Patti’s am Schluß dieses Actes.
0073Nach der neuen, von Gounod selbst für London und
0074Petersburg getroffenen Einrichtung fällt bei den Italienern
0075ein großer Theil des vierten Finales weg; der Schluß des-
0076selben wird hart an den Moment vorgeschoben, wo Julie
0077den Schlaftrunk nimmt. Es treten jetzt, ohne daß ein Deco-
0078rationswechsel stattfindet, die Hochzeitsgäste in Julie’s Schlaf-
0079gemach ein, die Orgel erklingt hinter der Scene, und nach
0080Capulet’s Ansprache sinkt Julie, von den Wirkungen des
0081Giftes übermannt, todt nieder. Mit der Streichung des
0082kurzen Einzugsmarsches und Ballets, dann des schönen Vocal-
0083chors „O Juliette!“ hat Gounod ein Opfer gebracht für
0084den strammeren Zusammenhang der Handlung. Trotzdem
0085bleibt dieser Gewinn nicht ohne Verlust, denn die Hochzeits-
0086feier bildete einen der wenigen glänzenden Sonnenblicke in
0087der tristen Atmosphäre der Oper. Die Schlußscene spielte
0088die Patti mit überraschenden dramatischen Details und mit
0089dem vollen Ausdrucke des Grauens vor dem sie immer fester
0090umklammernden Todesschlaf. So besäßen wir denn in dieser
0091Giulietta einen neuen Stern in dem Künstlerdiadem der
0092Patti und in diesem Stern wieder den ersten Act als
0093einen ihrer strahlendsten Brillanten. Im Uebrigen gerieth
0094die Vorstellung nur theilweise befriedigend. Nicolini, als
0095Romeo, besser disponirt als an dem letzten „Hugenotten“-
0096Abend, scheint sich noch immer nicht ganz erholen zu können;
0097in langsamen, getragenen Gesangsstellen — die ja den größten
0098Theil dieser Rolle ausfüllen — wird sein Tremoliren gar
0099zu empfindlich. Am besten gelang ihm die erste Begegnung
0100mit Julie und das einzige heroische Aufflackern Romeo’s im
0101dritten Finale. Daß die Oper durch Capoul als Romeo
0102und Rokitansky als Lorenzo gewonnen hätte, haben wir
0103bereits jüngst erwähnt. Die Herren Padilla, Strozzi,
0104Jamet genügten, ohne sich besonders hervorzuthun.
0105Von Pauline Lucca hörten wir nach den „Hugenotten“,
0106in welchen sie die Valentine mit echt künstlerischer Bereit-
0107willigkeit im letzten Augenblicke übernahm, noch die „Afrika-
0108nerin“. Als Valentine erreichte sie nicht blos das Höchste
0109ihrer so hochentwickelten dramatischen Kunst, sondern an
0110diesem Abend auch den Gipfelpunkt ihrer Inspiration. Wir
0111haben sie nie zuvor mit solcher Hingebung, mit so mächtigem,
0112heroischem Ausdruck singen gehört. Daß sie in dem Duett
0113mit Marcell die Kletterei vom hohen C herab unterließ, be-
0114klagen wir nicht; es wird Einem ohnehin immer angst und
0115bang bei diesem geschmacklosen Wagstück. Ihr vierter Act
0116war meisterhaft, imposant von Anfang bis zu Ende; wir
0117würden nicht fertig mit dem Aufzählen glänzender Einzel-
0118heiten. Nur Ein neuer, geistreicher Zug von vielen sei er-
0119wähnt: während alle Darstellerinnen der Valentine sich bei
0120dem Verschwörungs-Chor hinter einen Vorhang oder eine [2]
0121Thür flüchten und erst auf ihr nächstes Stichwort den Kopf
0122herausstecken, bleibt die Lucca die ganze Scene hindurch an-
0123wesend, auf der Lauer hinter den Verschworenen, und belebt
0124den Vorgang durch ein unvergleichliches stummes Spiel.
0125Ihre Selica glänzte in grandiosen Momenten, namentlich
0126des vierten Actes, verhielt sich aber im Ganzen zu ihrer Valen-
0127tine, wie — Meyerbeer’s „Afrikanerin“ zu seinen „Hugenotten“.
0128Die Selica ist aus lauter falschen Contrasten zusammen-
0129gesetzt, wie ihr Gesang aus lauter unvermittelten Melodie-
0130brocken. Kaum können wir es der Lucca verdenken, daß sie
0131von dieser raffinirten, unwahren Figur sich nicht sehr begei-
0132stert fühlt. So leidenschaftlich sie in einzelnen Scenen hervor-
0133brach — wie in dem ergreifend gespielten Kerker-Finale — sie
0134kehrte doch immer bald und für lange zu einer sehr ruhigen,
0135überlegenen Haltung zurück, welche allerdings die „Königin“
0136hervorhob, aber mit dem heißen Blut der ungezähmt leiden-
0137schaftlichen Afrikanerin doch in Widerspruch stand. Auch die
0138Erscheinung der Lucca, ihre behagliche Fülle und ihre großen
0139blauen Augen stimmen nicht zu diesem wilden Naturkind
0140Afrikas. Mit dem ganz neuen Reizmittel der braunen Haut
0141und des unkleidsam phantastischen Costüms hat sich Meyer-
0142beer doch verspeculirt. Von all den zahlreichen Sängerinnen,
0143die wir in dieser Rolle gesehen, hat eine einzige charakteristisch
0144und zugleich vortheilhaft ausgesehen und durch ihren nie
0145ruhenden Feuerblick, ihre scharfgeschnittene Physiognomie und
0146die jugendliche Raschheit ihrer Bewegungen diese exotische
0147Figur glaubwürdig gemacht: Caroline Bettelheim.
0148Die Afrikanerin der Lucca war ein Erfolg, ihre Valentine
0149ein Triumph. Capoul kämpfte als Vasco de Gama gegen
0150eine durch Ueberanstrengung leicht erklärliche Müdigkeit, oben-
0151drein gegen die Unsicherheit in einer so umfangreichen, von
0152ihm zum erstenmal gesungenen Partie. Trotzdem bot seine
0153Leistung viel des Guten; für den heldenmäßigen Theil der
0154Rolle fand er Ton und Haltung über alles Erwarten, für
0155die lyrischen Stellen im vierten Acte die volle Wärme und
0156Zartheit der Empfindung. Padilla, gewohnt, durch ele-
0157gante Weichheit des Vortrags einzunehmen und mit halber
0158Stimme ganz zu wirken, sang den grimmigen Nelusko. Ein
0159harter Stand, zumal in Wien, wo Beck’s gewaltiger Ne-
0160lusko jeden Rivalen verdunkelt. Der künstlerische Eifer,
0161welchen Padilla aufwendete, um die Rolle seinem wider
0162strebenden Naturell abzuzwingen, verdient alle Anerkennung.
0163Auch fanden einige von ihm zart gesungene, gleichsam auf
0164der Flöte vorgetragene Saharastürme reichlichen Beifall.
0165Im Vordergrund unseres Concertlebens stand über eine
0166Woche lang Camille Saint-Saëns. Schon bei früheren
0167Anlässen haben wir uns mit diesem Componisten beschäftigt
0168und seine hervorragende Stellung in der Pariser Musikwelt
0169bezeichnet. Er hat sich dort durch sein Talent so sehr in
0170Respect gesetzt, daß sogar das höchst exclusive Conservatoriums-
0171Concert Compositionen von Saint-Saëns aufzuführen sich
0172gezwungen sieht. Obwol das Pariser Conservatoire nicht wie
0173die Londoner „Concerts of ancient music“ statutenmäßig
0174die Compositionen aller Tondichter zurückweisen muß, die
0175nicht wenigstens seit dreißig Jahren todt sind, so näherte
0176sich seine Praxis doch stark dieser Tendenz. Berlioz hat
0177vergebens um Einlaß gepocht in diesen Tempel des Classi-
0178cismus. In neuerer Zeit hat er sich ausnahmsweise auch
0179einigen wenigen Modernen geöffnet; neben Félicien David
0180und Theodor Gouvy ist der viel jüngere Saint-
0181Saëns wol der Einzige, dem das Conservatoire zeitweilig
0182ein Plätzchen zwischen Rameau und Haydn oder Mozart ver-
0183gönnt. Und daran thut es wohl, denn die Franzosen, fast
0184nur für theatralische Musik begabt, sind arm an Instrumental-
0185Componisten. Man kann (von dem längst vergessenen Sympho-
0186nienzopf Gossec abgesehen) Berlioz den ersten Orchester-
0187Componisten Frankreichs nennen, der Zeit und dem Range
0188nach. Nach ihm ist Saint-Saëns der erste Franzose,
0189überhaupt der erste nichtdeutsche Componist, der in reiner
0190Instrumental-Musik Werthvolles und Eigenthümliches schafft
0191und damit über Frankreich hinaus Erfolge gewinnt. Offenbar
0192hat Berlioz stark auf ihn eingewirkt, wie die Programm-
0193Musiken („Todtentanz“, „Phaëton“, „Omphale“) beweisen, und
0194außer diesen noch gewisse orchestrale Lieblingseffecte, welche
0195direct auf Berlioz hinweisen, wie die reichliche Ver-
0196wendung von zwei Harfen, die häufigen Geigen-Pizzicatos etc.
0197Man thäte aber sehr Unrecht, Saint-Saëns für einen Nach-
0198ahmer oder Fortsetzer von Berlioz zu halten. Berlioz ist, um
0199ein Schlagwort zu gebrauchen, ein exceptioneller Componist,
0200Saint-Saëns ein universeller. An genialer Eigenart hinter
0201jenem zurückstehend, ist doch Saint-Saëns ein besserer
0202Musiker als Berlioz, welcher streng genommen, mit musika
0203lischen Elementen dichtete. Berlioz war bei aller Genialität
0204verloren, sobald er sich nicht an einen poetischen Stoff, ein
0205Sujet, lehnte; verloren, wenn er auf den berückenden Effect
0206seiner Orchesterfarben verzichten sollte. Nie hätte er ein
0207Werk so rein musikalisch in Form und Inhalt, wie Saint-
0208Saëns’ Trio oder Quintett, zu Stande gebracht. Und das
0209macht uns die Erscheinung des jungen Franzosen so erfreulich
0210und achtungswerth, daß er durch ernste Arbeit rasch zu einem
0211universellen Standpunkt emporgestiegen und nicht an dem
0212verführerischen Vorbilde einer französischen Specialität hängen
0213geblieben ist. Ein geregelter Bildungsgang und sein dem
0214Excentrischen im Grunde abholdes Naturell entzogen ihn dieser
0215Gefahr. Berlioz war höchst einseitig, nicht nur in eigener
0216Production, sondern auch in seiner Empfänglichkeit für
0217Fremdes. Ihn hat immer nur das „Poetische“ in der Musik
0218angezogen, zunächst das Poetische von stark dramatischer
0219Färbung. Er schwärmte nur für Gluck, Weber und Beet-
0220hoven; die classische Heiterkeit des musikalischesten aller
0221Componisten, Mozart’s, ließ ihn ebenso kalt, wie der
0222combinatorische Tiefsinn Bach’s. Saint-Saëns hingegen hat
0223sich zumeist an Bach gebildet, den er auswendig kann
0224auf der Orgel wie auf dem Clavier. Mit Leidenschaft
0225vertiefte er sich dann in die Werke der übrigen deutschen
0226Meister, von denen Schumann das lauteste Echo in ihm
0227weckte. So ganz an deutscher Musik herangebildet und dabei
0228doch ganz Franzose geblieben: das ist der eigenthümlichste
0229Reiz an Saint-Saëns. Weder Tiefe und Ursprünglichkeit
0230der Gedanken wollen wir ihm nachrühmen, noch eine reiche
0231melodiöse Ader, ebensowenig seelenvolle Innigkeit, deren
0232Mangel sich am deutlichsten in seinen Adagios verräth; aber
0233Geist, Witz, glänzende Wirkung und sprühende Lebendigkeit
0234walten in seinen Compositionen, die überdies eine eminente
0235Geschicklichkeit in der Mache, eine meisterliche Beherrschung
0236aller Ausdrucksmittel auszeichnet. Während seiner kurzen An-
0237wesenheit in Wien hat Saint-Saëns uns zwei symphonische
0238Dichtungen, zwei Clavier-Concerte und ein Quintett (in
0239Hellmesberger’s Soirée) vorgeführt. Zahlreiche andere har-
0240ren der Aufführung. Diese Productivität eines ernsten, geist-
0241reichen Componisten von eigenthümlicher Physiognomie und
0242glänzender Technik scheint uns für unsere in der Instrumen-
0243tal-Musik so sterile Epoche so erfreulich, daß wir uns nicht [3]
0244dazu bequemen können, nergelnd und maßleidig die Mängel
0245dieses Tondichters unter die Loupe zu nehmen, die doch von
0246seinen Vorzügen sehr entschieden überstrahlt werden. Den
0247lebhaftesten Eindruck auf das Publicum machten die beiden
0248symphonischen Tongemälde: „La danse macabre“ und
0249„Phaëton“; sie mußten auf stürmisches Verlangen wieder-
0250holt werden. Es sind Programm-Musiken in Einem fort-
0251laufenden Satze, blendende Schilderungen, die nicht blos
0252durch das poetische Sujet, sondern auch durch die Einheit
0253der musikalischen Idee und Form stramm zusam-
0254mengehalten werden. Ein wenig Spielerei ist bei
0255solchem Unternehmen kaum zu vermeiden; jedenfalls wird
0256kaum ein Zweiter sie so effectvoll und geistreich zu gestalten
0257wissen, wie Saint-Saëns. Der Anflug von Ironie, womit
0258der Componist bei aller Vorliebe für den zu bearbeitenden
0259Stoff doch zugleich über demselben steht und es so ver-
0260meidet, durch übertriebenes Pathos den Hörer ärgerlich und
0261sich selbst lächerlich zu machen, bildet einen bemerkenswerthen
0262Charakterzug seines „Todtentanzes“ und seines „Phaëton“.
0263Es liegt darin etwas von der feinen Ironie, mit welcher
0264Gottfried Keller seine köstlichen „Legenden“ erzählt. In
0265seinen Clavier-Concerten (Es-dur, Op. 29, und D-dur,
0266Op. 17) begegnen wir neuen Formen und neuen effectvollen
0267Passagen; daß die Bravour des Spielers (allerdings ohne
0268den veralteten Tummelplatz der „Cadenz“) darin in vollem
0269Lichte glänzt, finden wir in der Ordnung. Jede Gattung hat
0270ihre eigenen Gesetze, und ein Concert soll keine Symphonie
0271sein wollen. Auch in seinen Clavier-Compositionen ist Saint-
0272Saëns ein durchaus moderner und doch kein Mode-Com-
0273ponist, ein „enfant du siècle“, dem es schwer wird, tief und
0274erhaben, aber auch unmöglich, langweilig zu sein. Das eigene
0275Concert, welches Saint-Saëns (unter sehr beifälliger Mit-
0276wirkung der Sängerin Ida Gaßebner) im kleinen
0277Musikvereinssaale veranstaltete, präsentirte ihn zugleich als
0278vortrefflichen Clavier-Virtuosen, dessen erstaunliches Passagen-
0279und Octavenspiel, dessen feiner, von jeder Uebertreibung und
0280Affectation freier Vortrag den besten Eindruck machten.
0281Diesen vortheilhaften Eindruck erhöht noch die bescheidene
0282Anspruchslosigkeit, mit welcher Saint-Saëns, verschieden von
0283dein merveilleusen Naturen unserer neuesten Schule, auftritt
0284und spielt.