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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4265. Wien, Dienstag, den 11. Juli 1876

[1]

Musik.

(Hofoperntheater. — Opernschule.)


0003Ed. H. Mit lobenswerther Raschheit, hart vor ihrem
0004sommerlichen Thorschluß hat die Hofopern-Direction zwei
0005ältere Opern scenirt, beide dem komischen Genre angehörend:
0006Des Teufels Antheil“, von Auber, und Donizetti’s 
0007Liebestrank“. Einen durchschlagenden Erfolg errang keine
0008von beiden, eine freundliche Aufnahme die eine wie die an-
0009dere. Wie vorauszusehen, hat übrigens die Donizetti’sche Oper
0010hier sympathischer angesprochen, als die von Auber. Italie-
0011nische Cantilene, zarte Lyrik sagen unseren Opernsängern
0012noch immer mehr zu, als der geistreich prickelnde Conversa-
0013tionsstyl Auber’s, dessen Opern überdies Gewandtheit im
0014Dialog erheischen. In den italienischen Opern fehlt diese
0015Klippe der gesprochenen Prosa. Auch im Einzelnen erfuhr der
0016Liebestrank“ eine glücklichere Wiedergabe, als „Des Teufels
0017Antheil“. Herr Scaria, als schwermüthiger König so ganz
0018und gar nicht an seinem Platze, war es vollständig als
0019Dulcamara, und während Herr Walter der brillanten Lust-
0020spielfigur des jungen Rafael d’Estuniga nur sehr matten
0021Glanz verlieh, erwies der gutmüthige Nemorino sich wie ge-
0022schaffen für Herrn Müller. Um beim „Liebestrank“ zu
0023bleiben: es wird die beste deutsche Aufführung dieser Oper
0024eine gute italienische nie erreichen; zu schwerflüssig rollt die
0025deutsche Zunge und das deutsche Blut. Das unvergeßliche
0026Musterbild eines italienischen „Elisir d’amore“ mit Calzo-
0027lari
, Everardi, Zucchini und der Artôt umschwebte
0028uns gestern wie ein entschwundener schöner Traum. Am
0029nächsten dem italienischen Vorbild kam Herr Müller als
0030Nemorino. Die Partie liegt seiner Stimme sehr günstig und
0031bewegt sich dramatisch auf einem Empfindungs-Niveau,
0032das Herr Müller wahr und natürlich beherrscht.
0033Neben dem Sentimentalen, das Herr Müller niemals ins
0034Tragische überschlagen ließ, brachte er auch das komische
0035Element der Rolle überraschend gut zur Geltung. Seine 
0036Romanze: „Una furtiva lagrima“ fand rauschenden Bei-
0037fall, sie sprach uns warm und überzeugend an, wie die ganze
0038Leistung. Herrn Scaria’s Dulcamara haben wir bereits
0039lobend genannt; es harren dieses Sängers noch manche un-
0040berührte Erfolge, wenn er sein Buffo-Talent systematisch
0041ausbildet. Für den Dulcamara besitzt er die Stimme und
0042Persönlichkeit, deutliche Aussprache und Grandezza, es fehlt
0043nur an munterer Beweglichkeit, zumal in den raschen Par-
0044landosätzen, und an frischer, unmittelbarer Komik. Herr
0045v. Bignio begann den Sergeant Belcore, dem bei aller
0046Courtoisie ein stark soldatischer Anflug nicht fehlen darf, zu
0047weich und geziert; im Verlaufe wurde er bald heimisch in
0048der Rolle, welche ja seiner Persönlichkeit vortrefflich zusagt.
0049Fräulein Tagliana gab die Adina mit vielem Beifalle.
0050Was ihr in dieser Oper vor deutschen Colleginnen zu statten
0051kommt, ist ihre Nationalität. Als echter Italienerin ist ihr
0052eine beredte Mimik angeboren, welche bei aller Beweglichkeit
0053stets natürlich und graziös bleibt. Reizend in Spiel und Er-
0054scheinung, correct und anmuthig im Vortrage der leicht hin-
0055gaukelnden Allegrosätze, ließ Fräulein Tagliana nur Eines
0056vermissen, was gerade in der italienischen Cantilene, dieser
0057Verkörperung des Wohlklanges und der Fülle, überaus wich-
0058tig ist: Wohlklang und Fülle des Tones. Unpassend und
0059überflüssig dünkt es uns selbst, engagirten Mitgliedern
0060bei jeder Rolle neuerdings vorzuhalten, was ihnen
0061nun einmal die Natur versagt hat — aber so wie
0062bei jeder Spieloper im neuen Hause dem Kritiker leicht der
0063stereotype Seufzer über die Unzweckmäßigkeit dieses Theaters
0064entschlüpft, so vermag er auch zeitweilig das Bedauern über
0065das Unzureichende eines kleinen Stimmchens in diesem Hause
0066nicht zu unterdrücken. Es ist kein kleines Compliment, wenn
0067wir Fräulein Tagliana unter den Sängerinnen eine ähnliche
0068Stelle anweisen, wie dem „Liebestrank“ oder dem „Antheil
0069des Teufels“ unter den Opern; aber alle drei, die beiden
0070Opern und die Sängerin, bedürfen, wie wir uns eben jetzt
0071wieder überzeugt haben, eines kleineren Theaters. Da wir
0072dieses kleinere Theater, da wir eine eigene Komische Oper
0073nicht besitzen, so müssen wir trotz alledem dankbar sein, 
0074wenn wir Werke wie den „Liebestrank“ im Hofoperntheater
0075zu hören bekommen. In Opern wie dieser „Liebestrank“
0076tritt Alles, was an der italienischen Musik eigenthümlich und
0077liebenswerth ist, uns unbeirrt entgegen. Wie süß, gesangvoll
0078und in der Hauptsache auch immer dramatisch sind diese
0079Melodien, diese Scenen! Ein natürliches Ebenmaß, wie es
0080nur der italienischen Musik eigen, verbindet sich hier mit rei-
0081zender Frische und einer fast genial zu nennenden Leichtig-
0082keit. Ungemein hübsch contrastirt das idyllische Element in
0083Liebestrank“ mit dem soldatischen, und diese beiden wieder
0084gegen ihre gemeinsame köstliche Folie, den alten Charlatan.
0085Ohne Frage der Höhepunkt von Donizetti’s Schaffen, be-
0086zeichnet „L’Elisir“ gemeinschaftlich mit „Don Pasquale“ zu-
0087gleich den Höhepunkt der nach-Rossini’schen Opera buffa.
0088Welcher Abstand zwischen diesen heiteren Singspielen, worin
0089Donizetti’s munteres, bewegliches Talent seine duftigsten
0090Blüthen trieb, und dem halb langweiligen, halb trivialen
0091Pathos seiner „lyrischen Tragödien“! Im „Liebestrank“ ist
0092Alles natürlich, genügsam, lebensfroh. Die Lebendigkeit stei-
0093gert sich nicht selten zum Glänzenden, die Weichheit zur
0094herzlichen Empfindung; selbst das „Gewöhnliche“, so läh-
0095mend in heroischen und tragischen Opern, erscheint hier
0096„freundlich“ in der milderen Beleuchtung des Alltagslebens.
0097Ein Freund Mendelssohn’s, Chorley, erzählte einmal im
0098Musical World, wie eines Tages in London ein Kreis von
0099„gelehrten“ Componisten und Musikkennern den „Liebestrank“
0100in gründlicher Entrüstung verurtheilte, wie Mendelssohn an-
0101fangs stumm und unruhig sich auf seinem Sessel hin- und
0102herbewegte und schließlich, um sein Votum gedrängt, aus-
0103rief: „Ich weiß nur, meine gelehrten Herren, daß ich
0104sehr froh wäre, hätte ich den „Liebestrank“ componirt!“


0105Nach dem „Liebestrank“ wurde im Orchester Richard
0106Wagner’s neuer Festmarsch (componirt zur Eröffnung
0107der Weltausstellung in Philadelphia) gespielt. Schwerlich
0108würde darüber Mendelssohn dieselbe Aeußerung wie über den
0109Liebestrank“ gethan haben, eher die entgegengesetzte. Daß
0110Wagner einen glänzenden Marsch zu schreiben weiß oder
0111wenigstens in seiner früheren Stylperiode zu schreiben wußte, [2]
0112das hat er im „Tannhäuser“ und „Rienzi“ bewiesen. Ganz
0113verschieden davon, im Styl des „Tristan“ und der „Walküre“,
0114bewegen sich die beiden späteren Huldigungsmärsche Wag-
0115ner’s an den König Ludwig von Bayern und an Kaiser
0116Wilhelm, Compositionen, welche selbst von seinen wärmsten
0117Anhängern schwer verdaut werden. Immerhin stehen sie beide
0118an Erfindung und Ausführung noch hoch über dem neuen
0119Festmarsch, der, unsäglich prätentiös, durch seine Länge und
0120instrumentale Ueberladung, doch selbst bescheidenen musikali-
0121schen Ansprüchen nicht gerecht wird. Diese Abwesenheit jeder
0122originellen Erfindung, jeder gesunden, zusammenhängenden
0123Melodie hat etwas Grauenhaftes. Ein raffinirtes Bröckel-
0124werk kleiner, unaufhörlich wiederholter, in allen Instrumenten
0125herumgezerrter Motivchen; die schreckliche Allgegenwart einer
0126gehämmerten Triole, die uns einen musikalischen Haupt-
0127gedanken ersetzen soll; ein Orcan losgelassener Instru-
0128mente — das Alles täuscht doch keinen Augenblick über
0129die innere Dürftigkeit dieser Composition. Rhythmisch
0130ganz monoton und melodisch reizlos, schiebt sie sich
0131wie eine leblose, schwere Masse unförmlich weiter.
0132Auffallend ist ein Charakterzug, welchen dieser amerikanische
0133Festmarsch mit den zwei früher genannten gemein hat: die
0134zerflossene Weichlichkeit und nervöse Sentimentalität, nament-
0135lich in dem B-dur-Mittelsatz, in dem all das chromatische
0136Liebesstammeln, die Verzücktheit und Aufgelöstheit walten, die
0137wir aus dem Vorspiel von „Tristan und Isolde“ kennen.
0138An „Tristan“ erinnert auch die über immer dichter zusam-
0139menrückenden Dissonanzen und Vorhälten sich endlos hinaus-
0140dehnende Steigerung, die schließlich unter dem Fortissimo
0141aller Posaunen und Lärm-Instrumente platzt, wenn die Ner-
0142venqual ihren Höhepunkt erreicht hat. Diese stöhnende Exal-
0143tation in einem „Festmarsch“ wiederzufinden, wird Ameri-
0144kaner und Europäer gleichmäßig betroffen machen, klingt das
0145doch mitunter, als sollte Philadelphia sammt der Weltaus-
0146stellung nicht begrüßt, sondern kläglich zu Grabe geleitet wer-
0147den. Dem „Festmarsch“, den das Hofopern-Orchester unter
0148Herrn Gericke’s Leitung virtuos ausführte, antwortete
0149ein gekünstelter, sich mühsam stimulirender Applaus; hätte die 
0150Composition aufrichtig gefallen, das Da capo würde nicht
0151ausgeblieben sein.


0152Das Publicum, welches sich trotz des heißen Juli-
0153Abends zahlreich eingefunden hatte, erhielt nach der Oper
0154und dem Marsch schließlich noch ein getanztes Dessert: das
0155einactige, in seiner anspruchslosen Komik sehr ergötzliche
0156Ballet-Divertissement: „Die Tänzerin auf Reisen“.
0157Das Drollige der Situationen (eine reisende Tänzerin und
0158ihr furchtsamer Begleiter müssen im Walde den Räubern
0159vortanzen) wurde von Fräulein Linda und Herrn Price 
0160mit Humor aufgefaßt und virtuos herausgearbeitet.


0161Aus der letzten, bereits etwas schweißtriefenden Periode
0162des Hofoperntheaters wäre noch die Acquisition zweier jün-
0163gerer Kräfte zu melden, welche sich bald nützlich in das
0164Ensemble einfügen dürften. Zuerst Herr Alexy aus
0165Braunschweig, dessen markige schwarze Baßstimme an
0166Dr. Krauß erinnert und den er sich im Punkte künstlerischer
0167Mäßigung auch zum Vorbild nehmen möge, denn bei einigem
0168Forciren bekommt die Stimme des Herrn Alexy einen un-
0169willkommen starren Ausdruck. Herr Alexy zeigte sich als
0170Valentin im „Faust“ und als Luna im „Troubadour“ recht
0171tüchtig und erhielt Beifall. Das zweite neue Mitglied,
0172Fräulein Zulifay, hat als Siebel im „Faust“ weniger
0173befriedigt. Ausgestattet mit Jugend, Stimme und redlichem
0174Eifer, wird diese Anfängerin, über deren Talent wir aller-
0175dings noch kein Urtheil haben, ohne Zweifel bald vorwärts
0176schreiten; sie hat als Gemmy im „Tell“ auch freundliches
0177Entgegenkommen gefunden. Ihrem Siebel müssen wir
0178Sünden gegen die Intonation und gegen die dramatische
0179Auffassung vorwerfen. Mädchenhaftes Spiel und Aussehen
0180ist allerdings der gewöhnlichste Fehler fast aller Siebel-
0181Sängerinnen; aber gar so ängstlich herumflatternd, so hilflos
0182zwitschernd, wie ein nasses Vögelchen, haben wir den wackeren
0183Beschützer Margarethens noch nicht sich gebahren sehen.
0184Durch die ganzen letzten sechs Wochen zog sich das nicht
0185enthusiastisch, aber sehr freundlich aufgenommene Gastspiel
0186der Sängerinnen Burenne und Bretfeld. Sie halfen
0187der Direction aus der argen Verlegenheit, gleichzeitig zwei 
0188erkrankte Primadonnen (Dillner und Kupfer) und eine
0189beurlaubte (Ehnn) entbehren zu müssen. Sängerkrankheiten,
0190interessante wie uninteressante, wird die Direction auch künftig
0191müssen über sich ergehen lassen, aber hoffentlich nie wieder
0192einen Contract, welcher ein so hochbezahltes Mitglied wie
0193Frau Ehnn berechtigt, volle sechs Monate auf Reisen zu
0194sein. In wenigen Tagen schließen sich die Pforten des Hof-
0195operntheaters für fünf Wochen. Hoffen wir, daß die wieder-
0196geöffneten uns zu genußreichen Abenden, welche nicht blos
0197Gutes, sondern auch Neues bringen, fröhlich versammeln
0198werden. Möge auch die Kunde von zahlreichen, durch Director
0199Jauner zur Aufführung angenommenen Opern-Novitäten sich
0200erwahren, soweit diese wirklich durch inneren Werth und
0201nicht blos aus freundlichen Rücksichten für solche Auszeichnung
0202vorgemerkt sind.


0203Am letzten Samstag schloß das Conservatorium 
0204sein Schuljahr mit der alljährlichen dramatischen Production
0205der Opernschüler. Frau v. Marchesi, Director Hellmes-
0206berger
und Professor Leo Friedrich hatten in ihrem
0207rühmenswerthen Eifer für die mühsame Vorbereitung der
0208Productionen auch diesmal nicht nachgelassen. Mit Recht
0209war dieser kleinen Bühnen-Aufführung strenger als bis-
0210her der Charakter einer Prüfung gewahrt, der Eintritt
0211unentgeltlich, das Hervorrufen der Schüler verbeten. Die
0212Kritik hat Anfängern gegenüber eine schwierige Stellung:
0213sie muß die Wahrheit in Ehren und zugleich zwischen ver-
0214blendendem Lob und einschüchternder Strenge die Mitte hal-
0215ten. Ungewöhnliche Talente, in denen alle Elemente des
0216Erfolges, Stimme und Persönlichkeit, dramatische und musi-
0217kalische Begabung, vereinigt wären, wenn auch nur in der
0218Knospe, traten diesmal nicht vor die Lampen. Man mußte
0219sich begnügen, wenn eine oder einige dieser Eigenschaften in
0220bemerkenswerthem Grade auftauchten. Dem Publicum bereits
0221vortheilhaft bekannt ist Fräulein Anna Riegl, welche die
0222Bravour-Arie der Prinzessin aus den „Hugenotten“ mit
0223Geschmack und Geläufigkeit sang; der leidende, müde Aus-
0224druck ihrer Stimme, verstärkt durch die unverändert vorge-
0225bückte Haltung, scheint um Schonung und Ruhe zu bitten. [3]
0226Fräulein Leeder ist ein Bild lachender Jugend und Ge-
0227sundheit. Die Sicherheit, mit welcher sie die letzte Scene aus
0228Donizetti’s „Favorite“ sang und spielte, zeugte von großen
0229Fortschritten seit ihrem letzten Auftreten. Allein dieser
0230Sterbegesang eines brechenden Herzens, das noch ein-
0231mal in dem Brande von Liebe, Hoffnung und Verzweif-
0232lung aufzuckt, ist keine Aufgabe für eine Anfängerin.
0233Um das überzeugend darzustellen, wird Fräulein Leeder noch
0234viel lernen müssen, vorausgesetzt, daß sie überhaupt besitzt,
0235was sich nicht erlernen läßt: Innigkeit und Leidenschaft. Oft
0236schien es, als arbeite das junge Mädchen nur äußerlich mit
0237tragischen Mienen und klagenden Accenten, zwischen welchen
0238manchmal ein verstecktes Lächeln aufzublitzen drohte. Es war
0239dies nicht der einzige Fall an diesem Abend, daß die vom
0240Director oder den Lehrern gewählten Stücke schlechterdings
0241mit der Individualität des Schülers nicht harmonirten. So
0242folgte auf die Verzweiflungs- und Sterbescene des lustigen
0243Wiener Kindes eine übermüthig neckische Scene aus „Don
0244Pasquale“, dargestellt von einer sehr ernsthaften Engländerin,
0245welche verzweifelte Anstrengungen machte, nur halbwegs mun-
0246ter und kokett auszusehen. Der silberhelle und bereits tüchtig
0247geschulte Sopran von Fräulein Harriet Schell konnte in
0248einer ruhigen, ernsthaften Arie mit ganz anderm Erfolg
0249producirt werden. Besser eignete sich für die klangvolle
0250Stimme und das ziemlich bewegte Spiel von Fräulein
0251Kaulich die Arie der Amelie aus dem dritten Acte von Verdi’s
0252Ballo in maschera“; zu einem tieferen Eindruck kam es
0253aber doch nicht, dazu fehlte es an Poesie und Wahrheit der
0254Empfindung. Dieser Mangel — für uns der empfindlichste —
0255lag überhaupt wie Mehlthau auf den musikalischen Blüthen
0256dieses Abends. Die entschiedenste Begabung müssen wir ohne-
0257weiters Fräulein Baier nachrühmen, deren Talent durch
0258die glückliche Wahl einer Scene aus „Carmen“ auch in das
0259rechte Licht gerückt war. Da pulsirte wirkliches dramatisches
0260Leben, nicht copirt, sondern von Innen heraus, Alles indivi-
0261duell angeschaut und empfunden. Durch ihre bescheidenen Stimm-
0262Mittel, selbst durch die eigenthümliche Schärfe ihrer Mimik
0263dürfte Fräulein Baier auf ein enges Feld beschränkt bleiben;
0264in dramatischen Aufgaben wie diese „Carmen“ vermag sie schon 
0265durch ihr Spiel allein zu fesseln. Von allen Leistungen des Abends
0266war die Fräulein Baier’s jedenfalls die einzige, die nicht blos
0267interessirte, sondern durch einen starken Zug von Geist und Origi-
0268nalität imponiren konnte. Eine schwächere, bürgerliche Aus-
0269gabe von Fräulein Baier ist die Soubrette Fräulein Racher,
0270die als Rose Friquet (erster Act aus dem „Glöckchen des
0271Eremiten“) ein artiges Spieltalent bei übrigens bescheidenen
0272Mitteln an den Tag legte. Von den Herren der Opern-
0273schule ist an erster — fast an einziger — Stelle Herr
0274Zobel zu nennen. Den günstigen Eindruck seiner sonoren,
0275kräftigen, etwas dunkelgefärbten Tenorstimme unterstützt eine
0276stattliche Bühnenfigur und eine ruhige, ernsthafte Haltung.
0277In Spiel und Gesang noch Anfänger, gewann doch Herr
0278Zobel in der Schlußscene Fernando’s („La Favorite“) schnell
0279die Sympathien des Publicums, das in ihm vertrauensvoll
0280den künftigen Künstler begrüßte. Wir sahen und hörten noch
0281eine Reihe von jungen Herren und Damen, von denen einige
0282uns vergeblich nachsinnen ließen, warum sie gerade den Beruf
0283von Opernsängern ergriffen haben. Wir fürchten, daß
0284manche von diesen Opernschülern, die jetzt Zeit, Geld und
0285Gemüthsruhe opfern, um sich auf dem Theater eine glän-
0286zende oder wenigstens sorgenfreie Existenz zu schaffen, in
0287dieser Hoffnung werden getäuscht werden. Es ist verzeihlich,
0288sich über sein eigenes Aussehen, über seine eigene Stimme
0289und Begabung zu täuschen. Solcher Irrthum sollte aber
0290sein unerbittliches Correctiv in der Abmahnung der Vorge-
0291setzten finden, in dem Rathe des Lehrers, lieber eine andere
0292Laufbahn zu wählen. Junge Leute, die auf den ersten Blick
0293als hoffnungslos für die Opernbühne erscheinen, gehen dort
0294einer freudlosen Zukunft entgegen, wenn man sie bei dem
0295Glauben läßt, man könne bei den bedenklichsten Passiven an
0296Stimme, Wohlgestalt und Talent blos durch Fleiß und
0297Courage eine glänzende Theater-Carrière erringen. Das
0298Lampenlicht der Bühne versengt genug der unvorsichtigen
0299Schmetterlinge, die im Bureau, in der Wechselstube, im
0300Mädchen-Pensionat, selbst in der Herrschaftsküche eine lohnen-
0301dere Existenz gefunden hätten. Es scheint uns eine Ge-
0302wissenspflicht der Lehrer, solchen Illusionen lieber ein Ende
0303mit Schrecken zu bereiten, als einen Schrecken ohne Ende.