Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4298. Wien, Sonntag, den 13. August 1876
[1]R. Wagner’s Bühnenfestspiel in Bayreuth.
1. Die Dichtung.
0003Ed. H. Der August dieses Jahres wird kurzweg der
0004Wagner-Monat heißen dürfen. Was jetzt schon an vorberei-
0005tenden Broschüren, Büchern, Zeitungsartikeln über Wagner’s
0006„Nibelungenring“ erschienen ist, bildet eine kleine Bibliothek,
0007welche nach der Aufführung vollends zu einer großen an-
0008schwellen dürfte. Manchen Lesern wird das zu viel sein,
0009anderen noch zu wenig. Unbestreitbar bleibt, daß wir vor
0010einem in seiner Anlage und seinen Dimensionen großartigen
0011und ganz ungewöhnlichen theatralischen Ereignisse stehen. Ja
0012mehr noch: ein culturgeschichtlich merkwürdiges Ereigniß ist
0013dieses durch vier Abende spielende Musikdrama, die Erbauung
0014eines eigenen Theaters dafür und der tausendköpfige Wan-
0015derzug aus halb Europa nach einem abgelegenen, halbver-
0016schollenen Städtchen, dessen Name nunmehr unvertilgbar in
0017der Kunstgeschichte festsitzt. Mag das Werk selbst die Erwar-
0018tungen der Bayreuth-Pilger mehr oder minder erfüllen, in
0019Einem werden sie Alle zusammentreffen, in der Bewunderung
0020der außerordentlichen Begabung, Energie, Arbeits- und Agita-
0021tionskraft des Mannes, welcher jenes Ereigniß selbstständig
0022ins Leben gerufen und durchgeführt hat.
0023„Der Ring des Nibelungen“ ist die Arbeit
0024von fast fünfundzwanzig Jahren, eine Arbeit, zu welcher
0025Wagner nach jeder Unterbrechung („Tristan“, „Meister-
0026singer“) mit verdoppelter Liebe zurückkehrte. Zuerst trieb ihn
0027der patriotische Enthusiasmus des Jahres 1848, den Kaiser
0028Barbarossa aus dem Kyffhäuser zu erwecken; die Studien,
0029die Wagner behufs der dramatischen Bearbeitung dieser Sage
0030unternahm, führten ihn immer tiefer in die deutsche Sagen-
0031welt. Da fesselte ihn die Heldengestalt des jugendlichen
0032Drachentödters Siegfried so mächtig, daß der alte Rothbart
0033weichen mußte. Noch im Jahre 1848 skizzirte Wagner den
0034Entwurf eines Nibelungen-Dramas, und bald darauf ging
0035er an die Ausarbeitung von „Siegfried’s Tod“. Der Erfolg
0036des „Lohengrin“ in Weimar belebt Wagner’s Muth und
0037Arbeitslust, er versenkt sich neuerdings in die Nibelungen-
0038Sage. Im Jahre 1853 vollendet er die aus vier selbst-
0039ständigen Dramen bestehende Dichtung: „Der Ring des
0040Nibelungen“ und beginnt noch im selben Jahre die musika-
0041lische Composition derselben. Zweiundzwanzig Jahre später,
0042im Sommer 1875, leitet er die ersten Proben in Bayreuth.
0043Von dort werden wir allernächstens über das Werk selbst
0044unter dem unmittelbaren Eindrucke seiner Aufführung be-
0045richten; vorher dürfte unseren Lesern eine orientirende Vor-
0046bemerkung über die Dichtung, abgesehen von der Musik,
0047nicht unwillkommen sein.
*)
0051Also der poetische Stoff R. Wagner’s ist die Ni-
0052belungen-Sage. Das ist schneller gesagt, als verstanden.
0053Denn diese Sage oder dieser Sagenkreis hat in verschiedenen,
0054weit auseinanderliegenden Zeiten und Ländern verschiedene
0055Gestalt angenommen und liegt in sehr abweichenden Fassungen
0056vor. Es ist genugsam beklagt und uns bis zur Ungerechtig-
0057keit vorgeworfen worden, daß den Deutschen die römische und
0058griechische Mythologie geläufiger ist, als die altgermanische.
0059Die rühmlichen Anstrengungen von Sprachgelehrten, Historikern
0060und Dichtern in den letzten Decennien konnten dem nur all-
0061mälig und theilweise abhelfen. Das größere Publicum ist
0062indessen mit der Nibelungen-Sage namentlich durch drei Schau-
0063spiele vertrauter geworden: durch Raupach’s „Nibelungen-
0064hort“, Geibel’s „Brunhilde“ und Hebbel’s „Nibelungen“.
0065Wer in Wagner’s „Bühnenfestspiel“ dieselbe Handlung
0066voraussetzt, verfällt bereits in den ersten Irrthum. Schon
0067die Bezeichnung „Nibelungen“ bedeutet bei ihm etwas An-
0068deres. In dem deutschen Heldengedicht heißen „Nibelungen“
0069sowol die Zwerge (Niflungen), als auch die Burgunden, und
0070nur Letztere sind gemeint, wenn von „Nibelungenlied“, von
0071„Nibelungennoth“, von „der Nibelungen Rache“ gesprochen
0072wird. In diesem Sinne brauchen unsere modernen Dichter
0073das Wort. Wagner hingegen beschränkt es auf das Ge-
0074schlecht der Zwerge, das in Nibelheim in den Klüften der
0075Erde wohnt. Seine Dichtung kennt keine „Burgunden“,
0076sie hat überhaupt alles Historische getilgt und behandelt alle
0077Vorgänge als sagenhaft, märchenhaft, zeitlos. Nichts läßt
0078bei Wagner auf das Eindringen des Christenthums schließen,
0079welches unser mittelalterliches Epos wie eine neue Erdschichte
0080durchdringt und in Hebbel’s Tragödie so genial be-
0081nützt ist. Fast sind es nur einige Namen, die wir bei
0082Wagner wiederfinden, und selbst diese nicht gleich-
0083mäßig; Chriemhild zum Beispiel heißt bei ihm, nach
0084der nordischen Ueberlieferung, Gutrune. Sie, Gunther und
0085Hagen treten erst im vierten Drama auf, fast als Neben-
0086personen. Während unsere modernen Dramatiker aus dem
0087deutschen Epos das Reinmenschliche, für alle Zeiten Giltige
0088und Ergreifende herausgearbeitet haben, die treue Liebe
0089Siegfried’s zu seiner Gattin Chriemhild, die starre Vasallen-
0090treue Hagen’s, schließlich die Rache Chriemhild’s, sehen wir bei
0091Wagner die Menschen und alles Menschliche absichtlich zurück-
0092gedrängt und Götter, Riesen, Zwerge als handelnde Per-
0093sonen in den Vordergrund gestellt. Brunhilde erscheint
0094nicht als die vielumworbene Königin von Isenland, sondern
0095als übermenschliche Walküre, als Lieblingstochter des Gottes
0096Wotan; Chriemhild (Gutrune) tritt nicht als Rächerin
0097auf, Hagen nicht als uneigennützig treuer Lehensmann.
0098Ueberall hält sich Wagner an die ältere, härtere, uns fern-
0099stehende und befremdende Erzählung der „Edda“; in den
0100drei ersten Dramen („Rheingold“, „Walküre“, „Siegfried“)
0101fällt die volle Beleuchtung auf die über- und unterweltlichen
0102Wesen, die personificirten Naturmächte. Wenn wir später
0103auf die Musik zu sprechen kommen, werden wir sehen, daß
0104diese Auffassung der glänzendsten musikalischen Specialität
0105Wagner’s, der Schilderung des Wunderbaren durch die
0106sublimirteste Tonmalerei, zu statten kommt — allerdings zum
0107Schaden des Dramas, in welchem wir Menschen in
0108menschlichen Verhältnissen sehen wollen, Freud und Leid mit
0109ihnen theilend. Erst am vierten Abend begegnen wir den
0110uns vertrauten menschlichen Gestalten aus dem deutschen
0111Nibelungenlied, aber es ist höchst bezeichnend, daß Wagner
0112dieses von ihm ursprünglich „Siegfried’s Tod“ betitelte
0113Drama jetzt „Götterdämmerung“ nennt, also auch hier von
0114vornherein das volle Gewicht nicht auf das Schicksal der
0115handelnden Menschen, sondern auf jenes der Götter legt.
0116Will man die Grundidee des ganzen Wagner’schen
0117Cyklus in Ein Wort zusammenfassen, so ist daß der Fluch [2]
0118des Goldes, welcher den danach jagenden Göttern und Men-
0119schen den Untergang bereitet. Sehen wir, alles Nebensächliche
0120vorerst beiseite lassend, wie diese Idee in der zusammenhän-
0121genden Handlung der vier Dramen sich verkörpert. Das erste
0122Drama oder Vorspiel: „Rheingold“, enthält die Vor-
0123geschichte und bringt keine Menschen, sondern nur Götter,
0124Riesen und Zwerge auf die Bühne. Wie uns Gott Wotan
0125in seinem späteren Gespräch mit dem Zwerg Mime selbst be-
0126lehrt, sind dies die drei Geschlechter, welche um den Besitz
0127der Welt streiten; jedes derselben — die hoch in der goldenen
0128Walhalla thronenden Götter, die wilden, auf hohen Felsen
0129wohnenden Riesen, die im Innern der Erde emsig grabenden
0130und schmiedenden Zwerge — trachtet durch Gewalt oder List sich
0131die beiden anderen zu unterwerfen. Die erste Scene des Vor-
0132spiels geht in der Tiefe des Rheins vor sich. Die Rhein-
0133töchter umkreisen den von ihnen bewachten Schatz, das „Rhein-
0134gold“; der häßliche Zwerg Alberich, der ihnen in lüsterner
0135Verliebtheit nachstellt, erblickt das Rheingold, reißt es ge-
0136waltsam aus dem Riff und verschwindet damit. Die Rhein-
0137töchter haben dem Gott Loge (dem diplomatischen Mephisto
0138des nordischen Götterhofstaates) ihre Noth geklagt und um
0139Wotan’s Schutz gebeten. Wotan, der Allvater, beschließt,
0140Alberich das Gold abzunehmen — um es für sich selbst zu
0141behalten. Er läßt sich mit Loge in die Höhle Alberich’s hinab,
0142bindet diesen und bemächtigt sich des kostbaren Geschmeides.
0143Aber die beiden Riesen Fafner und Fasolt verlangen
0144drohend das Gold, als Lösegeld für die von ihnen geraubte
0145Göttin Freia. Sie erhalten es schließlich, gerathen aber wegen
0146des Ringes, welcher „zur höchsten Macht verhilft“, in Streit
0147mit einander; Fafner erschlägt den Fasolt und zieht mit dem
0148Ring davon. Die Götter schreiten über einen Regenbogen
0149in ihre glänzende Burg.
0150Wagner bezeichnet das „Rheingold“ als Vorspiel,
0151das eigentliche Drama beginnt somit erst am zweiten Abend
0152mit der „Walküre“. Siegfried, der Held des Ganzen, er-
0153scheint hier noch nicht; das Drama „Walküre“ entwickelt
0154erst die Geschichte des Wälsungengeschlechts vor
0155Siegfried’s Geburt. Wälse, der Stammvater dieses Ge-
0156schlechts, ist nach Wagner’s Darstellung Niemand anders
0157als Gott Wotan selbst; das Geschwisterpaar Siegmund
0158und Sieglinde sind die „Wälsungen“, die gleich zu An-
0159fang dieses Dramas, einander nicht kennend, auftreten. Sieg-
0160mund, auf der Flucht, geräth in die Wohnung Hunding’s,
0161dessen junge, schöne Gattin Sieglinde den Fremdling labt.
0162Die Beiden erglühen in Liebe für einander und thun dieser
0163Gluth keineswegs Einhalt, nachdem sie sich als Bruder und
0164Schwester erkannt haben. Sieglinde betäubt ihren Gatten
0165mit einem Schlaftrunk und verbringt die Nacht mit Sieg-
0166mund in ungestörter Wonne. Am nächsten Morgen kämpfen
0167Hunding und Siegmund; Beide fallen. Hier tritt Brun-
0168hilde in die Handlung, eine der neun Walküren, welche
0169auf das Schlachtfeld reiten und die getödteten Helden nach
0170Walhalla bringen. Brunhilde (nach Wagner die leibliche
0171Tochter Wotan’s) hat gegen dessen ausdrückliches Verbot
0172den Siegmund im Kampfe beschützt und wird zur Strafe
0173von Wotan in Schlaf versenkt und mit einem Flammenkreis
0174(der „wabernden Lohe“) umgeben. Nur ein Mann, „der das
0175Fürchten nicht kennt“, soll sie daraus erlösen und sein Eigen
0176nennen. Mit diesem „Feuerzauber“ schließt das Stück.
0177Das dritte Drama: „Siegfried“, dessen Handlung
0178wir uns etwa zwanzig Jahre später als die „Walküre“
0179denken müssen, bringt einen neuen Helden auf die Bühne,
0180den jungen Siegfried, den Sohn jenes Geschwisterpaares
0181Siegmund und Sieglinde. Er wird uns als ein Ideal strotzen-
0182der Kraft und Lebenslust vorgeführt, wie er das Schwert
0183„Nothung“ schmiedet, einen Bären hetzt, den als Lindwurm
0184verwandelten Riesen Fafner tödtet und seinen Pflegevater
0185Mime erschlägt. Durch Verkosten des Drachenblutes lernt
0186er die Sprache der Vögel verstehen, die ihm von der
0187flammenumloderten Brunhilde erzählen. Er hat von Fafner
0188den Ring des Nibelungen und die unsichtbarmachende Tarn-
0189kappe erbeutet und dringt durch das Feuer zu der schlafenden
0190Brunhilde, die er mit einem Kuß erweckt. Mit der langen
0191Liebesscene zwischen den Beiden („O hehrster Thaten thöriger
0192Hort! Leuchtende Liebe, lachender Tod!“) schließt das Stück.
0193Es folgt das vierte und letzte Drama: „Götterdäm-
0194merung“. Wir sehen Siegfried zu neuen Thaten auszie-
0195hen, nachdem er von Brunhilden zärtlichen Abschied ge
0196nommen und ihr den Nibelungenring als Zeichen der Treue
0197an den Finger gesteckt. Er reitet an den Rhein, wo das
0198stolze Geschlecht der Giebichungen herrscht. König Gunther’s
0199holde Schwester Gutrune (die Chriemhild des Nibelungen-
0200liedes) erglüht sofort in leidenschaftlicher Liebe zu Siegfried und
0201reicht diesem, auf Hagen’s Rath, einen Zaubertrank, wel-
0202cher ihn Brunhildens vollständig vergessen macht. Siegfried
0203begehrt und erhält Gutrune zum Weibe, wogegen er ver-
0204spricht, die nur durch ihn zu bewältigende Brunhilde für
0205Gunther zu gewinnen. Durch den Tarnheim in Gun-
0206ther’s Gestalt verwandelt, zwingt er Brunhilden ins Braut-
0207gemach und entreißt ihr, zum Zeichen der Vermälung, den
0208Ring. Hagen (bei R. Wagner ein Sohn des Zwerges Alberich),
0209will den Ring für sich gewinnen, und deßhalb beschließt er
0210Siegfried’s Verderben. Brunhilde erkennt ihren Ring an
0211Siegfried’s Finger und damit die Treulosigkeit des Heißgelieb-
0212ten. Sie fordert seinen Tod, und Hagen ersticht ihn meuch-
0213lings auf der Jagd. Unmittelbar vor Siegfried’s Ende gibt
0214ihm jedoch Hagen abermals einen Zaubersaft zu trinken,
0215welcher die Wirkungen des Vergessenheitstrankes wieder auf-
0216hebt. Siegfried erinnert sich plötzlich Brunhildens und stirbt,
0217einen Gruß an sie auf den Lippen. Gutrune räumt den Platz
0218an Siegfried’s Leiche ohneweiters Brunhilden, die ihr ihn streitig
0219macht und sich hierauf in den für Siegfried’s Leiche angezün-
0220deten Scheiterhaufen stürzt. Der Rhein wälzt seine Fluthen
0221bis in die Halle, die Rheintöchter kommen herangeschwommen,
0222ziehen Hagen, der sich des Ringes bemächtigen will, zu sich
0223herab und halten den wiedergewonnenen Ring jubelnd in die Höhe.
0224Gleichzeitig erscheint am Himmel eine rothe Gluth, der Widerschein
0225des Brandes, welcher die Götterburg mit all ihrer Pracht
0226verzehrt.
0227Betrachtet man das Gedicht im Großen und Ganzen,
0228ohne sich bei zahlreichen, theils ermüdenden, theils abstoßen-
0229den Einzelheiten aufzuhalten, so muß man den außerordent-
0230lich geschickten Aufbau der Handlung rühmen. Ein Zug von
0231Größe und Strenge, ein starker Hauch entfesselter Natur-
0232gewalt zieht durch das Ganze; die Höhenpunkte der drama-
0233tischen Wirkung sind mit kundiger Meisterhand vorbereitet
0234und in die glühendste Beleuchtung gestellt. Als selbstständi[3]
0235ges Drama betrachtet, das angeblich der Musik gar nicht be-
0236dürfe, um als dramatisches Werk oder Meisterwerk dazuste-
0237hen, wird „Der Ring des Nibelungen“ nur von den Unzu-
0238rechnungsfähigsten unter den Wagner-Enthusiasten angesehen
0239werden können. Ohne Musik, nicht gesungen, sondern gespro-
0240chen, würden diese stammelnden und stotternden Stabreime
0241überall eine mit Aergerniß gemischte Heiterkeit erregen. Allein,
0242so hat es Wagner auch nicht gemeint, wenngleich er den Text
0243lange vor der Partitur selbstständig veröffentlichte und ge-
0244legentlich versichert, seinen „Nibelungenring“ „als durch-
0245aus dialogisirte Handlung demselben Urtheil unter-
0246werfen zu können, dem wir ein für das recitirte
0247Schauspiel geschriebenes Stück vorzulegen gewohnt sind“.
0248Hätte Wagner dies ernstlich geglaubt, so würde er nicht
0249Musik dazu geschrieben haben. Wir halten uns lieber an die
0250andere Versicherung des Autors, daß „dieses dramatische
0251Gedicht ganz der Möglichkeit einer vollständigen musika-
0252lischen Ausführung seine Entstehung verdankt“. (Gesam-
0253melte Schriften IX. p. 366.) Vom musikalischen Gesichts-
0254punkte muß man zwar das Störende vieler ungebührlich
0255langer, mitunter recht prosaischer Dialoge beklagen, anderer-
0256seits aber dem Textbuch eine Fülle poetisch angeschauter und
0257mit genialem Theaterblick ausgeführter Situationen nachrühmen,
0258welche geradezu die höchsten Anstrengungen der Musik heraus-
0259fordern. Man braucht, mit der Musik noch völlig unbe-
0260kannt, das Buch nur zu lesen, um der gewaltigen Effecte,
0261welche Wagner’s scenische und musikalische Kunst daraus
0262ziehen müsse, sicher zu sein und nur unsicher darüber, ob der
0263Hörer diesen Effecten durch vier Abende hinter einander werde
0264Stand halten können.
0265Bezüglich der Grundanschauung und des substanziellen
0266Gehaltes des „Nibelungenrings“ haben wir unser Haupt-
0267bedenken bereits oben ausgesprochen: es trifft das Zurück-
0268drängen des Reinmenschlichen zu Gunsten der Götter, Riesen,
0269Zwerge und ihrer verschiedenen Zauberkünste. Diese Tendenz
0270herrscht am störendsten, weil ausschließlich, im „Rheingold“,
0271wirkt noch vorwiegend in „Siegfried“ und „Walküre“, läßt
0272aber glücklicherweise bedeutend nach in der „Götterdämme-
0273rung“, dem poetisch weitaus gelungensten von den vier
0274Stücken. Die von Wagner’s Interpreten gerühmte „sittliche
0275Hoheit“ und „reinigende ethische Wirkung“ dieser Dich-
0276tung vermögen wir schwer aufzufinden. Die treibenden Mo-
0277tive im „Rheingold“ sind durchwegs Betrug, Lüge, Gewalt
0278und thierische Sinnlichkeit; sogar bei den Göttern: Habsucht,
0279List und Vertragsbruch. Nicht ein Strahl eines edleren sitt-
0280lichen Gefühles bricht durch diesen athemversetzenden Nebel.
0281„Die Walküre“ glänzt unter allen vier Stücken zumeist durch
0282große dramatische und musikalische Schönheiten (erste Scene
0283bei Sieglinde, Walkürenritt, Feuerzauber); das sittlich Wider-
0284wärtige der mit so viel Gluth ausgemalten Blutschande
0285werden wir aber niemals überwinden. Man kennt die Vor-
0286liebe Wagner’s für dergleichen Scenen und Probleme. Hier
0287ist der Gräuel um so tadelnswerther, als er vollständig un-
0288nöthig ist. Wo liegt die geringste Nöthigung vor, Sieglinde
0289und Siegmund zu Geschwistern zu machen? Daß es so in
0290den alten Edda-Gesängen steht? Das verpflichtet nicht im
0291mindesten den Dramatiker, der für seine dichterischen Zwecke
0292frei schalten darf und soll. Es ist nicht Alles im Drama
0293erlaubt, was im Epos vorkommen darf, und unsere sittlichen
0294Anschauungen sind andere, als es die des elften Jahrhun-
0295derts waren. Den schwächsten dramatischen Fortgang, am
0296wenigsten Geist, Schönheitsgefühl finden wir in dem dritten
0297Stück „Siegfried“. Die beiden Hauptpersonen, der Zwerg
0298Mime und Siegfried selbst, streifen hier an die Cari-
0299catur, der Kampf mit dem singenden Lindwurm ans
0300Komische. Erst der dritte Act, die Erlösung Brunhil-
0301dens durch Siegfried, hebt sich auf bedeutende Höhe.
0302Die „Götterdämmerung“ übertrifft schon aus dem
0303Grunde die drei vorhergehenden Dramen, weil sie lauter
0304echt musikalische Situationen enthält. Ueberdies welch gewal-
0305tige Exposition, welche Spannung und Steigerung bis zum
0306Ende! Das Menschliche tritt uns hier näher, die Gespenster
0307der „Edda“ weichen zurück vor den Helden des Nibelungen-
0308liedes. Freilich, wie weit hat Wagner auch in dieser An-
0309näherung an das deutsche Heldengedicht sich wieder davon
0310entfernt! In Einem Punkte zum Vortheile des Ganzen: er
0311ignorirt die unsäglich rohe Scene der Brautnachtbalgerei
0312zwischen Brunhild und Gunther; auch Siegfried holt Erstere
0313für Gunther blos aus dem Feuerkreise und geleitet sie un-
0314erkannt ans Lager. Hingegen hat Wagner ein anderes wi-
0315derwärtiges Motiv unterschoben, daß es nämlich nicht eine
0316Fremde, sondern seine eigene Geliebte und Gattin
0317ist, welche Siegfried für einen Andern bezwingt und ihm
0318ausliefert! Mit diesem Momente schwindet in unserer Brust
0319jede Sympathie für Siegfried, dem wir sein gewaltsames
0320Ende nicht ungerne gönnen. Das Aushilfsmittel mit dem
0321Vergessenheitstrank, den man Siegfried credenzt und dessen
0322Wirkung dann wieder durch einen andern Zaubertrank auf-
0323gehoben wird, ist doch gar zu kindisch und abgeschmackt.
0324Wenn man den handelnden Personen alle Augenblicke etwas
0325Anderes zu trinken gibt, dann hört jedes Drama auf. Solche
0326Willkür, einmal zugelassen, braucht auch keine Grenzen zu
0327achten; warum nicht ein dritter Trank und neue Vergeßlich-
0328keit, ein vierter und abermals Rückkehr der Erinnerung u. s. w.?
0329Daß auch diese Zaubertränke aus der „Edda“ hergenommen
0330sind, kümmert uns wenig. Wer hieß den modernen Drama-
0331tiker aus trüber Quelle schöpfen, da doch hart daneben die
0332reinere sprudelt? Man vergleiche die Tragödie Hebbel’s,
0333namentlich die tief ergreifende Scene an Siegfried’s Leiche,
0334die rührende Klage Chriemhild’s, die nur ihn liebte, einzig
0335und allein von ihm geliebt! Bei Wagner ist, Brunhilden
0336zuliebe, die Gestalt Chriemhild’s um ihre ganze Schönheit
0337und Bedeutung gebracht. Sie ist neben dem Sarge Sieg-
0338fried’s nicht viel mehr werth, als dieser in demselben. Ein
0339kühner, origineller Gedanke, mit welchem Wagner weit über
0340das Heldengedicht hinausgeht, ist die Verbindung dieser Vor-
0341gänge mit der Götterdämmerung, das ist dem aus
0342dem Kampfe zwischen Licht und Finsterniß einst hervor-
0343gehenden Untergang der Götter. Aus Wagner’s Anschauungs-
0344weise heraus, der in seinem „Nibelungen“-Cyklus überall das
0345Mythische und Uebernatürliche hervorhebt, erscheint dieser
0346Gedanke künstlerisch berechtigt und motivirt. Die Götter, die
0347anfangs, im Vorspiel, als Mitschuldige an dem ungerechten
0348Besitze des Rheingolds erschienen, wir sehen sie am Schlusse
0349aus weiter Ferne im flammenden Zusammensturze Walhallas
0350untergehen.