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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4312. Wien, Sonntag, den 27. August 1876

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R. Wagner’s Bühnenfestspiel in Bayreuth.

4. Die Aufführung und ihr Total-Eindruck.

Bayreuth, 19. August.


0004Ed. H. *) In meinem letzten Briefe habe ich den Cha-
0006rakter der „Nibelungen“-Musik zu schildern versucht, so gut
0007es mir eben die geistige und physische Bedrängniß dieses Bay-
0008reuther Aufenthaltes gestattete. Noch immer unter der nach-
0009drückenden Wucht des kaum Ueberstandenen muß der Be-
0010richterstatter heute von der Totalwirkung des ganzen Fest-
0011spiels erzählen. Für ein abschließendes letztes Wort wird eine
0012größere zeitliche und räumliche Entfernung abzuwarten sein.


0013Der Eindruck von Wagner’s „Nibelungenring“ auf das
0014Publicum ward nicht vorwiegend von der Musik bestimmt,
0015sonst hätte er schon nach den beiden ersten Abenden ein
0016total niederdrückender heißen müssen. Wagner’s Vielseitigkeit,
0017ohne Frage die glänzendste Seite seiner Begabung, läßt ihn
0018zugleich mit dem Special-Talent des Musikers, des Malers,
0019des Textdichters und des Regisseurs arbeiten und erzielt
0020häufig durch die drei Letzteren, was der Erste allein nicht
0021bewirkt hätte. Insbesondere die malerische Phantasie
0022Wagner’s arbeitet rastlos in den „Nibelungen“, von ihr
0023scheint der erste Anstoß ausgegangen zu mancher Scene. Be-
0024trachtet man die Photographien der von Joseph Hoff-
0025mann
so poesievoll erfundenen Decorationen, so geräth
0026man unwillkürlich auf den Gedanken, es mögen in Wagner’s
0027Einbildungskraft zuerst solche Bilder aufgestiegen sein und
0028dann die entsprechende Dichtung und Musik nachgezogen
0029haben. So ist es gleich mit der ersten Scene des „Vor-
0030spiels“. Die im Rheine singenden und schwimmenden Rhein-
0031töchter, durch 136 Tacte lang nur von dem zerlegten
0032Es-dur-Dreiklang umfluthet, geben für sich ein Tableau,
0033welches man gar nicht genau auf die Musik ansieht. Die
0034Scene wirkte in Bayreuth um so günstiger, als die Decoration
0035und die von unten dirigirte Maschinerie der Schwimmenden voll-
0036ständig gelungen war. Von da an sinkt der musikalische
0037Reiz des „Rheingold“ rasch abwärts, und da parallel damit 
0038die Empfänglichkeit des durch nahezu drei Stunden ohne
0039Unterbrechung festgehaltenen Hörers versiegt, so scheidet man
0040mit dem Eindruck tödtlicher Monotonie. **) Als Ganzes wird
0043dieses „Rheingold“ wirklich nur auf die beispiellose Autorität
0044Wagner’s hin angenommen, theils vom blinden Enthusias-
0045mus, theils vom geheuchelten. Ungemein stimmungsvoll be-
0046ginnt das zweite Drama, die „Walküre“, mit dem Ein-
0047tritte des verfolgten Siegmund in Hunding’s Haus. Die
0048langweilige Breite der Tischscene (Siegmund, Hunding 
0049und Sieglinde) verschmerzen wir allmälig im Verlaufe des
0050Liebesduetts zwischen Siegmund und Sieglinde, in welche der
0051B-dur-Satz „Winterstürme weichen dem Wonnemond“ wie
0052langentbehrter Sonnenschein einfällt. Da labt uns doch ein
0053Strahl melodiösen, getragenen Gesanges! Trotzdem wollte
0054dieser erste Act der „Walküre“, den wir nach der Partitur
0055für die Krone des Werkes angesehen, nicht ganz die gehoffte
0056Wirkung erreichen. Die hier unzureichende, des Schmelzes
0057entbehrende Stimme des Tenoristen mochte daran theilweise
0058schuld sein. Mit dem zweiten Acte öffnet sich ein Abgrund
0059von Langweile. Gott Wotan tritt auf, hält erst ein langes
0060Gespräch mit seiner Gemalin und dann (zu Brunhilde ge-
0061wendet) einen autobiographischen Vortrag, der acht volle
0062Seiten des Textbuches füllt. Diese im langsamen Tempo,
0063ganz melodielos vorgetragene Erzählung umfängt uns wie
0064ein trostlos weites Meer, in welchem nur die kümmerlichen
0065Brocken einiger „Leitmotive“ uns aus dem Orchester ent-
0066gegenschwimmen. Scenen wie diese mahnen an die im Mittel-
0067alter beliebte Folter, den schlaftrunkenen Gefangenen, so oft
0068er einnickt, mit Nadelstichen wieder aufzuwecken. Wir
0069hörten selbst von Wagnerianern diesen zweiten Act
0070als ein Unglück für das Ganze bezeichnen — ein
0071sehr unnöthiges Unglück, da mit zwei Strichen die beiden
0072Scenen getilgt wären, die kaum Jemand vermissen wird.
0073Hat doch die „Walküre“ überhaupt nur einen sehr losen
0074Zusammenhang mit der Handlung des Ganzen; wir erfahren
0075darin von dem verhängnißvollen Ring nichts, was wir nicht
0076schon im „Rheingold“ gesehen haben, und für die Folge ist
0077nur der Schluß der Oper, die Bestrafung und Verzauberung 
0078Brunhilde’s, wichtig. Musikalisch erhebt sich der dritte Act
0079wieder zu bedeutenderer Kraft und Fülle. Zunächst durch
0080die Walküren, deren allerdings wüstes Miteinander- und
0081Durcheinandersingen die Scene wohlthätig belebt. Der
0082Walkürenritt und der Feuerzauber sind als
0083zwei Prachtstücke kühner Tonmalerei aus Concert-Auffüh-
0084rungen männiglich bekannt. In meinen Berichten über diese
0085Concert-Aufführungen hatte ich, auf den dramatischen Zu-
0086sammenhang rechnend, diesen beiden Stücken einen noch viel
0087größeren Effect auf der Bühne prophezeit, als sie in Bay-
0088reuth zu erreichen schienen. Ein doppelter Grund dürfte dies
0089erklären: einmal hat der „mystische Abgrund“ des Bay-
0090reuther Theaters nicht entfernt den hinreißenden Glanz und
0091Schwung eines freistehenden Concert-Orchesters, sodann be-
0092kommt der Hörer diese beiden Effectstücke erst gegen den
0093Schluß der Oper, also von dem Vorhergehenden bereits er-
0094mattet und abgestumpft, zu hören. — Wagner’schen Opern
0095und Scenen darf man ihre größere oder schwächere Bühnen-
0096wirkung nicht nach der Partitur vorhersagen wollen. Das
0097erfuhr ich wieder am „Siegfried“, dem ich eine weit
0098geringere Wirkung als der „Walküre“ zugemuthet hatte, wäh-
0099rend das Gegentheil eintraf. Schon den ersten Act durchweht
0100ein frischer Ton, etwas Realistisches, Naturburschenhaftes,
0101das zwar in den „Schmiedeliedern“ bedenklich in die Rohheit
0102von Hanns Sachsens Schusterlied geräth und durch maßlose
0103Längen die halbe Kraft einbüßt, aber trotzdem im Abstich von
0104dem Stelzengang der beiden früheren Abende erfrischend wirkt.
0105Was soll man aber zu der langen Scene Wotan’s mit dem
0106Zwerg Mime sagen? Einer gibt dem Andern drei Fragen
0107auf, welche Jeder von ihnen mit der Ausführlichkeit eines gut
0108eingepaukten Prüfungs-Candidaten beantwortet — die ganze
0109Scene ist rein überflüssig. Ueberhaupt kann man sicher sein, daß,
0110sobald nur die Spitze von Wotan’s Speer sichtbar wird, eine
0111halbe Stunde nachdrücklichster Langweile garantirt ist. Dieser
0112„hehre Gott“, der überall das Nöthige nicht weiß und das
0113Richtige nicht thut, der im ersten Drama seiner herrschsüch-
0114tigen Frau, im zweiten einem dummen Riesen, im dritten
0115einem kecken Knaben weichen muß, dieser salbungsvolle Pe-
0116dant soll „von dem deutschen Volk“ als göttliches Ideal ver-
0117ehrt werden? Sogar in seiner Abwesenheit weiß er uns das [2]
0118Leben sauer zu machen. Im ersten Act der „Götterdämme-
0119rung“ findet nämlich Wagner keine Gelegenheit, Wotan auf
0120die Bühne zu bringen, da muß eine überflüssige neue Person,
0121Waltraute, in die Handlung hinein, welche der Brunhilde 
0122von dem schlechten Befinden und der traurigen Stimmung
0123Wotan’s eine endlose Schilderung macht. Der zweite Act von
0124Siegfried“ hinterließ mir den erfreulichsten Eindruck von allen;
0125hier ist die Stimmung des „Waldwebens“ (Siegfried in der
0126Morgenfrühe unter einem Baume dem Vogelgesang lauschend)
0127am innigsten empfunden, am überzeugendsten wiedergegeben.
0128Wagner’s virtuose Tonmalerei feiert da ihren echtesten
0129Triumph, weil sie mit natürlicheren Mitteln arbeitet
0130und von rein menschlicher Empfindung getränkt ist.
0131Wäre nicht die barock-lächerliche Scene mit dem singenden
0132Lindwurm, welcher, von Siegfried zu Tode getroffen, senti-
0133mental wird und gleichsam aus Erkenntlichkeit für den Stich
0134ihm seine Biographie erzählt — man könnte diesen Act mit
0135reiner Freude genießen. Im dritten haben wir abermals
0136ein langes Gespräch Wotan’s mit Siegfried zu überstehen;
0137dieser spaltet glücklicherweise den schlafbringenden Speer des
0138göttlichen Nachtwächters und dringt in die „wabernde Lohe“.
0139Für Brunhildens Erwachen findet Wagner die zartesten
0140Töne; auch die folgende Liebesscene blüht anfangs hold und
0141duftig auf, so weit sie dies unter der Tyrannei des „Systems“
0142darf. Leider verstimmt uns der Schluß dieses Zwiegesanges
0143durch seine rauchende Hitze, es ist die Hitze eines überheizten
0144Dampfkessels. Man kennt das exaltirte Stöhnen, Stammeln
0145und Schreien der neuesten Wagner’schen Muse in solchen
0146brünstigen Scenen, nach welchen der Vorhang „sehr
0147schnell“ fällt.


0148Die „Götterdämmerung“ dünkt uns das dramatisch ge-
0149lungenste von allen vier Stücken; hier wandeln wir wieder
0150auf unserer Erde, unter Menschen von Fleisch und Blut.
0151Es entwickelt sich vor uns eine wirkliche Handlung, in welcher
0152allerdings die schon bei der Lectüre so peinlich berührende
0153Einschiebung des „Vergessenheitstrankes“ noch abstoßender
0154und unbegreiflicher erscheint. Mit wahrem Bienenfleiße aus-
0155geführt, noch sorgsamer als die vorhergehenden Dramen,
0156fällt die Musik zur „Götterdämmerung“ doch gegen jene
0157merklich ab. Erschienen uns die drei ersten Dramen steril
0158und unnatürlich in ihrer musikalischen Methode, zum Teile 
0159gewaltsam und abstrus, so durchströmte sie doch, auf frühere
0160Entstehungszeit zurückdeutend, ein rascheres, wärmeres Blut,
0161eine ursprünglichere Erfindung. Auf der „Götterdämmerung“
0162hingegen drückt eine eigenthümliche Müdigkeit und Ermattung
0163etwas wie das nahende Mühsal des Alters. Da will nichts
0164von selbst wachsen und blühen, die neuen Motive sind ganz gering-
0165fügig, der musikalische Bedarf wird größtentheils mosaikartig aus
0166den früheren Leitmotiven bestritten. Der erste Act, zwei volle
0167Stunden spielend, übersteigt alle Grenzen der Geduld, und
0168was nachfolgt, läßt uns nur die Erinnerung an zwei her-
0169vorragende Musikstücke: den charakteristischen Trauermarsch
0170an Siegfried’s Leiche und den Gesang der Rheintöchter, die-
0171ser musikalischen Rettungsengel im „Nibelungenring“. Darüber
0172scheint mir kein Zweifel möglich, daß Wagner’s musikalische Er-
0173findung, jene schöpferische Kraft, welche durch keine Virtuo-
0174sität ersetzt werden kann, stark im Niedergang begriffen ist;
0175das geflügelte Wort von der „Wagner-Dämmerung“, das
0176hier von Mund zu Mund flatterte, birgt eine traurige
0177Wahrheit.


0178Nur angedeutet mit flüchtigen Strichen ist hier der Eindruck
0179der vier „Nibelungen“-Dramen; von einer eingehenden Analyse
0180dieser viertheiligen Riesenoper kann ja in so engem Rahmen
0181keine Rede sein. An einen rein musikalischen Eindruck darf
0182man, wie gesagt, nicht denken. Wagner fühlte wohl, daß der
0183Genuß des Hörens, dieses Hörens, für so lange Theater-
0184haft unzureichend wäre, er gibt daher dem Publicum gar
0185Vielerlei zu sehen. Niemals zuvor ist in einer Oper solche Häu-
0186fung scenischer Wunder vorgekommen. Kunststücke, welche man
0187bisher für unmöglich gehalten oder richtiger, an die man
0188überhaupt gar nicht gedacht, folgen einander Schlag auf
0189Schlag: die tief im Wasser schwimmenden Rheintöchter, die
0190über einen Regenbogen spazierenden Götter, die Verwand-
0191lungen Alberich’s in einen Lindwurm, dann in eine Kröte,
0192der feuerspeiende singende Drache, der Feuerzauber, die Götter-
0193dämmerung u. s. w. Damit hat der Dichter dem Componi-
0194sten den weitesten Spielraum für dessen glänzendste Vir-
0195tuosität, die Tonmalerei, eröffnet. Sollte es aber wirk-
0196lich der höchste Ehrgeiz des dramatischen Componisten
0197sein, zu einer Reihe von Zaubermaschinerien Musik zu
0198machen? Ein erklärter Anhänger Wagner’s, Karl Lemcke,
0199beklagt in seiner überaus wohlwollenden Kritik des 
0200Nibelungenrings“ den schädlichen Einfluß dieser „nach
0201Bosco’s Zaubersaal schmeckenden Kunststücke“, welche einfach
0202zum „Zauberpossen-Cultus“ führen. In der That
0203hat Wagner’s „Nibelungenring“ am meisten Aehnlichkeit mit
0204dem Genre der Zauberstücke und „Feerien“. Zu der reinen
0205Idealität, welche Wagner seinem Werke nachrühmt, stehen
0206diese sehr materiellen Effecte in seltsamem Widerspruch.
0207Wagner arbeitet überall auf den stärksten sinnlichen Eindruck
0208hin, und das mit allen Mitteln. Noch ehe der Vorhang
0209aufgeht, soll das geheimnißvolle Wogen und Klingen des
0210unsichtbaren Orchesters den Hörer in einen leisen Opium-
0211rausch versetzen — noch bevor, bei aufgezogenem Vorhang,
0212eine der handelnden Personen den Mund öffnet, werden wir
0213dem anhaltenden Eindruck einer magisch beleuchteten Märchen-
0214Decoration hingegeben; in den zahlreichen Nachtscenen be-
0215leuchtet grelles elektrisches Licht die Gestalt der Hauptperson,
0216und farbige Dämpfe wallen ab und zu, jetzt zusammen-
0217geballt, dann sich theilend über die Bühne. Diese Dämpfe,
0218die im „Rheingold“ sogar die Stelle des Zwischenvorhangs
0219vertreten, bilden eine Hauptmacht in Wagner’s neuem drama-
0220tischen Arsenal. Als formlos phantastisches, sinnlich berücken-
0221des Element entspricht der aufquellende Dampf ganz beson-
0222ders dem musikalischen Principe Wagner’s. Vergleicht er
0223doch selbst die aus seinem unsichtbaren Orchester erklingende
0224Musik den „unter dem Sitz der Pythia entsteigenden
0225Dämpfen“, welche den Hörer „in einen begeisterten Zu-
0226stand des Hellsehens versetzen“! Von da ist nur noch Ein
0227Schritt zur künstlerischen Einführung bestimmter Düfte und
0228Gerüche auf die Scene — sind sie ja von der Psychologie
0229als besonders stimmungserregend und -verstärkend anerkannt.
0230Wir sprechen im vollen Ernste. Wer wüßte nicht aus
0231den Kindermärchen, daß Feen ein süßer Rosenduft
0232umgibt und der Teufel regelmäßig mit Schwefel-
0233gestank abzieht? Das Princip, in der Oper alle 
0234stimmungsvoll wirkenden Reize zur Verstärkung bestimmter
0235Empfindungen und Vorstellungen zusammenwirken zu lassen,
0236sollte auch die Geruchsnerven zu Mitleid und Mitfreude
0237heranziehen. Alle modernen Fortschritte angewandter Natur-
0238wissenschaft hat sich Wagner dienstbar gemacht; mit Staunen
0239haben wir die riesige Maschinerie, die Gas-Apparate, die
0240Dampfmaschinen auf und unter der Bereiche Bühne ge[3]
0241sehen. Vor Erfindung des elektrischen Lichtes konnten Wagner’s
0242Nibelungen“ ebensowenig componirt werden, als ohne die
0243Harfe und Baßtuba. So ist es das Colorit im weitesten
0244Sinne, das in Wagner’s neuestem Werke die dürftige Zeich-
0245nung verdeckt und eine unerhörte Selbständigkeit usurpirt.
0246Die Analogie des Musikers Wagner mit dem Maler
0247Makart und dem Dichter Hamerling liegt auf der
0248Hand. Durch ihren sinnlich berückenden Zauber wirkt diese
0249Musik als directer Nervenreiz so mächtig auf das große
0250Publicum, das weibliche zumal. Dem Fachmusiker bleibt das
0251Interesse an der hochgesteigerten Orchester-Technik, das ge-
0252spannte Aufhorchen, wie das Alles „gemacht“ ist. Wir halten
0253das Eine wie das Andere nicht für gering; nur darf keines
0254gewaltsam vorherrschen. Weder die technische Gourmandise
0255des Capellmeisters, noch der Haschischtraum der Schwärmerin
0256erfüllen das Wesen und den Segen echter Tondichtung; sie
0257beide sind denkbar und gar oft vorhanden ohne die Seele
0258der Musik.


0259Mit welchen Hoffnungen oder Befürchtungen man nun
0260immer nach Bayreuth gewandert sein mochte, darin vereinigte
0261sich die Ueberzeugung Aller, daß wir ein außerordentliches
0262theatralisches Ereigniß erleben würden. Aber auch diese
0263Erwartung ist nur sehr unvollständig in Erfüllung gegangen.
0264Die sinnreichen Neuerungen Wagner’s in der Anordnung
0265des Theaters haben wir gebührend anerkannt, bezüglich der
0266Maschinerie auch die Scene der schwimmenden Rhein-Nixen 
0267im Vorspiel. Von da an ging es jedoch allmälig abwärts.
0268Daß gleich die erste Verwandlung versagte und von allen
0269Seiten ins Stocken gerieth, wollen wir nicht hoch anschlagen,
0270das kann jedem Theater passiren, wenn es auch gerade dieser seit
0271Jahr und Tag vorbereiteten und ausposaunten Bayreuther
0272„Mustervorstellung“ hätte lieber nicht passiren sollen. Allein
0273Beispiele von geradezu unrichtiger und mangelhafter Sceni-
0274rung gab es, und auf den entscheidensten Stellen. Der Re-
0275genbogen, über welchen die Götter nach Walhalla promenir-
0276ten, stand so niedrig, daß man ihn für eine bemalte Garten-
0277brücke nahm. Der Zweikampf Siegmund’s mit Hunding und
0278die Einmischung Wotan’s in der „Walküre“ ging weit hinten
0279in solcher Dunkelheit vor sich, daß kein Zuschauer von diesem
0280entscheidenden Vorgang eine Ahnung bekam. Die Walkü-
0281ren
erschienen keineswegs zu Pferde, sondern zogen in sehr 
0282mißlungenen, undeutlichen Dissolving-views (ähnlich der
0283wilden Jagd im „Freischütz“) über den Horizont. In München 
0284hatte man junge Stallknechte, als Walküren gekleidet, über
0285dicke Teppiche hin- und zurücksprengen lassen; ihr Ritt, ge-
0286spenstisch schnell und lautlos, war von unbezahlbarer Wir-
0287kung. Was so ein schnödes Hoftheater zuwege bringt, das
0288sollte die Musterbühne von Bayreuth doch auch treffen. Die
0289Feuerwand, welche Brunhilde ringsum einschließen soll,
0290loderte in Bayreuth nur hinter ihr auf, von drei Seiten
0291lag die Schlafende vollkommen frei und zugänglich da. Auch
0292wie das gemacht werden soll, hat die Münchener Oper vor
0293Jahr und Tag gezeigt. Wir übergehen das lächerliche Widder-
0294gespann der Göttin Fricka, das altersschwache Pferdchen, das von
0295Brunhilde nicht geritten, sondern am Zügel geführt und mittelst
0296einer Schnur unter dem Podium festgehalten wurde, desgleichen die
0297zahlreichen mißlungenen Beleuchtungs-Effecte, und erwähnen
0298blos die Schlußscene der „Götterdämmerung“, in welcher die
0299scenische Kunst des Wagner-Theaters ihr Höchstes leisten sollte
0300und wollte. Wer hätte sich nicht auf den Augenblick gefreut,
0301wo Brunhilde nach ausdrücklicher Versicherung des Text-
0302buches „sich stürmisch auf das Roß schwingt und mit Einem
0303Satze in den brennenden Scheiterhaufen springt“? Statt
0304dessen führt Brunhilde ihre jämmerliche Rosinante gelassen
0305zwischen die Coulissen und denkt nicht daran, weder sich zu
0306„schwingen“, noch zu „springen“. Auch der kühne Hagen, der
0307sich „wie wahnsinnig in die Fluth stürzen“ soll, schreitet zur
0308rechten Coulisse heraus und erscheint erst einige Augenblicke
0309nachher mitten im Rhein. Dieser Rhein endlich, der, „mäch-
0310tig angeschwollen, seine Fluthen bis in die Halle wälzt“,
0311wackelte mit seinen schlecht gepinselten und sichtbar oben an-
0312genähten Wellen wie das Rothe Meer in einer Provinzvor-
0313stellung von Rossini’s „Moses“. Wenn in solchen Haupt-
0314scenen die Aufführung nicht vermag, nicht leistet, was
0315Wagner ausdrücklich im Textbuche vorschreibt und dem Zu-
0316schauer verspricht, dann läßt sich von einer „Mustervorstel-
0317lung“ nimmermehr sprechen. Weitaus das Gelungenste waren
0318die ebenso malerischen wie originellen Decorationen von Jo-
0319seph Hoffmann; sie hätten bei ganz getreuer Ausführung
0320und zweckmäßigerer Beleuchtung ohne Zweifel noch bedeuten-
0321der gewirkt. Der Decorations-Maler hat nur eine Hälfte
0322des Effectes in der Hand, die andere hängt an der Kunst 
0323der Beleuchtung, sie gleicht der Instrumentirung eines musi-
0324kalischen Gedankens. Diese zweite Hälfte war in Bayreuth 
0325nicht voll, und Hoffmann’s Ideen erscheinen in den Photo-
0326graphien melodischer gedacht, als sie in dem Festspielhaus
0327geklungen haben.


0328Um die musikalische Ausführung hatten das
0329größte Verdienst der Dirigent Hanns Richter und die
0330Sängerin der Brunhilde, Frau Materna. Es darf uns
0331freuen, daß somit drei der allerhervorragendsten Kräfte —
0332Richter, Hoffmann und die Materna — Wien angehören.
0333Dem von Richter dirigirten Orchester rühmen wir nicht blos
0334die treffliche Leistung, sondern auch die übermenschliche
0335Selbstverleugnung nach, mit welcher es, abgesperrt von Luft
0336und Licht, ohne jeden Contact mit der Bühne wie mit dem
0337Zuschauerraume, seine Kellerarbeit verrichtete. Die erste Vio-
0338line spielte der ruhmvoll bewährte A. Wilhelmj, das
0339Instrument selbst, dem er so süßen Klang entlockt, pries er
0340uns als eine Arbeit unseres Wiener Geigenmachers Zach.
0341Ueber alle Sängerinnen ragte Frau Materna empor;
0342durch Stimmkraft und Gestalt eine geborne Brunhilde, be-
0343wies sie auch in dramatischer Hinsicht erstaunliche Fort-
0344schritte. Möge sie uns aus diesem mörderischen Feldzuge mit
0345heiler Stimme zurückkehren! Vortrefflich war das Ensemble
0346der drei Rheintöchter, sehr tüchtig Frau Jaïde in der
0347kleinen Rolle der Erda, unbedeutend die Darstellerin der
0348Sieglinde, ganz unzureichend die der Gutrune. Im Ganzen
0349zeichneten sich die Herren mehr aus, als die Damen; insbe-
0350sondere die Herren Vogel (Loge), Schlosser (Mime),
0351Niemann (Siegmund), Betz (Wotan), Hill (Alberich)
0352und Reichenberg (Fafner).


0353Daß die große Majorität der Bayreuther Pilgerschaft
0354nach jedem der vier Dramen in jubelnden Applaus aus-
0355brach, ist selbstverständlich, sie war ja mit diesem Vorsatze
0356hergekommen. Meine im ersten Bericht ausgesprochene Ueber-
0357zeugung, daß Wagner’s neuestes Werk seine Lebensfähigkeit
0358und seine Wirkung auf das Publicum erst auf anderen
0359Bühnen werde erproben müssen, bleibt aufrecht. Ein Zweifel
0360kann jetzt nur darüber obwalten, ob nach dem Eindruck des
0361Bayreuther Festspiels unsere Theater-Directionen ein beson-
0362ders lebhaftes Verlangen äußern werden, die Mühe und Ge-
0363fahr dieser Goldprobe auf sich zu nehmen.

Fußnoten
  • *)Durch Zufall verspätet. D. Red.
  • **)Eine ausführliche Besprechung des „Rheingold“ (auf Grund
    der Münchener Aufführung) findet man in meiner „Modernen Oper“.