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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4302. Wien, Donnerstag, den 17. August 1876

[1]

R. Wagner’s Bühnenfestspiel in Bayreuth.

2. Das Theater.

Bayreuth, 14. August.


0004Ed. H. Warum just in Bayreuth? Ein neuer
0005Theaterbau an diesem Ort war ursprünglich gar nicht in
0006Wagner’s Absicht gelegen. Er dachte anfangs das alte
0007Bayreuther Opernhaus, ein stattliches Monument ehemaliger
0008markgräflicher Pracht, für seine Zwecke benützen zu können.
0009Je mehr er aber die nothwendige Umgestaltung überdachte,
0010desto weniger konnte dieses Haus ihm genügen. Wagner 
0011erkannte bald, daß er, von Grund aus reformirend, auch
0012von Grund aus bauen müsse, für eine neue Operngattung
0013auch ein neues Theater. Er blieb aber bei dem kleinen, ab-
0014gelegenen Bayreuth, um durch keinerlei großstädtische Zer-
0015streuung den Zuschauer von seinem Werk abzulenken. Gerade
0016hier zählte er auf die festlichste, denkbar günstigste Stimmung
0017des Publicums. In diesem Punkte scheint sich aber doch, nach
0018übereinstimmenden Aeußerungen zahlreicher Festgäste, der
0019Meister verrechnet zu haben. Ein Städtchen wie Bayreuth 
0020ist für so massenhaften Fremdenbesuch in keiner Weise vor-
0021bereitet, es fehlt nicht blos überall an Comfort, sondern
0022häufig am Nothwendigen. Ich weiß nicht, ob das wirklich die
0023günstigste Stimmung für einen Kunstgenuß ist, wenn man
0024eine Woche lang unbequem wohnt, elend liegt, schlecht ißt
0025und nach einer fünf- bis sechsstündigen anstrengenden Opern-
0026vorstellung nicht weiß, ob man sich einen bescheidenen Imbiß
0027werde erkämpfen können. Auf wenigen Gesichtern ist eine
0028zustimmende Antwort zu lesen, und manchen in heller Be-
0029geisterung hier Angekommenen sahen wir gestern bereits in
0030sehr herabgemunterter Stimmung die glühend heiße, staubige
0031Straße zu dem weit entfernten Wagner-Theater hinaufschleichen.
0032Auch die mitwirkenden Künstler äußern gerechtfertigte Bedenken.
0033Wie leicht, sagen sie, hätte mancher erst bei den General
0034proben zu Tage gekommene Uebelstand (ungenügende Besetzung
0035kleinerer Partien u. dgl.) sich noch beheben lassen in einer
0036Großstadt, während hier eine Aenderung nicht mehr möglich
0037ist. Ein ausgezeichnetes Mitglied des hiesigen Orchesters hatte
0038das Mißgeschick, mit einem unterwegs halbzertrümmerten
0039Violoncell anzukommen; in jeder Hauptstadt wäre es leicht
0040reparirt worden, Bayreuth besitzt aber keinen Instrumenten-
0041macher. Es soll dieses Capitel nicht weiter ausgemalt werden,
0042welches mit dem Motto: „Wer nie sein Brot in Bayreuth 
0043aß“ sich besser für humoristische Behandlung eignet. Nur
0044meine, hier gründlich bestärkte Ueberzeugung wollte ich aus-
0045sprechen, daß ein großes künstlerisches Unternehmen auch in
0046eine große Stadt gehört.


0047Und die Bestimmung des Wagner-Theaters? Besteht
0048es, so wird jetzt häufig gefragt, wirklich nur für den „Ring
0049des Nibelungen“? Wagner’s Antwort lautete anfangs:
0050„Diese neue Institution soll zunächst nichts Anderes bieten,
0051als den örtlich fixirten Vereinigungspunkt der
0052besten theatralischen Kräfte Deutschlands
 
0053zu Uebungen und Aufführungen in einem höheren Original-
0054styl ihrer Kunst.“ Also Mustervorstellungen als solche. In
0055seinem „Schlußbericht“ zieht Wagner den Kreis schon enger
0056und meint, daß die Bayreuther Aufführungen „in immer
0057weiterer Ausdehnung vielleicht jede Gattung dramatischer
0058Arbeiten“ aufnehmen dürften, welche der Originalität 
0059ihrer Conception und ihres wirklich deutschen Styles 
0060wegen auf eine besonders correcte Aufführung Anspruch er-
0061heben können“. Daß hierunter nicht ursprünglich italienische
0062Opern, wie „Don Juan“, oder französische, wie „Armida“, auch
0063nicht mit gesprochenem Dialog versetzte, wie „Der Freischütz“ oder
0064Fidelio“ gemeint sind, weiß jeder in Wagner’s Schriften Belesene.
0065Es wäre auch wirklich ein thörichtes Unternehmen, eigens
0066nach Bayreuth zu reisen, um Opern von Mozart, Beethoven 
0067und Weber zu hören, die man an unseren Hoftheatern gut
0068genug aufzuführen pflegt. Niemand macht sich mehr eine
0069Illusion darüber, daß der für die Nibelungen errichtete 
0070Theaterbau auch fortan nur den Nibelungen gehört. Dabei
0071drängt sich aber unwillkürlich das Dilemma auf: Entweder
0072ist Wagner’s „Nibelungenring“ wirklich blos in diesem
0073„Bühnenfestspielhause“ aufführbar — dann stünde Wagner’s
0074ungeheure Arbeit in gar keinem Verhältniß zu dem schnell
0075verrauschenden Erfolg — oder das Werk kann und soll auch
0076auf anderen großen Theatern dargestellt werden — dann
0077erscheint der Bau eines so kostspieligen eigenen Theaters doch
0078als ein sonderbarer Luxus. So unerbittlich aber Wagner 
0079auch unsere Theater verdammt, mit denen er „nie wieder in
0080Berührung kommen“ will, es drängt doch Alles zu unserer
0081zweiten Annahme, und Wagner selbst wird sich schwerlich
0082dagegen stemmen. Jedes ernste Kunstwerk will mehrmals
0083gehört sein; es erreicht seine volle Wirkung und Würdigung
0084erst durch den wiederholten, periodisch wiederkehrenden Ein-
0085druck. Das Hauptwerk seines ganzen Lebens auf Bayreuth 
0086beschränken zu wollen, gliche fast einem künstlerischen Selbst-
0087mord. Die Anzahl der wohlhabenden Bayreuth-Pilger ist
0088lange nicht so groß, als Wagner sie für sein Werk wünschen
0089muß; am wenigsten repräsentiren diese „Patronatsherren“
0090das deutsche Volk, für welches ja der „Nibelungenring“
0091bestimmt sein soll. Will Wagner mit seiner größten
0092Schöpfung nicht blos eine Handvoll Menschen an Einem
0093Orte und ein- für allemal ergötzt haben, sondern
0094damit Wurzel fassen in der Nation, dann muß
0095er sie ohneweiters den verwünschten „Opernbühnen“
0096anvertrauen. In der That steht bereits fest, daß Wien 
0097demnächst die „Walküre“, München sogar die ganze
0098Trilogie aufführen wird. Diese Bühnen werden, wenn ich
0099nicht irre, das Werk wol mit etwas geringerem Maschinen-
0100zauber, aber musikalisch zufriedenstellend darstellen können.
0101Sollte der „Nibelungenring“ in Wien, München, Berlin,
0102Dresden keine Lebensfähigkeit bewähren, blos weil etwa die
0103farbigen Dämpfe da weniger qualmen, die Rheintöchter un-
0104eleganter schwimmen und die Walküren langsamer reiten,
0105dann müßte es mit der Hauptsache, mit dem musikalischen [2]
0106Kern des Werkes schlecht bestellt sein. Je echter und stärker
0107die innere poetische Kraft eines dramatischen Werkes, desto
0108leichter verträgt es Unvollkommenheiten der Darstellung und
0109Ausstattung. „Don Juan“ und der „Freischütz“, „Egmont“
0110und die „Räuber“ packen die Gemüther auch in bescheidenen
0111Provinztheatern. Und Wagner’s Opern selbst, diejenigen,
0112welchen er seinen Ruhm, seine Beliebtheit und damit die
0113Möglichkeit des ganzen Bayreuther Unternehmens verdankt
0114— „Tannhäuser“, „Holländer“, „Lohengrin“ — sie haben
0115auf kleinen Bühnen ihm den größten Anhang erobert. Der
0116glänzendste Erfolg der „Nibelungen“ in Bayreuth — er
0117war ja so gut wie assecurirt — ist noch keine Goldprobe für
0118Werth und Wirkung dieser Composition. Dazu ist nothwendig,
0119daß nunmehr Bayreuth nach Europa reise, nachdem Europa 
0120nach Bayreuth gereist ist. Einmal kam der Berg zum
0121Propheten, jetzt wird der Prophet zum Berge müssen.


0122Das Wagner-Theater selbst gehört zu den interessante-
0123sten und belehrendsten Sehenswürdigkeiten. Nicht durch sein
0124Aeußeres, das architektonisch dürftig ist und nur durch seine
0125Lage imponirt, sondern durch die sinnreiche Neuheit der in-
0126neren Einrichtung. Gleich der Eintritt in den Zuschauer-
0127raum überrascht: amphitheatralisch im Halbkreis aufsteigende
0128Sitzreihen, hinter welchen eine niedrige Galerie, die „Fürsten-
0129loge“, sich erhebt. Sonst keine Loge im ganzen Hause, an
0130deren Stelle Säulen rechts und links. Der Zuschauer sieht von
0131jedem Sitze gleich gut und ungehemmt die Vorgänge auf der
0132Bühne, und nichts als diese. Bei Beginn der Vorstellung wird der
0133Zuschauerraum vollständig verfinstert; die hellerleuchtete Bühne,
0134auf welcher weder Seiten- noch Fußlampen sichtbar werden,
0135erscheint wie ein farbenglänzendes Bild in dunklem Rahmen.
0136Manche Scenen wirken fast wie Transparentbilder oder An-
0137sichten in einem Diorama. Wagner erhebt damit den
0138Anspruch, „das scenische Bild solle dem Zuschauer in der
0139Unnahbarkeit einer Traumerscheinung sich zeigen“. Am merk-
0140würdigsten ist das unsichtbare Orchester, der „mystische
0141Abgrund“, wie es Wagner nennt, „weil er die Realität von
0142der Idealität zu trennen habe“. Das Orchester ist so tief 
0143gelegt, daß man an den Maschinenraum eines Dampf-
0144schiffes gemahnt wird. Ueberdies ist es durch eine
0145Art Blechdach fast gänzlich verdeckt. Die Musiker ha-
0146ben nicht den geringsten Ausblick auf die Bühne oder
0147auf das Publicum, nur der Capellmeister kann die Sänger
0148sehen, nicht aber die Zuschauer. Den genialen Gedanken
0149Wagner’s, uns in der Oper von dem störenden Anblick all
0150der geigenden, blasenden und schlagenden Musiker zu befreien,
0151habe ich längst und wiederholt gewürdigt und dafür, nach
0152dem Münchener Vorbild, Propaganda zu machen versucht.
0153In seinem Bayreuther Theater scheint mir jedoch damit zu
0154weit gegangen, oder besser gesagt, zu tief, denn ich vermißte
0155das ganze „Rheingold“ hindurch zwar nicht die Deutlichkeit,
0156aber den Glanz des Orchesters. Selbst die stürmischesten
0157Stellen klangen wie gedämpft und verdeckt. Den Sängern
0158geschieht damit ohne Frage eine Wohlthat, aber doch ein
0159wenig auf Kosten der Instrumental-Partie, welcher ja gerade
0160in diesem Werke das Bedeutendste und Schönste anvertraut
0161ist. Nach dem gedämpften Klang würde kaum Jemand die
0162numerische Stärke dieses Orchesters vermuthen, dessen acht
0163Harfen zum Beispiel wie zwei oder drei klingen. Aber nicht
0164nur in Hauptsachen, wie die Stellung des Orchesters, auch
0165in Nebendingen ist Wagner bemüht gewesen, neue Anordnun-
0166gen zu treffen, um so wenig als möglich an unsere „Opern-
0167theater“ zu erinnern. So wird das Zeichen zum Anfang des
0168Stückes und zu jedem Akt nicht durch Glockensignale, sondern
0169durch eine Trompeten-Fanfare gegeben; der Vorhang geht
0170nicht auf und nieder, sondern in der Mitte auseinander und
0171so weiter.


0172Ueber das Vorspiel „Rheingold“, das gestern in
0173überwiegend guter, theilweise vortrefflicher Aufführung den
0174Anfang des Festspiels machte, soll demnächst im Zusammen-
0175hang mit den drei folgenden Stücken berichtet werden. In
0176aller Kürze möchte ich den Eindruck dieses ersten Abends als
0177einen scenisch blendenden, aber musikalisch dürftigen und er-
0178müdenden bezeichnen. In letzterer Hinsicht wird er ohne
0179Frage von den drei folgenden Abenden übertroffen werden.