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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4217. Wien, Dienstag, den 23. Mai 1876

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Hofoperntheater.


0002Ed. H. Warum gerade Verdi’s „Ernani“ als erste
0003Novität oder Halbnovität der wiedereröffneten deutschen
0004Opernsaison gewählt wurde? Offenbar halb aus Verlegen-
0005heit, halb aus Bequemlichkeit. Liegt doch das Geheimniß von
0006der Wirkung dieser Oper zum größten Theile in ihrer dank-
0007baren Bequemlichkeit für Sänger und Hörer, für Darstel-
0008lung und Auffassung. Ein tiefgefühltes oder auch nur leicht-
0009gefühltes Bedürfniß nach dieser seit dreißig Jahren hier von
0010Deutschen und Italienern sattsam vorgeführten Oper wäre
0011schwer zu behaupten. Was die Verlegenheit betrifft, so scheint
0012der Noth an guten Opern-Novitäten heute allerdings von
0013keiner Seite her Abhilfe zu winken. Aber eine gute deutsche
0014Oper, welche nicht größere Schwierigkeit verursacht und nicht
0015geringeren Erfolg verspricht, als Verdi’s „Ernani“, war doch
0016wol zu finden. So oft wir für die Berechtigung und Er-
0017sprießlichkeit einer kurzen italienischen Saison im Hof-
0018operntheater eingetreten sind, geschah es stets mit der aus-
0019drücklichen Reserve, daß unser deutsches Repertoire dann ganz
0020überwiegend deutschen und französischen Meistern gewahrt
0021bleibe. In jener Stagione mögen Rossini, Bellini, Donizetti,
0022Verdi, die ja zu vollständiger Wirkung italienische Worte und
0023italienische Kehlen brauchen, nach Herzenslust sich aussingen;
0024mit Beginn der deutschen Saison haben sie das Wort abzu-
0025treten. Darum können wir die Eile, mit der unmittelbar
0026nach Abzug der Italiener Verdi’s „Ernani“ deutsch studirt
0027und dem neuen Opernhause als erste Novität einverleibt
0028wurde, nicht gutheißen. Verdi hat man hier zwei Monate
0029lang vollauf gehört, und sehr gut gehört. Sollte es mit
0030Ernani“ etwa auf eine Demonstration, auf offenen Wettkampf
0031mit den Italienern auf deren eigenstem Boden abgesehen sein,
0032so wäre diese Tendenz noch mißlicher als die Wahl selbst.
0033Gewiß vermag heute keine zweite deutsche Bühne die Haupt
0034rollen im „Ernani“ so vorzüglich zu besetzen, wie das Hof-
0035operntheater; aber südlich Gluth und Lebendigkeit fehlen der
0036Vorstellung doch ohne Frage. Am vollständigsten befriedigte
0037Herr Müller in der Titelrolle. Seine glänzenden Stimm-
0038Mittel, erwärmt durch den Hauch des Gemüthes und veredelt
0039durch unablässig fortgesetztes Studium, stellen Müller zur
0040Stunde in die erste Reihe der deutschen Tenoristen. Vor
0041Allem Sänger und mehr musikalische als dramatische Natur,
0042findet Müller im bel canto der italienischen Oper die gün-
0043stigste Entfaltung für sein Talent. In diesen Tenorpartien,
0044welche allen Reiz verlieren, wenn sie mühsam und angestrengt
0045herausgepreßt werden, lauschen wir mit besonderem Behagen
0046der leicht, frei und kräftig anschlagenden Höhe von Müller’s
0047Bruststimme. Sein Ernani kann überall auf sicheren Erfolg
0048zählen, am meisten in allen zärtlichen, lyrischen Momenten,
0049wie in dem Andante der ersten Arie. Da vergaß man gerne,
0050daß ein Räuberhauptmann, sei es auch ein gründlich ver-
0051liebter, so gar schmachtend kaum singen dürfe. Von Herrn
0052v. Bignio war ein König Karl zu erwarten, der vornehme
0053Haltung mit maßvoller, warmer Empfindung vereinigt; der
0054Sänger erntete reichen Beifall, wenngleich für manche Kraftstellen
0055sein in der Höhe etwas angegriffenes Organ nicht ganz ausreichen
0056wollte. Frau Wilt erscheint durch ihre imposante Stimme und
0057kühne Bravour wie geschaffen für die Elvira. Sie entfesselte einen
0058Sturm von Beifall nach ihrer ersten Arie. Gleichwol konnten
0059wir gerade gegen diese Leistung manches Bedenken nicht
0060unterdrücken. Sie war ein kaltes, maßlos ausschweifendes
0061Kunststück, und wenn eine Leidenschaft daraus sprach, so ist
0062es nicht Liebe für Ernani, sondern Eifersucht gegen die Patti.
0063Frau Wilt wollte nicht auf ihrem eigensten, vollendet be-
0064herrschten Kunstgebiete glänzen, sondern durch Specialitäten,
0065in welchen die Patti durch ihre individuellsten Naturgaben
0066unübertroffen und unerreicht dasteht. Adelina Patti hat die
0067schwindelndsten Passagen dieser Arie mit einer spielenden
0068Leichtigkeit und einer in den Grenzen reinster Schönheit wal-
0069tenden Anmuth gesungen, welche nun einmal der Wilt ver-
0070sagt sind. Die Bravour der Patti hat dieses Effectstück 
0071idealisirt, die Bravour der Wilt materialisirt es. Die hohen
0072Staccatos der Patti waren springende Perlen, die der
0073Wilt glichen geschleuderten Spitzkugeln. Frau Wilt ließ
0074sich sogar zu der Geschmacklosigkeit verleiten, eine zum Grund-
0075ton herableitende Passage, welche nur ligato gedacht werden
0076kann, zu stakkiren. Die Gewalt, mit der sie wiederholt in die
0077dreigestrichene Octave einbrach, konnte man als Kraftprobe
0078bewundern, aber unmöglich schön finden. Wir preisen die
0079außerordentliche Kraft und Höhe von Frau Wilt’s Stimme;
0080überspannt sie aber diese Kraft und diese Höhe gewalt-
0081sam bis zu einem Punkt, der sie vom Singen
0082zum Schreien hinüberzwingt, dann fühlen wir uns
0083musikalisch verletzt und unsere bishin bewundernde Theil-
0084nahme erkaltet. Im Verlaufe der Oper erschien uns
0085Frau Wilt’s Vortrag viel künstlerischer, namentlich in den
0086Ensembles des zweiten und dritten Actes; dramatisch erhob
0087sie sich leider keinen Moment über die gewöhnlichste Schablone.
0088Minder reich bedacht, aber von einschneidender Wichtigkeit für
0089die Oper ist Don Gomez de Silva, der stets das ganze
0090Pfauenrad der romantischen Feudaltugenden schlägt, um
0091schließlich den armen Ernani mit einem bequemen Horn-
0092signal recht schuftig in den Tod zu blasen. Rokitansky 
0093wäre der rechte Bassist, als Silva das Quartett mit Müller,
0094Bignio und der Wilt zu vervollständigen. Herr Mayer-
0095hofer
sang die Partie sehr anständig, doch ohne Wirkung.
0096Stimme und Vortragsweise dieses feingebildeten Charakter-
0097spielers eignen sich wenig für den auf sinnlichen Wohlklang
0098angewiesenen breiten Fluß der italienischen Cantilene.


0099Eine zeitweilige Aushilfe wird die deutsche „Ernani“-
0100Vorstellung dem Hofoperntheater voraussichtlich leisten. An
0101effectvollen Nummern, an packenden Rhythmen und Melodien,
0102selbst an Blitzen eines ungewöhnlichen dramatischen Talentes
0103fehlt es nicht in dieser Oper, die obendrein in der modernen
0104Theater-Geschichte eine sehr markirte Stellung einnimmt.
0105Ernani“ hat zuerst den Ruf Verdi’s über die Grenzen
0106Italiens verbreitet und allenthalben fest begründet. Die
0107beiden früheren Opernerfolge dieses Componisten („Na[2]
0108bucco“ 1842, „I Lombardi“ 1843) wurden außerhalb
0109Italiens ignorirt; „Ernani“ selbst fand in Deutschland an-
0110fangs nur höhnische Mißbilligung. Verdi’sErnani“ er-
0111hält sich jetzt seit dreißig Jahren auf allen größeren Opern-
0112bühnen der Welt, während Victor Hugo’s gleichnamiges
0113Trauerspiel, welchem der Operntext getreu nachfolgt, längst
0114zur literar-historischen Curiosität geworden ist. Ein Beweis-
0115stück mehr dafür, daß die unmittelbare Macht des Compo-
0116nisten eine viel größere ist, als die des Dichters. Victor
0117Hugo’s Trauerspiel, mit all seiner revolutionären Genialität
0118hart an die Caricatur streifend, steckt so voll opernhafter
0119Züge, daß es die Musik fast magnetisch heranzieht. Verdi ist
0120nicht der Erste, der dies erfuhr. In einem Briefe von Bel-
0121lini
findet sich die interessante Mittheilung, er habe (vor
0122der „Sonnambula“) eine Oper „Ernani“ componirt. Diese
0123Oper — so erzählt Bellini — sei verboten und deßhalb nie
0124aufgeführt worden, habe ihm jedoch melodiöses Material für
0125die „Nachtwandlerin“ geliefert. Das Verbot galt schwerlich
0126dem Inhalte des Librettos; denn so mild ausgangslose Ver-
0127schwörungen, wie jene Ernani’s im Dom zu Aachen, mußten
0128selbst auf italienischen Bühnen für ungefährlich gelten. Ohne
0129Zweifel hatte Victor Hugo selbst im Interesse seiner Autor-
0130rechte das Verbot erwirkt, wie er später die Aufführung von
0131Donizetti’s „Lucrezia Borgia“, von Verdi’s „Rigoletto“ etc.
0132als unbefugte Bearbeitungen seiner Dramen zu verhindern
0133wußte. Interessant genug wäre ein von Bellini compo-
0134nirter „Ernani“; die Kluft zwischen seinem Styl und jenem
0135Verdi’s, eine Kluft, die gerade in Verdi’s „Ernani“ zum ersten-
0136male ganz entschieden und überraschend zu Tage kam, müßte durch
0137diese Vergleichung bis in die feinste Ritze klar werden. Ein „Er-
0138nani“, dessen Melodien für die schüchterne Amina und ihre idyllische
0139Umgebung benützt werden konnten — auch nicht übel! Das
0140zum mindesten läßt der Verdi’sche Räuberhauptmann sich
0141nicht nachsagen. Hat doch gerade er mit kecken Ungestüm
0142die rothe Fahne gegenüber den Vergißmeinnichtbeeten Bel-
0143lini’s aufgesteckt. Schon Donizetti ging an Schärfe der
0144Zeichnung und Lebhaftigkeit des Colorits sehr entschieden über 
0145Bellini hinaus. Völlig verdrängt erscheint Letzterer aber erst
0146durch Verdi, welcher durch seinen starken Alkohol den Ge-
0147schmack an Bellini’s schwachen, aromatischen Thee gründlich
0148verdorben hat. Bellini’s Opern begannen seit Verdi’s Auf-
0149treten allmälig zu verschwinden und gehören heute, trotz
0150ihrer für den Sänger so dankbaren Partien, fast zu den
0151Seltenheiten. Es ist eine merkwürdige Thatsache und unseres
0152Erinnern der erste Fall, daß eine zweimonatliche italienische
0153Saison im Hofoperntheater keine einzige Oper von Bel-
0154lini
brachte! Noch in den letzten Gastspielen der Patti im
0155Theater an der Wien kamen von Bellini die „Puritaner“ und
0156Sonnambula“ an die Reihe — beide mit einem Erfolg
0157unverholener Langweile. Niemand wird sich nach dem ein-
0158schläfernden Zuckerwasser dieser Partituren zurücksehnen, so
0159wenig wie nach der „Straniera“ oder dem „Piraten“. Ein
0160Anderes ist es mit „Norma“, dem weit hinausragenden
0161Höhenpunkte von Bellini’s Schaffen. Sie sollte unvergessen
0162bleiben und ihren sicheren Platz finden überall, wo tüchtige
0163italienische Sänger zusammenwirken. Es spricht für den edle-
0164ren künstlerischen Gehalt der „Norma“, daß gerade sie allein
0165von allen Bellini’schen Opern noch auf den deutschen Büh-
0166nen fortlebt.


0167Die deutsche Vorstellung des „Ernani“ im Hofopern-
0168theater, von Herrn Capellmeister Gericke dirigirt, verdient
0169in Bezug auf musikalische Präcision, auf Scenirung und
0170Ausstattung alles Lob. Der Chor griff im zweiten und dritten
0171Acte energisch ein, und zwar, wie uns schien, in deutscher
0172Sprache. Wir freuen uns dieses Glaubens im Interesse der
0173Spracheneinheit der Vorstellung. In den italienischen Auf-
0174führungen übte jedesmal das unerwartete deutsche Drein-
0175singen des Chors eine komische Wirkung. Seltsam genug:
0176wenn der Chor in deutschen Opern deutsch singt, so erräth
0177man regelmäßig nichts vom Text; er braucht aber nur mitten
0178unter Italienern seinen deutschen Mund zu öffnen, „Ja,
0179wir Zigeuner!“ oder dergleichen, und man versteht, ohne zu
0180wollen und zu wünschen, jedes Wort! Als unerwünschter
0181Nachklang der italienischen Saison machte sich im „Ernani“ 
0182die Unsitte des Hervorrufes bei offener Scene häufiger als
0183zuvor geltend. Es gehört zum Charakter der italienischen
0184Operngesellschaften, daß sie, als Gegenbild zu ihren großen
0185musikalischen Vorzügen, die naivste Nichtachtung des Dra-
0186matischen an den Tag legen. Bei den Künstlern der letzten
0187Wiener Stagione äußerte sich dieser Zug zunächst im Ver-
0188schmähen jeder charakteristischen Maske, sodann in dem lustigen
0189Zerreißen des dramatischen Zusammenhanges durch Hervorruf
0190bei offener Scene und Wiederholung einzelner applaudirter
0191Musikstücke. Es sind uns namentlich zwei Scenen unvergeßlich
0192wie sie in tragischen Situationen nicht komischer gedacht
0193werden können. Zunächst das Miserere im „Trovatore“,
0194während dessen Leonore an dem verschlossenen Thurm rüttelt,
0195in welchem, unsichtbar, der gefangene Manrico seine Romanze
0196mitsingt. Stürmischer Applaus, Leonore knixt dankend nach
0197allen Seiten, aber auch Manrico kommt ungenirt aus seinem
0198Kerker heraus, verbeugt sich, Leonore bei der Hand fassend,
0199vielemale und kehrt dann — quasi re bene gesta — wieder
0200in den Thurm zurück, an dessen Thüren nun Leonore (welche
0201das Stück repetiren muß) von neuem so trostlos rüttelt,
0202als hätte sie den theuren Tenor wochenlang nicht gesehen.
0203Eine zweite komische Episode spielte sich zwar nicht so aus-
0204führlich, aber desto überwältigender im vierten Act der
0205Afrikanerin“ ab. Capoul besingt als Vasco de Gama 
0206die Reize der tropischen Landschaft in einer Arie, bei deren
0207Schlußnote er sich bereits von den keulenschwingenden In-
0208dianern bedroht sieht. Ein unbegreifliches Versehen von
0209Meyerbeer, der sonst keinen Sänger zugleich um Leben und
0210Beifall bringt. Capoul wird nach seiner Arie anhaltend
0211applaudirt und macht lächelnd ein Dutzend dankende Ver-
0212beugungen, während die halbnackten Unholde die erhobenen
0213Keulen geduldig grinsend über seinem Kopf halten. Wir sind
0214neugierig, ob diese beiden gar nicht kostspieligen und doch
0215außerordentlich unterhaltenden Zwischenspiele auch in den
0216deutschen Aufführungen der „Afrikanerin“ und des „Trou-
0217badour“ vorkommen werden.