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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4386. Wien, Donnerstag, den 9. November 1876

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Oper und Concert.


0002Ed. H. Alljährlich bleibt sie stehen, die Komische Oper,
0003so festgerannt und aussichtslos, als wollte sie niemals wieder
0004in Gang kommen. Ein plötzlicher Ruck, ein großer An-
0005schlagszettel, ein neuer Director, und — „sie bewegt sich
0006doch!“ rufen wir mit dem von Galilei niemals gesprochenen,
0007aber durch ihn berühmt gewordenen Worte aus. Von viel-
0008verheißendem Anfange ist unsere Komische Oper unter einem
0009Halbdutzend Directionen erst stufenweise, dann förmlich ter-
0010rassenweise herabgestürzt in ein schmutziges Dorngestrüpp,
0011das wie zum Hohne „Rosenfeld“ hieß. Hier lag sie zuletzt
0012regungslos, unbemitleidet. Und neuerdings bewegt sie sich
0013doch, die Oper am Schottenring, freilich weniger um die
0014Sonne der Tonkunst, als um das „Lustige Elend“ und den
0015Levi auf der Alm“. Volksstück und Posse haben dort die
0016Oper gleichsam ins Schlepptau genommen, sie folgt in de-
0017müthigem Abstande, fast widerwillig. Wir glauben nicht, daß
0018ihr, der zu herrschen Gewohnten, solche Vasallenstellung
0019frommen kann. In jedem Theater, das die Oper pflegt,
0020muß diese den ersten Platz einnehmen oder doch ihn mit
0021einem musterhaften Schauspiele redlich theilen. Wien zumal
0022beherbergt ein im Operngenusse verwöhntes Publicum, das
0023sich weder diesseits noch jenseits der Ringstraße anlocken läßt
0024durch ein abgespieltes Repertoire und mangelhafte Darstellun-
0025gen. Wir wissen recht wohl, welch kostspieliges Ding eine
0026gute, großstädtisch lebensfähige Opernbühne ist, und deßhalb
0027folgen wir, offen gestanden, selbst den Anstrengungen eines
0028muthigen und erfahrenen Directors, wie Herrn Hirsch,
0029mehr mit guten Wünschen als mit großen Hoffnungen. Wir
0030können unsere Ueberzeugung nicht abschwören, daß eine eigene
0031Komische Oper, wie sie Wien besitzen soll, nur existiren kann,
0032wenn sie eine dem Hofoperntheater coordinirte, vom Staate
0033subventionirte Stellung erhält, wie die Opéra Comique in
0034Paris. Diese wünschenswerthe Lösung — aufgeschoben, aber 
0035nicht aufgehoben — darf uns jetzt nicht beschäftigen; wir
0036haben über die Wirklichkeit zu sprechen, nicht von der Zu-
0037kunft zu träume.


0038Director Hirsch vermochte bisher die beiden ersten
0039Bedingungen eines erfolgreichen Operntheaters nicht zu rea-
0040lisiren — treffliches Ensemble und interessantes Repertoire —
0041er greift zu dem dritten Mittel, dem „Star-System“, wie
0042es die Engländer nennen, und fängt einzelne „Sterne“ zum
0043Gastspiel ein. Das Mittel scheint zu wirken. Die erste Vor-
0044stellung des königlich bayrischen Kammersängers Herrn
0045Nachbaur als „Postillon von Lonjumeau“ war trotz des
0046abscheulichsten Wetters sehr gut besucht. Herr Nachbaur 
0047zählt jetzt bekanntlich zu den gefeiertesten und kostspieligsten
0048Tenoristen Deutschlands. Im Anfang seiner Carrière lernten
0049ihn die Wiener kennen, als er, fast gleichzeitig mit Herrn
0050G. Müller, im Hofoperntheater gastirte. Der Erfolg bei-
0051der Sänger hielt sich so ziemlich die Wage, und wenn wir
0052mit dem schließlichen Siege Müller’s sympathisirten, so soll
0053uns dies nicht beirren in der gerechten Schätzung seines Ri-
0054valen. Herrn Nachbaur’s Stimme, die an dem Glanz ihrer
0055Höhe nur sehr wenig eingebüßt hat, klingt kräftig, gesund
0056und wohl ausgeglichen. Seine Kehlengeläufigkeit ist sehr acht-
0057bar, die Verbindung der Bruststimme mit dem Falsett ge-
0058schickt, die Aussprache deutlich, wenngleich nicht von reinstem
0059Hochdeutsch. Die Tonbildung hat mitunter etwas Har-
0060tes, Starres. Ob Stimme und Gesangsweise des Herrn
0061Nachbaur zu den „sympathischen“ gehören, muß jeder
0062Hörer für sich entscheiden; das Sympathische ist etwas
0063Relatives, Individuelles und sollte streng genommen
0064nie als allgemeingiltiges Lob zugesprochen werden.
0065Was wir an dem Timbre seiner Stimme, wie auch häufig
0066in seinem Vortrag vermissen, ist Adel und Poesie, jener un-
0067definirbare Schmelz, der so sachte und unwiderstehlich sich
0068durch das Ohr in unser Herz schmeichelt. Auch der Dar-
0069stellung Herrn Nachbaur’s, so emsig sie alles Erforder-
0070liche zusammentrug, fehlte das rechte innere Leben. Freilich
0071ist Chapelou ein eitler, im zweiten Acte sogar geckenhaft 
0072eitler Bursche, der wenig Anlaß zu seelenvollem Vortrag
0073gibt, höchstens zu elegantem. Wir wollen daher zur Be-
0074festigung unseres Urtheils Herrn Nachbaur’s weiteres Gast-
0075spiel abwarten, dessen Anfang — wie wir bereits gemeldet
0076— von rühmlichstem Erfolg begleitet war. Dem geschätzten
0077Gaste stand in der Vorstellung des „Postillon“ nur Frau
0078Charles-Hirsch ebenbürtig zur Seite, ja sie übertraf
0079ihn häufig an feinem musikalischen Geschmack. Durch den
0080zarten Wuchs ihrer Stimme auf ein kleines Genre ange-
0081wiesen, auf den Ausdruck des Anmuthigen und Zierlichen,
0082zeigt sich Frau Hirsch doch gleich mit den ersten Noten, die
0083sie anschlägt, als eine Sängerin von bester Schule. Wie be-
0084stimmt, rein und zart faßt sie den Ton, weiß ihn zu tragen,
0085zu schwellen und in glitzerndem Zierrath zerstauben zu lassen!
0086Der Silberfaden, den sie so graziös spinnt, ist nicht nur sehr
0087fein, sondern (wie bei dieser Art hoher Sopranstimmen oft
0088vorkommt) einfärbig; er läßt keine Mannichfaltigkeit, kein Colorit
0089zu und wird dadurch im Verlaufe einer längeren Arie etwas
0090monoton und eindruckslos. Dies schmälert nicht das künst-
0091lerische Verdienst dieser Sängerin und nur sehr wenig das
0092Vergnügen, womit wir ihr lauschen. Die übrige Besetzung
0093war auffallend traurig, das Wort auch subjectiv gewendet.
0094Der Marquis de Corcy, in der Oper als Lebemann und
0095Courmacher geschildert, glich dem alten Moor, wie er aus
0096dem Hungerthurm geholt wird. Der Darsteller des Wagners
0097Bijou, dieser hochergötzlichen Figur, sang und sprach mit
0098dem langweiligen Pathos eines Leichenbitters. Beiden schien
0099jeder Hauch von Humor und Laune zu versagen. Und diese
0100witzlose, übellaunige Stimmung lastete auf der ganzen Vor-
0101stellung. Trotzdem freuten wir uns, nach längerer Zeit wie-
0102der einmal den „Postillon von Lonjumeau“ zu hören mit
0103seiner gut erdachten, amüsanten Fabel und seiner so frischen,
0104anspruchslos heitern Musik. Bei dem andauernden Mißwachs
0105auf dem Felde des musikalischen Lustspieles wäre es wol
0106gerathen, sich zeitweilig Adolph Adam’s zu erinnern. Eine
0107beträchtliche Anzahl seiner Opern gehört bleibend der Ver-
0108gessenheit — schrieb er doch so viel und so flüchtig — aber [2]
0109Werke wie „Giralda“ und „Der Torreador“ ließen sich mit
0110Vortheil dem deutschen Repertoire einverleiben. „Giralda“,
0111eine der gelungensten Compositionen Adam’s auf eines der
0112allerbesten Textbücher von Scribe, füllt gegenwärtig wie-
0113der die Räume der Opéra Comique in Paris. „Giralda“
0114und „Der Torreador“ gelten den Franzosen für Perlen ihrer
0115Opern-Literatur und wurden selbst von Halévy hochge-
0116stellt, noch über den „Postillon von Lonjumeau“. Letzterer,
0117im October 1836 zuerst gegeben, hat sein vierzigstes Jahr
0118zurückgelegt, ein respectables Alter für eine leichte komische
0119Oper. Ein interessanter Zwischenfall aus der Entstehungsgeschichte
0120des „Postillons“ dürfte wenig bekannt sein und deßhalb hier
0121ein Plätzchen finden. Wir entnehmen denselben einer hand-
0122schriftlichen Aufzeichnung A. Adam’s und lassen diesen
0123selbst sprechen.


0124„Nachdem mein Ballet („La fille du Danube“) glück-
0125lich vom Stapel gelaufen, beschäftigte ich mich eifrig und
0126ausschließlich mit den Proben zum „Postillon von Lonjumeau“.
0127Das Publicum, das so streng und leichthin über uns urtheilt,
0128hat keine Ahnung von den Mühen und Verdrießlichkeiten,
0129welche die Proben einer neuen Oper bereiten. Die Arbeit
0130selbst ist ein Vergnügen, ist das Paradies; die Proben sind
0131die Hölle. Man ist da nicht nur den Launen und Ansprüchen
0132der Sänger unterworfen, sondern obendrein den Wechselfällen
0133ihrer Privatleidenschaften. Als die Rollen für den „Postillon“
0134vertheilt wurden, lebten Chollet (der Sänger des Chapelou)
0135und Mlle. Prévost (Madeleine) in gemeinschaftlichem
0136Haushalt und innigster Harmonie. Aber leider zerstörte vor
0137Beginn der Proben ein Zufall in Gestalt der reizenden Jenny
0138Colon dieses Liebesverhältniß! Chollet hatte seine Woh-
0139nung verlassen, und die Verzweiflung der Prévost war so
0140groß, daß man glaubte, sie werde nie wieder mit ihm zugleich
0141auftreten können. Die Textdichter (Leuven und Brunswick),
0142desgleichen der Director, wollten die Rolle einer andern Sän-
0143gerin zutheilen. Ich allein wehrte mich dagegen. Die Prévost 
0144war mir lieb, und ich zweifelte nicht, daß sie an der eigens
0145für sie geschriebenen Rolle hing. Es schien mir grausam, 
0146dieser armen Frau zu gleicher Zeit den angebeteten Mann
0147und eine schöne Rolle wegzunehmen. Ich suchte sie daher
0148auf und fragte, ob sie den Muth hätte, mit
0149Chollet eine Rolle zu spielen, die so viel Aehnlich-
0150keit mit ihren eigenen Erlebnissen habe. „Ja, mein
0151Freund,“ erwiderte sie, „ich werde den Muth haben! Ich
0152will, daß es meine schönste Leistung werde. Und wer weiß?
0153Chapelou kehrt auch zurück zu seiner Madeleine.“ . . . „Ja,
0154aber nach zehn Jahren!“ — „Wolan denn, ich werde war-
0155ten! Ich verspreche Ihnen, stark zu sein, und Ihr Werk soll
0156nicht leiden unter meinem Schmerz.“ — In der That hatte
0157die arme Frau viel zu erdulden. Und wir Uebrigen auch, in
0158anderer Weise! Jenny Colon wich nicht von Chollet und
0159erschien mit ihm auf der Probe. Die Prévost bekam einen
0160Nervenkrampf, als sie ihre Rivalin erblickte. Fast jeden Tag
0161hatten wir dieselbe störende und traurige Scene. Doch muß
0162ich zum Lobe Chollet’s und der Prévost bestätigen, daß die
0163Proben darunter nicht litten, sondern mit größtem Eifer fort-
0164gesetzt wurden. Aber ich that einen Schwur, nie wieder eine neue
0165Oper zu schreiben, bevor ich nicht der Gefühle und Herzens-
0166geschichten meiner Sänger völlig sicher sei. Die erste Vor-
0167stellung fand am 13. October statt, mit ungeahnt glän-
0168zendem Erfolge. Das Publicum hatte keine Ahnung beim
0169Anblick von Chapelou und Madeleine, daß dieses Pärchen
0170tief entzweit sei. Chollet, der sich im Unrecht fühlte und im
0171Grunde nicht böse, sondern nur schwach war, hatte vor der
0172Vorstellung die arme Prévost ermuthigt und ihr nach dem
0173ersten Act ein schönes Armband mit dem eingravirten Da-
0174tum der Vorstellung verehrt. Diese Aufmerksamkeit gab ihr
0175Muth und Hoffnung.“


0176Gehen wir zur Concertsaison über, welche durch Her-
0177beck
mit dem ersten Gesellschaftsconcert würdig
0178eingeweiht wurde. Neu war darin blos ein kurzer Vocalchor
0179von Hanns Leo Hasler (geboren 1564). Durch seinen Text
0180ist er wie prädestinirt zum Eröffnungsstück eines beginnenden
0181Musikjahres: „Nun fanget an ein gut’s Liedlein zu singen,
0182laßt Instrument’ und Lauten auch erklingen!“ Nur ist selt
0183samerweise diese fröhliche Aufforderung in Moll gehalten.
0184Wir machen dieselbe Wahrnehmung häufig bei Chören aus
0185dem sechzehnten Jahrhundert, wo nicht nur die Herrschaft
0186der Kirchen-Tonarten die Grenzen zwischen Dur und Moll ver-
0187wischte, sondern überdies Vorliebe herrschte für Moll-Tonarten
0188und gemessenes Tempo, selbst in heiteren Stoffen. In man-
0189chen protestantischen Chorälen wird noch heutzutage in Moll
0190frohlockt. Hasler’s Chor wirkt übrigens in seiner herben
0191Kraft und Naivetät sehr anziehend. Der Mann ist uns nicht
0192umsonst aus einer Menge verschollener Zeitgenossen erhalten
0193als eine Hauptsäule der vor-Bach’schen Periode deutscher
0194geistlicher Tonkunst, uns Oesterreichern noch näherstehend
0195durch seinen mehrjährigen Aufenthalt in Wien und Prag als
0196Hofmusikus Kaiser Rudolph’s II. — Der „Schnitterchor“
0197aus Liszt’s Cantate „Prometheus“ wird für eine der klarsten
0198und melodiösesten Compositionen dieses Feuerbrandes angesehen
0199und deßhalb häufiger in Concerten aufgeführt. Hört man den
0200Chor an seiner ursprünglichen Stelle, nämlich mitten unter
0201den musikalischen Qualen der Prometheus-Cantate, so wirkt
0202er allerdings wie ein Labsal. Herausgenommen, selbstständig
0203und zwischen zwei einfach edle, gemüthvolle Chöre von Men-
0204delssohn
gestellt, kann er doch sein raffinirtes Wesen
0205nicht verleugnen, das durch den überreichen Klingklang der
0206Instrumentirung dürftig und banal durchblickt. Mendels-
0207sohn’s
Abschied vom Walde“, vom Singvereine ausdrucks-
0208voll vorgetragen, konnte unmittelbar darauf des Da-Capo-
0209Rufes sicher sein. Herr R. Joseffy spielte Chopin’s
0210E-moll-Concert, das wir im vorigen Jahre von ihm bei
0211den Philharmonikern gehört. Er spielte es genau so wie da-
0212mals, bis auf den kleinsten Tupfer oder Stecher auf eine
0213bestimmte Taste und das dazugehörige jähe Aufschnellen
0214der Hände. Bei diesem Virtuosen ist Alles bis auf die ge-
0215ringste Nuance ausgefeilt und unabänderlich festgestellt, der
0216Inspiration des Augenblicks bleibt nicht die leiseste Regung
0217überlassen. Es gibt heute wenige Pianisten, deren fein und
0218glänzend ausgearbeitete Technik uns größere Bewunderung ab-
0219zwänge, als die Joseffy’s, aber auch wenige, die uns dabei [3]
0220so kalt lassen, wie er. Die zierlichen Blüthen, denen Cho-
0221pin’s Vortrag Duft und Farbe verlieh, sie werden unter
0222Joseffy’s Fingern zu Eisblumen am gefrornen Fenster. Das
0223Publicum hielt sich an die blendende Seite dieses Virtuosen
0224und rief ihn nach Verdienst hervor.


0225Das Concert schloß mit Beethoven’s C-moll-Sym-
0226phonie, deren Aufführung unter Herbeck’s anfeuernder
0227Leitung vortrefflich gelang und uns nur zwei Bedenken ver-
0228ursachte: das allzu rasche Tempo des ersten Satzes und die
0229fast unabsehbar lange Dehnung der beiden ersten Fermaten.
0230Der Saal war in allen Räumen gefüllt; ein gutes Omen
0231für — gute Concerte.


0232Das „Florentiner Quartett“ mit Jean Becker an der
0233Spitze, ein oft und gern gesehener Besuch, stellte sich diesmal
0234mit einer interessanten Novität ein: dem neuen Streich-
0235quartett von Verdi. Es ist ein rühmlicher Ehrgeiz, der den
0236italienischen Opernkönig im Spätherbst seines Lebens an-
0237treibt, sich als ernsten, gediegenen Musiker zu legitimiren.
0238Zwei dieser großen Versuche darf man gelungen nennen:
0239Aïda“, wo ihm sein theatralisches Talent, und das
0240Requiem, wo ihm wenigstens seine Kunst in klangvollem
0241Vocalsatz zu statten kam. Anders und schwieriger geartet
0242ist für ihn jede Aufgabe in reiner Instrumental-Musik, vor
0243Allem in deren prunklosestem, geistigstem Zweige: dem
0244Streichquartett. Seit dem alten Boccherini, dem Rivalen
0245unseres Haydn in der Priorität der Quartett-Composition,
0246und dem gelehrten Cherubini hat kein italienischer Com-
0247ponist sich mit Kammermusik herausgewagt. Erst Verdi 
0248nahm den Versuch wieder auf und ist, unseres Erachtens,
0249damit verunglückt. Man kann allenfalls bewundern, daß der
0250Componist des „Trovatore“ es auch nur zu dieser 
0251Selbstverleugnung und Rührigkeit auf so ganz fremdem
0252Boden gebracht, das Werk selbst bleibt durchaus unbedeutend
0253und unerfreulich. Das Thema des ersten Satzes (Allegro,
0254E-moll), etwa im Style Onslow’s oder Reissiger’s, scheint
0255etwas Quartettmäßiges zu versprechen; aber sehr schnell
0256fühlt der Componist das Bedürfniß, Feuer und Leidenschaft 
0257in den Satz zu bringen, und thut dies ganz äußerlich durch
0258einen Theatersturm in Sechszehntel-Passagen. Besser, und
0259das beste Stück von allen, ist das Andantino in C-dur,
0260das in Rhythmus und Melodie an manche elegische Mazurka
0261von Chopin erinnert. Auch diese Stimmung unterbricht, auch
0262diesen Satz verdirbt sich der Autor durch einen ganz un-
0263passend stürmischen, nichtssagenden Mittelsatz. Den dritten
0264Satz, ein Prestissimo in E-moll, finden wir einfach abscheu-
0265lich, eine Art Balletmusik zu einer Höllenscene, unterbrochen
0266durch eine unter gemeinklingenden Terzen-Pizzicatos fort-
0267schleichende alltägliche Cello-Cantilene. Zu unserer großen
0268Ueberraschung wurde gerade dieser Satz da capo be-
0269gehrt, vielleicht weil das Publicum hier wenigstens
0270etwas von seinem alten, ungenirten Opern-Verdi 
0271wiederfand. Ernster gemeint, mühsamer ausgeführt, aber nicht
0272weniger unerquicklich ist das Finale, ein fugirtes Allegro
0273molto in E-moll. Das fünf Tacte lange, aus lauter gleichen
0274stakkirten Achtelnoten gebildete Thema hebt sich wegen dieses
0275Mangels an rhythmischen Einschnitten nicht prägnant heraus
0276bei den verschiedenen Eintritten; es wird ein ganz uninteres-
0277santes Gewirre, halb Schulaufgabe, halb Violin-Etüde. „Ein
0278Quartett componiren — warum sollte sich das nicht lernen
0279lassen für einen Mann von Talent?“ scheint Verdi sich ge-
0280fragt zu haben. Es ist aber unsäglich schwer für einen Com-
0281ponisten, sich in einen Styl, eine Kunstform einzulernen, die
0282nicht nur ihm selbst, sondern seiner ganzen Nation fremd ist.
0283Daß Verdi den Quartetten von Beethoven und Mendelssohn 
0284einige Aeußerlichkeiten ablernte, macht den Abstand fast noch
0285schlimmer. Ungleich geringer begabte deutsche Componisten
0286schreiben mit Leichtigkeit bessere Quartette, als dieses
0287Verdi’sche, weil die Anlage ihres Volkes, ihre ganze musi-
0288kalische Erziehung, alle großen Traditionen da mitarbeiten.
0289Jean Becker und Genossen verwendeten ihre glänzendste
0290Virtuosität auf das Verdi’sche Quartett, das trotzdem nur
0291kurze Zeit von der rasch gesättigten Neugierde des Publicums
0292leben dürfte.