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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4305. Wien, Sonntag, den 20. August 1876

[1]

R. Wagner’s Bühnenfestspiel in Bayreuth.

3. Die Musik.

Bayreuth, 18. August.


0004Ed. H. Gestern hatten wir die „Götterdämmerung“
0005als Schluß des ganzen Cyklus. Mit der nunmehr vollstän-
0006digen Ausführung des Bayreuther Programms ist die Musik
0007der Zukunft eine Macht der Gegenwart geworden. Aeußerlich
0008wenigstens und für den Augenblick. Auf kunstgeschichtliche
0009Weissagungen läßt der Kritiker sich ebenso ungern ein, als
0010ernsthafte Astronomen auf das Wetterprophezeien; so viel
0011jedoch hat uns jetzt die größte Wahrscheinlichkeit: daß der
0012Styl von Wagner’s „Nibelungen“ nicht die Musik der Zu-
0013kunft sein wird, sondern höchstens eine von vielen. Viel-
0014leicht auch nur ein Gährungsferment für neue, zum Alten
0015wieder rückgreifende Entwicklungen. Denn Wagner’s jüngste
0016Reform besteht nicht in einer Bereicherung, Erweiterung, Er-
0017neuerung innerhalb der Musik, in dem Sinne, wie es die
0018Kunst von Mozart, Beethoven, Weber, Schumann gewesen;
0019sie ist im Gegentheil ein Umdrehen und Umzwängen der
0020musikalischen Urgesetze, ein Styl gegen die Natur des mensch-
0021lichen Hörens und Empfindens. Man könnte von dieser
0022Tondichtung sagen: Sie hat Musik, aber sie ist keine. Um
0023gleich Eines zur vorläufigen Orientirung des Lesers hervor-
0024zuheben: Wir hören durch vier Abende auf der Bühne
0025singen, ohne selbstständige, ausgeprägte Melodie, ohne ein
0026einziges Duett, Terzett, Ensemble, ohne Chöre oder Finale!
0027Dies allein beweist schon, daß hier das Messer nicht an über-
0028lebte Formen, sondern an die lebendige Wurzel der drama-
0029tischen Musik gelegt ist. Opernfreunde, welche „Tristan“ und
0030den „Nibelungenring“ nicht kennen, geben sich meistens dem
0031Argwohn hin, die Gegner dieser Spätgeburten Wagner’s seien
0032Gegner Wagner’s überhaupt. Sie denken dabei immer nur
0033an den „Holländer“ oder „Tannhäuser“, welche doch von
0034Wagner’s neuester Musik so fundamental verschieden sind, 
0035als zwei Dinge innerhalb derselben Kunst nur sein können.
0036Man kann den „Tannhäuser“ für eine der schönsten Opern
0037und trotzdem die „Nibelungen“ für das gerade Gegentheil
0038halten, ja eigentlich muß man es dann. Denn was das
0039Glück von Wagner’s früheren Opern machte und zu machen
0040noch fortfährt, ist die stete Verbindung des schildernden,
0041specifisch dramatischen Elements mit dem Reiz der faßlichen
0042Melodie, die Abwechslung des Dialogs mit musikalisch ge-
0043dachten und geformten Ensembles, Chören, Finalen. Alles was
0044an diese Vorzüge mahnt, hat Wagner in den „Nibelungen“
0045bis auf die Spur getilgt. Selbst die „Meistersinger“, in
0046welchen die abgeschlossene Gesangsmelodie seltener, aber dafür
0047in einigen Pracht-Exemplaren auftritt (Preislied, Quartett,
0048Chöre im letzten Act), erscheinen daneben als ein musikalisch
0049reizvolles und gemeinfaßliches Werk.


0050Wagner’s „Nibelungenring“ ist in der That etwas völlig
0051Neues, von allem Früheren Grundverschiedenes, ein für sich
0052allein dastehendes Unicum. Als solches, als ein geistreiches, für
0053den Musiker unerschöpflich lehrreiches Experiment wird das
0054Werk seine bleibende Bedeutung haben. Daß es jemals ins
0055Volk dringen werde, wie die Opern Mozart’s oder Weber’s,
0056scheint mir aus der Natur desselben ganz unwahrscheinlich.
0057Drei Hauptpunkte sind es, welche diese Musik von allen bis-
0058herigen Opern, auch von Wagner’schen, principiell unter-
0059scheiden. Erstens: das Fehlen der selbstständigen, abgeschlosse-
0060nen Gesangsmelodien, an deren Stelle eine Art er-
0061höhter Recitation tritt, mit der „unendlichen Melodie“ im
0062Orchester als Basis. Zweitens: die Auflösung jeglicher
0063Form, nicht blos der herkömmlichen Formen (Arie, Duett etc.),
0064sondern der Symmetrie, der nach Gesetzen sich entwickelnden
0065musikalischen Logik überhaupt. Endlich drittens: die Aus-
0066schließung der mehrstimmigen Gesangsstücke, der
0067Duette, Terzette, Chöre, Finale, bis auf einige verschwindend
0068kleine Ansätze.


0069Hören wir des Meisters eigene Worte über seine neue
0070musikalische Methode in den „Nibelungen“. „Er habe,“ sagt
0071Wagner (IX. Bd., S. 366), „den dramatischen Dialog 
0072selbst zum Hauptstoff auch der musikalischen Ausfüh-
0073rung erhoben, während in der eigentlichen „Oper“ die der
0074Handlung um dieses Zweckes willen eingefügten Momente
0075lyrischen Verweilens zu der bisher einzig für möglich erachte-
0076ten musikalischen Ausführung tauglich gehalten wurden. Die
0077Musik ist es, was uns, indem sie unabhängig die Motive
0078der Handlung in ihrem verzweigtesten Zusammenhange uns
0079zur Mitempfindung bringt, zugleich ermächtigt, eben diese
0080Handlung in drastischer Bestimmtheit vorzuführen; da die
0081Handelnden über ihre Beweggründe im Sinne des reflectiren-
0082den Bewußtseins sich uns nicht auszusprechen haben, gewinnt
0083hier der Dialog jene naive Präcision, welche das Leben des
0084Dramas ausmacht.“ Das liest sich sehr schön, aber in der
0085Ausführung ist Wagner’s Absicht keineswegs erreicht und die
0086totale Verschmelzung von Oper und Drama 
0087nach wie vor ein Wahn. Wagner unterbindet durch diese an-
0088gebliche Gleichberechtigung von Wort und Ton gleichmäßig
0089die Wirkung des einen wie des andern. Der Ton will sich
0090ausbreiten, das Wort weiterdrängen, darum gehört natur-
0091gemäß der fortlaufende Dialog dem Drama, die gesungene
0092Melodie der Oper. Diese Scheidung ist nicht das Widerna-
0093türliche, im Gegentheile ist Wagner’s Methode, beide Kunst-
0094gattungen in Eine aufzuheben, widernatürlich. Das unna-
0095türliche Singsprechen oder Sprechsingen der Wagner’schen
0096Nibelungen“ ersetzt uns weder das gesprochene Wort des
0097Dramas, noch das gesungene der Oper. Ersteres schon darum
0098nicht, weil man bei den meisten Sängern den Text gar nicht
0099versteht, und selbst bei den besten nur stellenweise. Da aber
0100der scenischen Wirkung wegen der Zuschauerraum des „Fest-
0101spielhauses“ gänzlich verfinstert wird, so entfällt jede Mög-
0102lichkeit, im Textbuche während der Vorstellung nachzusehen.
0103Wir sitzen daher rathlos und gelangweilt diesen unendlich
0104langen Dialogen der Sänger gegenüber, gleichzeitig dürstend nach
0105der deutlichen Rede, wie nach der allzeit verständlichen Melodie.
0106Und was für ein Dialog! Niemals haben Menschen so mit
0107einander gesprochen (wahrscheinlich auch Götter nicht). Hin- 
0108und herspringend in entlegenen Intervallen, immer langsam, [2]
0109pathetisch, übertrieben, und im Grunde Einer genau wie der
0110Andere. Nachdem im „Musikdrama“ die handelnden Perso-
0111nen nicht durch den Charakter ihrer Gesangsmelodien unter-
0112schieden werden, wie in der alten „Oper“ (Don Juan 
0113und Leporello, Donna Anna und Zerline, Max und
0114Caspar), sondern in dem physiognomischen Pathos ihres
0115Sprechtons einander sämmtlich gleichen, so trachtet Wagner 
0116diese Charakteristik durch sogenannte Erinnerungs- oder Leit-
0117motive im Orchester zu ersetzen. Bekanntlich gab Wagner 
0118dieser musikalisch-psychologischen Hilfe eine größere Ausdeh-
0119nung schon im „Tannhäuser“ und „Lohengrin“, er steigerte
0120sie zum Uebermaß in den „Meistersingern“ und complicirt sie
0121in den „Nibelungen“ zum förmlichen Rechen-Exempel. Leicht
0122behält man die paar melodisch und rhythmisch prägnanten Leit-
0123motive des „Tannhäuser“ oder „Lohengrin“. Aber wie ge-
0124bahrt Wagner damit in den „Nibelungen“? Darauf ant-
0125wortet uns eine hier überall zum Verkauf ausgebotene Bro-
0126schüre von H. v. Wolzogen: „Thematischer Leit-
0127faden
“, ein musikalischer Bädeker, ohne welchen hier kein
0128anständiger Tourist auszugehen wagt. Fern von Bayreuth 
0129dürfte man ein solches Handbuch komisch finden; das Ernst-
0130hafte und Traurige daran ist nur — daß es nothwendig ist. Nicht
0131weniger als neunzig Stück Leitmotive führt Herr v. Wolzogen 
0132mit Namen und Noten auf, welche der geplagte Festspiel-
0133besucher sich einprägen und in dem Tongedränge von vier
0134Abenden überall herauskennen soll. Nicht blos Personen,
0135auch leblose Sachen haben hier ihre Leit- oder Leibmotive,
0136die bald da, bald dort auftauchen und in die mysteriösesten
0137Beziehungen zu einander treten. Da haben wir das Ring-
0138motiv, die Motive der Knechtung, der Drohung, des Rhein-
0139goldes, das Riesen- und Zwergenmotiv, das Fluchtmotiv,
0140das Tarnheim-Motiv, das Leitmotiv „des matten Siegmund“,
0141das Schwert-, das Drachen-, das Rachewahnmotiv, die
0142Motive Alberich’s, Siegfried’s, Wotan’s u. s. f. bis Nr. 90.
0143Diese reiche musikalische Garderobe, die jeder der Helden
0144mitbekommt, wird aber nur zu seinen Füßen, im Orchester,
0145gewechselt, auf der Bühne haben sie von Melodieen gar nichts 
0146an. Mit wenigen Ausnahmen (Walkürenritt, Walhalla,
0147Ambosmotiv, Siegfried’s Hornruf) sind diese Leitmotive im
0148Nibelungenring“ von geringer melodiöser und rhythmischer
0149Prägung, aus wenigen Noten bestehend und einander häufig
0150ähnelnd. Nur ein ungewöhnlich begnadetes Ohr und Ge-
0151dächtniß wird sie alle zu behalten vermögen. Und gelingt
0152uns dies, haben wir wirklich erkannt, daß das Orchester
0153hier eine Anspielung auf die Götter, dort auf die Riesen,
0154dann auf die Götter und Riesen zugleich macht —
0155was ist damit Großes gewonnen? Ein reiner Ver-
0156standesproceß, ein reflectirtes Vergleichen und Beziehen —
0157die „Nibelungen“-Musik weist fortwährend neben und
0158über sich hinaus. Ein volles Genießen und Empfinden wird
0159unmöglich, wenn Verstand und Gedächtniß ununterbrochen
0160auf der Lauer stehen sollen, um Anspielungen zu fangen.
0161Diese mystisch-allegorische Tendenz in Wagner’s „Nibelungen-
0162ring“ erinnert vielfach an den zweiten Theil des Goethe’schen
0163Faust“, welcher ja gerade dadurch an seiner poetischen Wir-
0164kung einbüßt, weil der Dichter so viel „hineingeheimnißt“
0165hat, was nun als Räthsel den Leser quält. Manches gol-
0166dene Wort, das Vischer in seinem neuesten Buche über
0167das allegorische Wesen des zweiten Theiles ausspricht, paßt
0168auf den Charakter des neuesten Wagner’schen Musikdramas.
0169Auch dieses ist in Text und Musik „eine Dichtung, die man
0170ohne gelehrten Schlüssel nicht versteht, die daher bemüht und
0171beunruhigt, statt zu erfreuen“. Freilich kommen wir schließ-
0172lich auch auf Vischer’s Resultat, daß, „wo es sich um
0173ästhetische Diagnose handelt, sich durch den Beweis 
0174leider nichts erreichen läßt“. Ob ein bestimmtes Tonwerk der
0175Tiefe musikalischer Empfindung entquollen sei oder aus der
0176Retorte geistreicher Berechnung, das kann, so evident es dem
0177Einzelnen einleuchtet, wissenschaftlich nicht bewiesen werden.
0178Es scheint mir Vischer’s Satz für die Musik ganz vorzugs-
0179weise zu gelten, „daß man das Gefühl der Schönheit des
0180poetischen Lebens Niemandem andemonstriren kann“. In der
0181alten, vornibelungischen „Oper“ folgt die Composition den
0182allgemeinen Gesetzen musikalischer Logik, bildet eine Reihe 
0183durch sich selbst verständlicher, abgeschlossener Organismen.
0184Die Meister gaben uns in der „Oper“ Musik, die durch die
0185Einheit verständlich, durch ihre Schönheit erfreuend und
0186dabei durch ihre innigste Uebereinstimmung mit der Hand-
0187lung dramatisch war. Sie haben hundertfach gezeigt, daß
0188die von Wagner verpönte „absolute Melodie“ zu-
0189gleich eminent dramatisch sein und in mehrstimmi-
0190gen Sätzen, namentlich in den Finales, die fortschreitende
0191Handlung energisch zusammenfassen und abschließen kann.
0192Den mehrstimmigen Gesang, Duette, Terzette, Chöre, als
0193angeblich „undramatisch“ aus der Oper entfernen, heißt die
0194werthvollste Errungenschaft der Tonkunst ignoriren und um
0195zwei Jahrhunderte zurück wieder in die Kinderschuhe treten.
0196Es ist der schönste Besitz, der eigenthümlichste Zauber der
0197Musik, ihr größter Vortheil vor dem Drama, daß sie zwei
0198und mehrere Personen, ganze Volksmengen kann zugleich 
0199sich aussprechen lassen. Diesen Schatz, um den der Dichter
0200den Musiker beneiden muß, wie dies Schiller bei der
0201Dichtung seiner „Braut von Messina“ so tief empfand, hat
0202Wagner als überflüssig zum Fenster hinausgeworfen. Es
0203mögen im „Nibelungenring“ zwei, drei oder sechs Personen
0204auf der Bühne nebeneinanderstehen, niemals singen (von ver-
0205schwindend kleinen Ausnahmen abgesehen) zwei zugleich;
0206immer nur, wie bei einer Gerichtsverhandlung, Einer nach
0207dem Andern. Welche Qual es ist, diesen gesungenen Gänse-
0208marsch den ganzen Abend zu verfolgen, weiß nur, wer es
0209selber erlebt hat. Indem aber Wagner durch vier Abende
0210hintereinander die Tyrannei dieses monodischen Styls fort-
0211setzt, zwingt er uns mit fast selbstmörderischer Deutlichkeit,
0212den Widersinn seiner Methode zu begreifen und nach der
0213vielgeschmähten alten „Oper“ uns zurückzusehnen. Dazu
0214kommt noch der Uebelstand der unerhört langen Ausdehnung
0215der einzelnen Scenen und Gespräche. Wir verkennen nicht
0216den neuen Zug von Größe und Erhabenheit, den Wagner 
0217seinem Werke dadurch verleiht, daß jeder Act nur zwei bis
0218drei Scenen enthält, die sich in ruhigster Breite entfalten,
0219ja häufig als plastische Bilder stillzustehen scheinen. Von dem [3]
0220unruhigen Scenenwechsel und der Ueberfülle an Handlung in
0221unserer „großen Oper“ unterscheidet sich der „Nibelungenring“
0222am vortheilhaftesten gerade durch diese Einfachheit. Allein
0223eine geradezu epische Breite darf das Drama nicht dergestalt
0224auseinanderzerren. Es ist schwer, zu begreifen, wie ein so
0225theaterkundiger, dramatischer Componist plötzlich allen Sinn
0226für Maßverhältnisse verlieren kann und nicht empfindet, daß
0227Gespräche, wie die des Wotan mit Fricke, mit Brunhilde,
0228mit Mime etc., die Geduld des Hörers aufs äußerste fol-
0229tern, ihn durch ihre unersättliche Redseligkeit nachgerade
0230gänzlich abstumpfen müssen. Für die unerhörte Länge der
0231Walhalla-Scenen im „Rheingold“, aller Gespräche im zwei-
0232ten Acte der „Walküre“, der „sechs Fragen“ im „Sieg-
0233ried“ u. s. w. sucht man vergebens nach einem dramatischen
0234oder musikalischen Grunde. Ein beredter Anwalt Wagner’s,
0235der geistvolle Louis Ehlert, räth in seiner Kritik von
0236Tristan und Isolde“, man möchte, um diese Oper lebens-
0237fähig zu machen, jede Nummer derselben beträchtlich kürzen.
0238Nun darf man wol fragen: Wo gab es jemals einen wirklich
0239dramatischen Componisten, aus dessen Opern man jedes
0240Musikstück beliebig und ohne Schaden zusammenstreichen kann?
0241Beim Anhören des „Nibelungenring“ gewannen wir aber
0242vollständig dieselbe Ueberzeugung, daß jede Scene die aus-
0243giebigsten Striche ohne den mindesten Nachtheil ver-
0244trüge, daß sie jedoch andererseits in diesem Styl auch
0245noch beliebig länger ausgesponnen werden könnte. Die
0246neue Methode des „dialogischen Musikdramas“ weist näm-
0247lich jedes musikalische Maß von sich, sie ist das formlos Un-
0248endliche. Wagner protestirt freilich dagegen, daß man seine
0249„Bühnenspiele“ vom Standpunkte der Musik beurtheile. Aber
0250warum macht er dann Musik, und sehr viel Musik, ganze
0251vier Abende lang Musik? An vielen Stellen tauchen aller-
0252dings musikalische Schönheiten von hinreißender Wirkung auf,
0253Starkes wie Zartes—es ist, als ob sich da der neue Wagner 
0254an den alten erinnerte. Wir werden die glänzendsten dieser
0255Einzelheiten noch aufzuzählen Gelegenheit haben und erinnern
0256an den Gesang der Rheintöchter im ersten und vierten, an 
0257das Lenzlied Siegmund’s und den Feuerzauber im zweiten,
0258an das Waldweben und den Anfang des Liebesduetts im
0259dritten Stück. In der Bayreuther Vorstellung konnte man
0260beobachten, wie jede solche Knospe einer aufblühenden Me-
0261lodie von den Zuschauern mit sichtlichem Entzücken wahr-
0262genommen und förmlich ans Herz gedrückt wird. Erscheint
0263gar nach zweistündiger monodischer Steppe ein Stückchen
0264mehrstimmigen Gesangs — die Schlußaccorde der drei Rhein-
0265töchter, das Zusammensingen der Walküren, die paar Terzen
0266am Schlusse des Liebesduetts im „Siegfried“, da geht
0267es wie ein freudiger Erlösungsschauer nach langer
0268Gefangenschaft über die Mienen der Hörer. Das sind
0269sehr beachtenswerthe Symptome. Sie geben lautes
0270Zeugniß, daß die musikalische Natur im Menschen sich
0271auf die Länge nicht verleugnen, nicht knebeln läßt,
0272daß die neue Methode Wagner’s nicht eine Reform über-
0273lebter Traditionen, sondern ein Angriff auf die uns ein-
0274geborene und durch jahrhundertelange Erziehung ausgebildete
0275musikalische Empfindung ist. Und mag dieser Angriff auch
0276mit den glänzendsten Waffen des Geistes unternommen sein
0277— die Natur widersteht ihm und wirft den Belagerer ge-
0278legentlich mit einigen Rosen und Veilchen zurück.


0279Die bildnerische Kraft von Wagner’s Phantasie, die er-
0280staunliche Meisterschaft seiner Orchester-Technik und zahlreiche
0281musikalische Schönheiten walten in den „Nibelungen“ mit
0282einer magischen Gewalt, der wir uns willig und dankbar ge-
0283fangen geben. Diese Einzelschönheiten, welche sich gleichsam
0284hinter dem Rücken des Systems einschleichen, hindern nicht,
0285daß dieses System, die Tyrannei des Wortes, des me-
0286lodielosen Dialogs und der tristen Einstimmigkeit den Todes-
0287keim in das Ganze legt. Mit dämonischem Zauber umfängt
0288uns die fremdartige Farbenpracht, der berückende Duft des
0289Orchesters im „Nibelungenring“. Aber wie Tannhäuser im
0290Venusberge nach den liebgewohnten Glockenklängen der Erde,
0291so sehnen wir uns bald aus tiefstem Herzen nach dem me-
0292lodischen Segen unserer alten Musik. „Hör’ ich sie nie, hör’
0293ich sie niemals wieder?“