Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4258. Wien, Dienstag, den 4. Juli 1876
[1]Die Musik auf der Münchener Kunstausstellung.
München, Ende Juni.
0003Ed. H. Man kann in dem Münchener Glaspalast lange
0004genug unter Kunstgegenständen aller Art umherwandeln, ohne
0005auf etwas Musikalisches zu stoßen. Es sind überhaupt blos
0006drei Gattungen von Instrumenten hier vertreten, und diese
0007nur in wenigen Exemplaren: Claviere, Harmoniums und
0008Zithern. Das Meiste davon, unter Glas oder Sperre, bleibt
0009obendrein stumm. Während bei der Pariser, bei der
0010Wiener Weltausstellung der Lärm von unermüdlich probir-
0011ten Musik-Instrumenten uns bis in den Park, bis auf die
0012Straße verfolgte, hört man hier nicht Einen Ton. Als wäre
0013es von Haus aus durchdrungen von dem exclusiv malerischen
0014und plastischen Geist, welchem diese Ausstellung huldigt,
0015betrachtet das Münchener Publicum die vorhandenen Instru-
0016mente höchstens wie ein geschmackvolles Möbel, ohne die ge-
0017ringste musikalische Neugier. Die officielle Jury wird damit
0018auch nichts Anderes thun; sie darf die Instrumente nur auf
0019die schöne Form hin ansehen und prüfen, nicht auf den Ton.
0020Im Münchener Glaspalast entscheidet nur der wohlgestaltete
0021Leib, nicht die singende Seele des Instruments. Darum prä-
0022miirt auch dieselbe Jury, welche über die ausgestellten Möbel,
0023Teppiche, Glaswaaren richtet, die Musik-Instrumente, je nach
0024dem Styl und Geschmack ihrer äußeren Ausstattung. Ist das
0025möglich? so rief ungläubig, wo nicht gar entrüstet jede
0026musikalische Seele, die von dieser Entmusicirung und Möbel-
0027werdung der Instrumente in München zuerst hörte. Und doch
0028schwindet bei näherer Betrachtung unser Befremden und weicht
0029einem friedlichen Begreifen. In einer kunstgewerblichen Ausstel-
0030lung, welche ihrem Programme gemäß sich mit Musik gar nicht zu
0031befassen hat, kann ein Tonwerkzeug nur durch seine künst-
0032lerisch schöne Außenseite Bedeutung erlangen. Die ausnahms
0033weise Berechtigung auch dieses Standpunktes ist unter solchen
0034Prämissen kaum anzufechten, und ein interessantes Factum
0035in der Geschichte der Instrumenten-Fabrication bleibt es,
0036daß jener Standpunkt jetzt zum erstenmale von der Münchener
0037Ausstellungs-Jury eingenommen wird.
0038Wesentliche Fortschritte in der Schönheit der Form
0039kommen zunächst wol nur bei der Orgel, dem Clavier und
0040dem Harmonium in Betracht. Diese Instrumente gestatten
0041schon durch ihre räumliche Ausdehnung eine gewisse archi-
0042tektonische Schönheit und ornamentalen Schmuck. Es läßt
0043sich da künstlerischer Geschmack, Stylgefühl, ja erfinderischer
0044Geist bewähren. Ehemals war man entsetzlich gleichgiltig da-
0045gegen; kaum ein Vierteljahrhundert ist es her, daß die
0046Fabrikanten von Pianos und Harmoniums auch auf deren
0047geschmackvolle Außenseite einige Sorgfalt verwenden. Einzelne
0048luxuriös bemalte, vergoldete und ausgelegte Spinette aus dem
0049siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, wie deren das
0050Clapisson’sche Museum in Paris enthält, sind Aus-
0051nahmen, welche nur die Regel bestätigen. Und diese Regel
0052konnte man am besten bei der Wiener Weltausstellung in dem Pa-
0053villon für Geschichte der Musik-Instrumente kennen lernen.
0054Wie mitleiderregend blickten uns die Claviere von Haydn
0055und Mozart an, wie dürftig, schmuck- und schwunglos
0056jene Schubert’s und Beethoven’s! Eine abgehobelte Kiste,
0057ein flacher Sarg auf drei schmalen Beinen stehend oder viel-
0058mehr unaufhörlich wackelnd — das war das Aussehen der
0059älteren Flügel. Der Sinn für schönere Form regte sich zuerst
0060bei der Verfertigung von Pianinos und Harmoniums, welche,
0061durch ihre symmetrische und aufrechte Gestalt weit ästhetischer
0062und bildsamer als der langgestreckte Flügel, eine elegante
0063stattliche Façade gewähren. Aber auch diese beiden jüngsten
0064unter den Tasten-Instrumenten, das Pianino und das Har-
0065monium, traten noch durch geraume Zeit als sehr schmucklose
0066Vierecke in die Welt. Die Amerikaner machten zuerst Auf-
0067sehen durch die schöne Form, die Sculpturarbeit und reichere
0068Ornamentik ihrer Harmoniums, und zwar — was sehr
0069wichtig ist — nicht für exceptionelle Zwecke, sondern für den
0070gewöhnlichen Verkauf und zu billigen Preisen. (In Wien
0071kann man sich gegenwärtig von diesem Fortschritt an einer
0072Auswahl verschiedenartiger amerikanischer Harmoniums über-
0073zeugen, die in der Clavierhandlung des Herrn B. Kohn zu
0074sehen sind.) Daß man anfängt, auch bei Musik-Instru-
0075menten Werth auf die schöne Form zu legen, so
0076weit diese das Vorrecht des Tones nicht angreift,
0077verdient aufrichtiges Lob. Nur darf die decorative
0078Tendenz nicht überwuchern und im Gegensatz zur früheren
0079Kahlheit eine geschmacklose Ueberladung mit Farben, Schnitze-
0080reien und Ornamenten einreißen. Zwei bis drei warnende
0081Beispiele dieser Art stehen auch im Münchener Glaspalast;
0082unter Anderm ein schwerfällig barockes Pianino weiß und
0083blau, mit goldenen Engeln, Lyras und Kränzen — auf dem
0084ich mich nimmermehr entschließen könnte, eine Melodie von
0085Beethoven oder Weber zu spielen. Zum Glück sind die ge-
0086schmackvollen Formen in entschiedener Majorität, das Material
0087bei den meisten schwarzgebeiztes Birnbaumholz. Muster edelsten
0088Styles sind die von unserem Hansen entworfenen Zeich-
0089nungen zu zwei Pianinos von Fr. Ehrbar aus Wien.
0090Da, wie gesagt, nicht die musikalischen, sondern lediglich die
0091augenfälligen Vorzüge der Instrumente hier Berücksichtigung
0092finden, haben die wenigsten Aussteller daran gedacht, musika-
0093lische Fortschritte oder Verbesserungen vorzubringen; ja viele
0094der ausgestellten Instrumente sind nicht einmal eigens für
0095München gemacht worden, sondern gute Bekannte von früheren
0096Ausstellungen. An zwei Clavieren fanden wir eine Art „Er-
0097findung“ angebracht: an dem „Pianino-Melodikon“ des talent-
0098vollen und rührigen M. J. Schramm in München (eine Ver-
0099bindung von Clavier und Harmonium) dann in dem „Transponir-
0100Pianino“ von Hermann Wagner in Stuttgart. Das auf jeder
0101Ausstellung neu auftauchende Problem eines transponirenden
0102Apparates auf dem Clavier hat Niemand sinnreicher und [2]
0103einfacher gelöst, als August Wolff (Firma Pleyel) in Paris.
0104Mit dem Wolff’schen „Transpositeur“ ist der schwerfällige
0105Zahnrad- und Schlüssel-Apparat H. Wagner’s ebensowenig
0106zu vergleichen, wie andererseits Wolff’s kindischer Versuch
0107eines theilweisen „Prolongements“ mit der so vollkommen
0108geglückten Lösung dieses Problems durch Friedrich Ehrbar
0109in Wien. Ein mit dieser neuen Erfindung versehener Concert-
0110flügel von Ehrbar war hier durch einige Tage in einem
0111eigenen Saale ausgestellt, wo die Musiker Münchens, un-
0112beirrt durch den Ausstellungslärm, sie mit aller Muße
0113studiren konnten. Es freut uns, melden zu können, daß
0114Oesterreich, wie es überhaupt auf der Münchener Ausstel-
0115lung eine glänzende Rolle spielt, auch mit dieser neuesten
0116Leistung seiner Clavierbaukunst hier großes Aufsehen macht.
0117Die angesehensten musikalischen Autoritäten Münchens waren
0118stundenlang um dieses Prolongement-Clavier versammelt,
0119das Herr Ed. Kremser so trefflich zu spielen und zu
0120erklären verstand — eine Art freiwilliger, nichtofficieller Jury,
0121welche das Musikalische des Instruments prüfte und
0122ihrer unbedingten Anerkennung dieser Erfindung auch in
0123einer höchst ehrenvollen Adresse an Ehrbar Ausdruck lieh.
0124Außer einigen Clavieren und Harmoniums sind, wie
0125erwähnt, mehrere schön ausgelegte Zithern ausgestellt, eine
0126Specialität Bayerns, das hierin auch musikalisch seine Stamm-
0127verwandtschaft mit Oesterreich darthut. Kein anderes Instru-
0128ment wird in Bayern durch eine Firma repräsentirt, welche
0129mehr als blos locales Renommée besäße. Dafür besitzt
0130Bayern in dem Marktflecken Mittenwalde einen ganzen Ort,
0131der von lauter Instrumentenmachern bewohnt ist. Ein ähn-
0132licher Industriebezirk wie das sächsische Markneukirchen, das
0133böhmische Graslitz — in allen Familien wird da an den
0134verschiedenen Bestandtheilen der Instrumente gearbeitet, von
0135Männern, Weibern und Kindern. Mittenwalde ist durch die
0136Massenhaftigkeit seiner Production und durch großen Export
0137wichtig. Das Aufblühen von Mittenwalde, das in seiner
0138Geigen-Fabrication sogar das größere Markneukirchen lange
0139überflügelt hatte, ist größtentheils Verdienst der bayrischen
0140Regierung. Der verstorbene König Max gründete dort eine
0141Geigenmacher-Schule und kaufte für dieselbe Instrumente der
0142besten italienischen und Tiroler Meister (Stradivari, Maggini,
0143N. Amati, Guarneri, Jacob Stainer). Von einem besonders
0144dazu angestellten Lehrer werden die angehenden Geigenmacher
0145auf alle Vorzüge dieser Meister aufmerksam gemacht und
0146daran unterrichtet. Zu Gunsten der Mittenwalder erschien
0147eine königliche Verordnung, daß Bäume, die sich zur Instru-
0148menten-Fabrication besonders eignen, den Instrumentenmachern
0149von den Eigenthümern käuflich überlassen werden müssen. Wenn
0150also ein Geigenmacher einen ihm passenden Baum im Staats-
0151oder Privatwalde findet, so muß ihm derselbe auf Wunsch
0152zu dem von einem königlichen Förster angegebenen Taxwerth
0153überlassen werden. In der Münchener Ausstellung ist Mit-
0154tenwalde nicht vertreten. Was sollten auch vor einer Jury,
0155die nur Neuheit und Eleganz der Formen berücksichtigt, die
0156Geigen und Cellos, Oboën und Flöten? Die Orchester-
0157Instrumente sind schon durch ihr verhältnißmäßig kleines
0158Format und durch ihre mit der Klangschönheit eng zusam-
0159menhängende stereotype Form ungeeignet, mit Clavieren und
0160Harmoniums bezüglich der äußeren Ausstattung zu concur-
0161riren. Man schätzt an der Geige lediglich den schönsten Ton,
0162bei größter Einfachheit der seit Jahrhunderten stereotypen
0163Form. Eine sehr zierliche Ausstattung wendete man ehemals
0164an die kleinen Discant- oder Tanzmeistergeigen; die schönsten
0165eingelegten Arbeiten von Elfenbein, Ebenholz und Perlmutter
0166auf die Lauten und Mandolinen. Diese Instrumente sind
0167außer Gebrauch, aber ihre Pracht-Exemplare werden stets zu
0168den reizendsten Producten des Kunstfleißes gehören. Und
0169darum hätten sie auf der Münchener Ausstellung nicht gänz-
0170lich fehlen dürfen. „Die Werke unserer Väter“,
0171so lautet die Aufschrift über einer eigenen historischen Abthei-
0172lung im Glaspalast, welche ältere Kunstgegenstände deutscher
0173Herkunft in ziemlich bunter Reihe aufnimmt. Hier war der
0174Ort auch für ältere Musik-Instrumente von künstlerisch schöner
0175Form und reicherer Ausarbeitung. Dieser Zweig hätte wenigstens
0176nicht ganz unvertreten bleiben sollen. Freilich ein fruchtbrin-
0177gendes Studium in solchem Fache ist ohne systematische An-
0178ordnung und eine gewisse Vollständigkeit nicht erreichbar —
0179wem es mehr um Belehrung als um Schaulust zu thun
0180ist, der wird deßhalb einen Gang ins National-Museum
0181vorziehen. Dieses bayrische National-Museum in der Maxi-
0182miliansstraße, eines der herrlichsten Institute des neuen
0183München, legt uns „die Werke unserer Väter“ in allen
0184Theilen des Kunsthandwerkes in schönster systematischer An-
0185ordnung vor Augen. Wir sehen da eine Geschichte des Costüms
0186durch eine Reihe von Gemächern leibhaftig ausgehängt; wir
0187verfolgen durch eine andere Zimmerreihe die Entwicklung der
0188Waffen-Fabrication, der Kunstschlosserei, Kunsttischlerei, der
0189Textil-Industrie, endlich im letzten Zimmer eine kleine Samm-
0190lung alter Musik-Instrumente. Es ist nur ein bescheidener
0191Anfang, aber doch ein Anfang; er wird, vom Patriotismus
0192der Privaten unterstützt, seine Fortsetzung finden und mit
0193der Zeit eine Geschichte des Instrumentenbaues in Deutsch-
0194land illustriren. Der Schmerz darüber, daß wir in Wien
0195das unvergleichliche, nie wieder zusammenkommende Material
0196der „Historischen Ausstellung“ von 1873 in alle Winde zer-
0197stieben ließen, erwachte hier wieder lebhaft in mir. Welche
0198Geschichte des Clavierbaues in Oesterreich hatten wir da in
0199Einem Pavillon beisammen, und zugleich welche Reliquien
0200unserer großen Tonmeister! Um billige Preise, von manchem
0201Eigenthümer umsonst, hätte die Regierung diese alten Instru-
0202mente erhalten, wenn sie die Gründung eines kunsthistorischen
0203vaterländischen Museums damit bezweckt und begonnen hätte!
0204Von alten Instrumenten enthält die Münchener Aus-
0205stellung nichts als einen Stuttgarter Flügel von dem Grün-
0206der des Hauses Schiedmayer. Diese Reliquie steht neben
0207den neuen Instrumenten der Enkel und Urenkel Schied-
0208mayer’s (wohin sie, streng genommen, nicht gehört) lehrreich
0209genug; ein kahles Bauernhaus neben einer prächtigen mo-
0210dernen Villa.