Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4280. Wien, Mittwoch, den 26. Juli 1876
[1]Zur Erinnerung an Joseph Dessauer und A. W. Ambros. II.
0002Ed. H. Während die Erinnerung an Dessauer’s
0003Schwanengesang wol den Meisten erloschen ist, umgaukeln
0004uns Alle noch die Geistesfunken aus Ambros’ letzten Feuilletons.
0005Auf Ambros paßt wie auf Wenige Büffon’s viel citirtes
0006Wort: „Le style c’est l’homme“. Er sprach wie er schrieb
0007und schrieb wie er war; unbekümmert um die Form, stets
0008voll Witz und Laune, voll Belesenheit und Bilderreichthum,
0009jederzeit Polyhistor und Improvisator in Einer Person. Mochte
0010Einem die übersprudelnde Beredsamkeit, Anderen der luxuri-
0011rende Styl unseres Freundes mehr oder minder zusagen,
0012gelangweilt hat sich gewiß Niemand, indem er ihn hörte oder
0013las. Nie konnt’ ich ein Ambros’sches Feuilleton zur Hand
0014nehmen, ohne daß mir nicht sogleich die bewegliche kleine
0015Gestalt des Autors leibhaftig vor Augen stand, mit der hoch-
0016gewölbten grauumlockten Stirne und den so fröhlich durch
0017die Brille blitzenden braunen Augen; ich hörte gleichsam den
0018Aufsatz von ihm selbst vorlesen, mit der eigenthümlich schnei-
0019digen Frische seines etwas bohemisch modulirenden Organs.
0020Man weiß, wie ihm die witzigen Einfälle, die Gleichnisse, die
0021Citate, die Anekdoten nur so heraussprudelten, er mochte
0022sprechen oder schreiben, und von was immer. Baron Hel-
0023fert, der dem verblichenen Freunde jüngst einen so
0024farbenreichen Kranz von Jugend-Erinnerungen auf das
0025Grab gelegt, wendet in seinem Nachrufe Schiller’s
0026Wort über Jean Paul treffend auf Ambros: „Hieltest du
0027deinen Reichthum nur halb so zu Rathe, wie Jener seine
0028Armuth, du wärst unserer Bewunderung werth.“ Aber gerade
0029hierin lag ein wesentlicher, nicht zu missender Charakterzug
0030von Ambros’ Schaffen. Es gab ihm einen unendlichen Vor-
0031sprung vor anderen ähnlich Begabten, daß er für seinen
0032Witz ein so riesiges Material zur Verfügung hatte und seine
0033Production ununterbrochen aus dem Reservoir eines geradezu
0034phänomenalen Gedächtnisses gespeist wurde. Jeder Gedanke
0035ward ihm unwillkürlich zum Stichwort, auf welches ein
0036Dutzend andere herbeisprangen. Wer da meinte, Ambros
0037jage nach Bildern und Citaten, der irrte; im Gegentheil,
0038seine Einfälle jagten ihn, er war mitunter wie ein ver-
0039folgtes Wild auf der Flucht vor seinem unbarmherzig all-
0040gegenwärtigen Gedächtniß. War er vollends gerade vertieft
0041im Studium einer älteren Periode der Kunstgeschichte, so
0042drängten sich ihm in der Beurtheilung moderner Musiken
0043Analogien mit diesem oder jenem alten Meister so unwider-
0044stehlich auf, daß er ganz übersah, bei wie wenigen Lesern
0045die Erudition und das Interesse für diese antiquarischen
0046Seitenblicke vorauszusetzen sei. Es fiel ihm schwer, über
0047Richard Wagner zu schreiben, ohne in das Florenz des sechzehnten
0048Jahrhunderts, in die venetianischen Madrigalisten, in die
0049dramatischen Experimente des alten Veronesers Monteverde
0050zu gerathen. Einen gutgemeinten Spott über diese Passion
0051nahm er nicht übel, ja er lachte mit uns von Herzen, als
0052eines Tages der Redacteur der Wiener Zeitung ein Täfelchen
0053mit der lakonischen Warnung: „Kein Monteverde!“
0054auf Ambros’ Schreibtisch stellte. Sein Styl, anfangs fast
0055verwildert durch den Einfluß seines Lieblings-Autors Jean
0056Paul, hat sich später, in Wien namentlich, von diesem athem-
0057versetzenden Bilderwust sehr merklich befreit und gereinigt.
0058Wer Ambros lediglich aus seinen Schriften, nicht
0059auch aus persönlichem Umgang kannte, der besaß kaum die
0060Hälfte von dieser hochbegabten, stets anregenden und immer
0061liebenswürdig heiteren Natur. Und auch von dem, was
0062Ambros geschrieben, darf man nicht blos das Gedruckte
0063kennen, will man seinen unermüdlich blitzenden und funkeln-
0064den Geist richtig schätzen. Es gibt Schriftsteller, die ihre
0065Schwingen nur entfalten, wenn sie ein großes Lesepublicum
0066vor Augen und den Druckerjungen hinter sich haben. Im
0067mündlichen Verkehr, im Briefwechsel wollen sie gleichsam
0068nichts vergeuden. Ambros that das gerade Gegentheil; mit
0069vollen Händen warf er im Gespräch, in freundschaftlichen
0070Briefen die besten Einfälle aus. Und so möchte ich, statt
0071weiter über ihn zu sprechen, ihn selbst jetzt sprechen lassen.
0072Was Ambros drucken ließ, ist längst bekannt und gewürdigt.
0073Ueber seinen literarischen Nachlaß, in welchem sich der vierte
0074Band seiner Musikgeschichte nahezu vollendet befinden soll,
0075hoffe ich den Lesern in einiger Zeit berichten und dabei einen
0076Rückblick auf seine literarische Thätigkeit werfen zu können.
0077In seinen intimen Briefen sprach sich Ambros auch über
0078musikalische Dinge noch frischer und drastischer aus, als in
0079seinen Zeitungsartikeln, wo er, ebenso vorsichtig als nach-
0080sichtig, die Stacheln seines Urtheils gern abzuschleifen liebte.
0081Schade nur, daß ich einen der eigenthümlichsten Reize von
0082Ambros’ Correspondenz nicht wiedergeben kann: die sauber
0083ausgeführten Federzeichnungen, welche er fast in jedem seiner
0084kalligraphisch geschriebenen Briefe anbrachte.
0085Als ich Dr. Ambros in Prag kennen lernte, war er
0086Beamter des Fiscal-Amtes und wohlbestallter Musikreferent
0087der Bohemia. Sein freundschaftliches Entgegenkommen machte
0088mich, den fast zehn Jahre jüngeren Studiosus, gar stolz und
0089glücklich. Durch mehrere Jahre genoß ich alle bedeutenderen
0090Musikaufführungen in Prag doppelt und dreifach, indem ich
0091sie mit Ambros hörte. Ein kleiner, intimer Freundeskreis
0092versammelte sich häufig um Ambros, der diese bescheidenen,
0093durch Vierhändigspielen, Debattiren und Kaffeetrinken aus-
0094gefüllten Abende mit dem Namen „Davidsbündeleien“ beehrte,
0095in Nachahmung des von Robert Schumann (mehr in
0096dessen Phantasie als in der Wirklichkeit) gestifteten „Davids-
0097bundes“ junger musikalischer Fortschrittler in Leipzig. Ambros
0098nannte sich da „Flamin, den letzten Davidsbündler“, der
0099Jüngste von uns, J. E. Hock, die Perle der Prager Musik-
0100professoren, wurde von ihm „Benjamin“ genannt, der Com-
0101ponist Joseph Heller „Obolus“, der Musik-Kritiker Ulm
0102„Barnabas“, meine Wenigkeit „Renatus“ u. s. f. Anfangs zierte
0103auch Helfert und später Joseph Bayer diese Zusammenkünfte.
0104Nachdem ich, Ende 1846, der Erste diesen Freundeskreis ver-
0105lassen hatte, bekam die Briefpost zwischen Wien und Prag
0106einen lebhaften Aufschwung durch unsere Correspondenz. Die
0107gute vormärzliche Zeit hatte eben viel Zeit — zum Brief-
0108schreiben, zum Plaudern, zum Musiciren. Ueberdies sollten
0109nach Ambros’ Versicherung seine Briefe an mich einem eige-
0110nen tiefgefühlten Bedürfniß abhelfen. „Mittheilung ist mir
0111nun einmal Bedürfniß,“ schrieb er, „wäre ich als Adam
0112allein im Paradies, ich liefe heraus, um mir à tout prix
0113Gesellschaft zu suchen. Es gibt aber gar viele Dinge, über [2]
0114welche ich mich gegen Niemanden lieber ausspreche, als gegen
0115dich.“ Das waren die musikalischen. Da berichtet er zum
0116Beispiel gleich über die Aufführung der großen „Leonore“-
0117Ouvertüre von Beethoven: „Sie ist ein Coloß und recht
0118eigentlich die Mutter unserer ganzen heutigen Musik. Lachen
0119mußt’ ich, daß hinter mir Einer sagte: „I nun, ’s ist recht
0120viel Kunst darin, aber sonst —“ „Das ist nur lächerlich,
0121aber wirklich geärgert habe ich mich über einen Philister, der
0122zwei alten Schachteln eine pausbackige Lobrede der Oper im
0123selbstgefälligsten Ton, dem man anhörte, wie sehr sich der
0124Mann zum gnädigen Richter berufen fühle und wie er den
0125ganzen „Fidelio“, wie ein Präceptor eine Kinderarbeit, mit
0126Einem Blick übersehe, vordeclamirte. Der verdammte Kerl
0127sollte Gott täglich Früh und Abends auf seinen Knien danken,
0128daß er wenigstens vom naturgeschichtlichen Standpunkte aus
0129mit Beethoven zu Einer Classe gehört.“ „Ein Quintett von
0130Gade in E-moll hat mir nicht sehr gefallen. Man kriegt
0131es am Ende satt, immer und ewig die Walkyren im Nebel
0132herumtraben zu sehen, und sehnt sich herzlich nach griechischem
0133blauen Himmel und einem guten Schluck Nektar — ohne
0134Bild: nach einer Musik wie etwa Mozart’s G-moll Sym-
0135phonie, gar nicht zu reden von dem Mann, der weder pfalz-
0136bayrische, noch San-marinesische, noch thurgau’sche, noch goth-
0137ländische, noch sonstige Territorial- und Specialmusik schrieb,
0138sondern im großen All umherspazierte, wie auf einer Flur,
0139wo die Sterne als Thautropfen hängen und die Milchstraße
0140als Bächlein mitten durchfließt — et cui nomen est
0141Beethoven.“
0142„Mendelssohn’s Tod,“ klagt Ambros im Decem-
0143ber 1847, „kann ich noch immer nicht verwinden. Wir
0144fühlen den Verlust doch nur erst halb. Es ist eine Sonne
0145untergegangen, nun leuchtet freilich noch ein Streif Abend-
0146roth, aber auch dieser wird erlöschen, und dann kommt
0147finstere Nacht. Und so hole der Teufel Alles! Balfe for
0148ever! Evviva Verdi! Auf, ihr kleinen Geister, ihr werdet
0149im Preise steigen, denn wenn die Sonne herunter ist, haben
0150auch die Unschlittkerzen ihren Werth!“ Am meisten geräth
0151Ambros ins Feuer, wenn er auf seine Lieblinge Bach,
0152Gluck, Beethoven zu sprechen kommt. „Wir haben so lange
0153Pfeffer mit Löffeln gefressen,“ schreibt er nach der Auffüh-
0154rung von Gluck’s „Alceste“ in Prag, „daß uns das ein-
0155fache Himmelsbrot anfangs nicht recht schmecken will. Aber
0156es ist gut, wenn alle halbe Jahre so eine Himmelserschei-
0157nung wie „Alceste“ oder „Iphigenie“ vorüberzieht. Wer im
0158Stande ist, Gluck nachzufühlen, dessen Herz und Seele ist
0159gut — das behaupte ich fest, ein Schlechter kann es nicht.
0160„Alceste“ — ist das eine Musik! Alles so ursprünglich, daß
0161Einem unsere ganze Musik daneben völlig erzwungen und erkün-
0162stelt vorkommt. Nun, ich hoffe, Gluck wird unserer Bühne nicht
0163mehr so völlig Fremdling sein, wie bisher, und es freut mich, daß ich
0164ein klein wenig dazu habe beitragen können. Das könnte mich
0165fast versuchen, die Schreiberei nicht ganz aufzugeben, und
0166doch wird es geschehen müssen, denn selber kochen und
0167anderer Leute Kocherei als kritischer Nürnberger Schmeckherr
0168beschnüffeln, das sind unvereinbare Dinge. Sobald mein Es-
0169dur-Trio fertig ist, sperre ich mich ein Jahr ein und treibe
0170wieder contrapunktische Studien, und dann soll was Großes
0171kommen, eine Oper oder so etwas. Und da habe ich noch
0172etwas auf dem Herzen, was ich dir bei dieser Gelegenheit
0173sagen will. Du kennst Immermann’s „Münchhausen“. Nun
0174— darin kommt ein alter Hauptmann vor, der erst unter
0175Napoleon, unter den Rheinbundstruppen, gefochten und
0176dann in den Befreiungsjahren auf deutscher Seite gestanden.
0177Dieser Zwiespalt in seinen Erinnerungen macht den alten
0178Mann halb wahnwitzig, und da hilft er sich endlich zur Ge-
0179müthsruhe dadurch, daß er ein Zimmer seiner Wohnung
0180französisch, d. h. mit lauter napoleonischen Erinnerungen,
0181und ein anderes deutsch-patriotisch ausstaffirt und abwechselnd
0182entweder ganz Soldat der Kaiserzeit oder ganz deutscher
0183Mann ist. Siehe, etwas Aehnliches ist es mit dem zusammen-
0184gewachsenen Zwilling Dr. Ambros und Flamin, dem letzten
0185Davidsbündler. Der Kunsttrieb in mir war mit aller Kraft
0186nicht zu ersticken — und gleichwol mit meinem Berufe als
0187Jurist nicht zu vereinigen. Aber jene Theilung meines Ichs
0188hat mich gerettet. Der Mensch, der jetzt mit allem Feuer-
0189eifer über neue Hofdecrete, mit allem Heißhunger eines Prüfungs
0190candidaten herfällt, sich in die Geheimnisse des Allgemeinen
0191Bürgerlichen Gesetzbuches vertieft etc., ist Jur. Dr. Ambros,
0192fiscalamtlicher Referent. Aber jener Mensch, der jetzt vor
0193Sebastian Bach und Beethoven verehrend kniet und sich mit
0194Ideen zu großen Musiken trägt und Notenpapier beklext, das
0195ist Flamin, der letzte Davidsbündler. Da siehst du, was
0196eine bloße Idee kann, und darum halte es für keinen
0197Scherz, für keine Kinderei, wenn ich auf meine Eigenschaft
0198als „Flamin“ Gewicht lege — es ist der tiefste Ernst hinter
0199lachender Maske versteckt.“ Niemand wird Ambros das
0200Zeugniß versagen, daß er seine Doppelrolle zeitlebens nicht
0201blos treulich, sondern auch glänzend durchgeführt hat. Oft
0202freilich schien das amtliche Joch ihn niederzudrücken, und die
0203Hofdecrete wollten nicht immer schmecken. Da flüchtete er zu
0204seiner geliebten Kunst und fühlte sich alsbald wie neugebo-
0205ren. „Au fond bin ich noch immer der Alte; wäscht man
0206mir den Actenstaub mit etwas Hyppokrene ab, so guckt das
0207alte Flaminsgesicht deutlich heraus. Freilich kann ich mich
0208wie ein Grobschmied nur am Sonntag waschen — und es
0209ist fatal, wenn Jemand, der sonst 365 Dichtertage des Jah-
0210res hatte, nun auf 52 reducirt ist. Eben habe ich eine
0211vierhändige Pianoforte-Sonate zusammengeklext, die ich gern
0212mit dir spielen möchte. An einem Oratorium, einem höchst
0213curiosen Ding, skizzire ich. Am wohlsten ist mir jedoch in
0214Sebastian Bach’s colossalen Ton-Labyrinthen, in die ich mich
0215ganz verloren habe. Da ist Alles groß und gewaltig, wie in
0216der ersten Schöpfung; die Ichthyosauri und Plesiosauri
0217schwimmen darin herum, wie anderwärts die Haberfische,
0218und selbst das Farnkraut hat Baumhöhe. Sieht man, wie
0219der alte Perrückenmann aus nichts ganze Welten erschafft,
0220so kommt er Einem vor wie eine Gottheit, auf deren bloßes
0221„Werde“ endlose Schöpfungskräfte zu walten beginnen, wo-
0222gegen man sich mit der eigenen Production erscheint, als
0223habe man mit vieler Mühe auf gewöhnliche Weise ein klei-
0224nes rotziges Mädel erzielt. Und man läßt es Babi taufen
0225und freut sich sehr darüber.“
0226Die ungeheuchelte Ehrfurcht, mit welcher Ambros sich
0227vor allem Großen in der Kunst beugte, bildete einen seiner [3]
0228schönsten Charakterzüge. Was er als groß verehrte, wie Bach,
0229Gluck, Beethoven, das verehrte er ganz, unbedingt und mit
0230schrankenlosem Enthusiasmus. Da ließ er keine Einwendung
0231gelten. Eine tüchtige Strafpredigt trug mir’s ein, als ich
0232einmal gegen den letzten Satz von Beethoven’s Neunter
0233Symphonie einige Ketzereien äußerte. Obwol meine Opposi-
0234tion das Riesenwerk nur streifte und eigentlich der Affec-
0235tation unmusikalischer Dilettanten galt, die gerade über Ton-
0236sätze, für die sie kaum die Auffassung, unmöglich aber wahr-
0237hafte Begeisterung aufbringen, sich völlig verzückt geberden
0238— Ambros antwortete mir höchlich unzufrieden. „In jenen
0239Stellen (den von mir citirten des Freudenhymnus) stellt
0240sich die Idee so hoch, daß ihr das materielle Tonkleid nicht
0241mehr genügt, daß ihr die vorhandenen disponiblen Mittel
0242nicht mehr zureichen, sie greift nach dem Unmöglichen,
0243was freilich Niemand leisten kann. Jene Mißgriffe sind eine
0244Beglaubigung des Genius, und Alles, was wir kleinen
0245Geister in unseren weihevollsten Stunden denken und schaffen
0246— auch unser Bestes — steht daneben klein und elend
0247da. Wie hättest du vor der heiligen Menschenliebe, die alle
0248die Millionen mit Einer Umarmung umfassen möchte, und
0249in dem 3/2 Adagio nicht den Schauer von der Nähe der
0250Gottheit gefühlt? Jenes Adagio in dem Chor-Finale ist die
0251einzige Musik, die mich Thränen gekostet hat, und nie
0252hat sich der menschliche Geist Gott mehr genähert, als in
0253diesem kleinen Adagiosatz und in dem Briefe Emanuel’s im
0254Hesperus von Jean Paul.“
0255Ueber die großen Meister vergaß Ambros doch keines-
0256wegs der Zeitgenossen und berichtete mir fleißig über die in
0257Prag gehörten Novitäten. „Lindpaintner’s Oratorium
0258„Abraham“, schreibt er einmal, „hat uns übel erbaut. Im
0259ersten Theil handelt es sich darum, daß Abraham opfern
0260soll, im zweiten, daß er opfern will, im dritten, daß es doch
0261nicht zum Opfer kommt. Keine Spur von biblischer Hal-
0262tung, fade deutsche Gemüthlichkeit à la August Lafontaine,
0263Abraham geberdet sich, als ob er Magistrats-Secretär in
0264Budweis wäre: „O mein Isaak, weiche nie vom Pfade der
0265Tugend!“ die hundertundsechsjährige Sarah singt Schrei-
0266Arien bis ins hohe B, und diese Fugen, in die sich der
0267Componist unentwirrbar verwickelt, sind wie der berühmte
0268Schöps, den Abraham dann opferte und der mit seinen Hör-
0269nern im Dornendickicht hängen geblieben!“
0270Die März-Revolution machte diesem beschaulich ruhigen,
0271blos von Musik und Literatur sich nährenden Leben bald ein
0272Ende. Zuerst hing auch in Prag der Himmel voller Geigen.
0273„O Eduard, o Mensch, o Freund, kannst du denn noch
0274ruhig herumgehen, oder ist dein Gang ein unaufhörlicher
0275Longitudinar-Walzer? Preßfreiheit, Constitution, keine Naderer
0276mehr, und „der Urquell alles Uebels“ mit Gestank abge-
0277zogen! Da reichen Worte allein nicht mehr aus,
0278sondern etwas wie: (folgt in Noten der Eintritt
0279des C-dur-Schlusses im Finale der C-moll-Symphonie)
0280wäre noch ein würdiger Ausdruck unserer Empfindungen!“
0281Aber nur zu bald endet der Jubel unseres Freundes. „Auch
0282ich,“ klagt er im August 1848, „habe den Champagner-Rausch
0283der Freiheit mitgemacht, und auch ich laborire an dem Katzen-
0284jammer, den du in deinem Briefe schildert. Als reine Ta-
0285fel gemacht worden, da hofften wir Alle, es werde das Größte
0286und Herrlichste darauf geschrieben werden und die heiligen
0287Worte, die uns begeisterten, in unverwischbaren Charakteren
0288dastehen. Leider aber waren gleich Kerle zur Hand, „zu malen
0289auf das Weiß, ihr Gesicht oder ihren —.“ Was für un-
0290glaubliche Eselei, Rohheit, Verkehrtheit jetzt in hellem Son-
0291nenlicht herumprunkt, muß man nur selbst sehen! Die
0292Gleichstellung beider Nationalitäten besteht
0293bei uns in Folgendem: (Zwei köstliche Federzeichnungen, Ge-
0294genstücke, zeigen hier drei Czechen, die einen Deutschen, und
0295drei Deutsche, die einen Czechen durchprügeln.) Von dem,
0296was ich in diesen Tagen erlebt habe, könnte man vier Evan-
0297gelien nebst Apostelgeschichte zusammenschreiben.“ Ambros war
0298nichts weniger als eine politische Natur, sein Interesse an
0299öffentlichen Angelegenheiten schwand rasch nach dem ersten
0300Freiheitsrausch; Verfassungskämpfe, Parteihader, das Alles
0301störte seine Cirkel. Seine fein besaitete Künstlernatur schreckte
0302zusammen vor dem Trommelwirbel der Politik. Ambros ver-
0303mied es, wo er nur konnte, Partei zu nehmen, und da er
0304beider Landessprachen gleich mächtig war, so fiel es ihm
0305nicht schwer, mit den Czechen auf gutem Fuße zu bleiben.
0306„Da man in Prag jetzt nicht mehr weiß, soll man einem
0307Begegnenden „Guten Morgen!“ oder „dobre jitro“ sagen,
0308so habe ich mir einen eigenen Nationalitäten-Gleichstellungs-
0309Grunzlaut erdacht, der, langsam ausgesprochen und in seine
0310Elemente aufgelöst, die Sylben Emme-lem-blem! gibt und
0311noch wunderbarerer Nuancirungen fähig ist, als unseres
0312Freundes Berlioz double idée fixe. Durch besagtes Emme-
0313lemblem ist es mir bisher gelungen, mit allen Parteien gut
0314Freund zu bleiben.“ (Federzeichnung: Ambros, einen Hut in
0315jeder Hand, grüßt gleichzeitig nach rechts einen Deutschen,
0316nach links einen Czechen; aus seinem Munde flattert ein
0317„Emmelemblem!“ nach rechts, ein detto nach links.) In
0318den späteren Jahren seines Prager Aufenthaltes, da Ambros
0319mit einer zahlreichen Familie und noch zahlreicheren Arbeiten
0320gesegnet war, kamen seine Briefe immer seltener, am häufig-
0321sten noch als Empfehlungsschreiben irgend eines Musikers
0322oder einer Sängerin. „In Jean Paul ist irgendwo die Rede
0323von Leuten, die nach Flötenuhren tanzen — wir Beide cor-
0324respondiren in Empfehlungsbriefen, denn außerdem kommen
0325wir selten dazu!“ Bald hörte unsere Correspondenz gänzlich
0326auf — glücklicherweise! Denn Ambros übersiedelte nach
0327Wien, und mir wie ihm war damit ein alter Wunsch er-
0328füllt. Ein tröstender Gedanke mag es uns bleiben, daß Am-
0329bros sich in Wien glücklich fühlte bis zum letzten Athemzuge,
0330glücklich im Kreise seiner trefflichen Familie, seiner ihm treu
0331anhänglichen Freunde, zufrieden mit seiner amtlichen wie mit
0332seiner journalistischen Thätigkeit, anerkannt, geehrt, geliebt
0333von Allen. Für die Kunstkritik, für das Lehramt, für das
0334Musikleben Wiens ist Ambros kaum ersetzlich, für seine alten
0335Freunde noch weniger. Es gibt einfache Naturlaute des
0336Schmerzes, die mehr sagen, als lange Grabreden und Nach-
0337rufe. „Was gäb’ ich darum, wenn ich den herauskratzen
0338könnte,“ sagte jüngst einer von Ambros’ Freunden leise vor
0339sich hin. Dieses Wort mit seiner herben, wahren Empfindung
0340schwirrt mir unaufhörlich im Ohre. Es fällt mir schwer, mit
0341einem andern zu schließen.