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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4394. Wien, Freitag, den 17. November 1876

[1]

Oper und Concert.


0002Ed. H. Auf den 16. December 1875 fiel der hundertste
0003Geburtstag Boieldieu’s, des Componisten der „Weißen
0004Frau“, des „Rothkäppchen“ und „Johann von Paris“. Alle
0005Opernbühnen Frankreichs und Deutschlands feierten dieses
0006Jubiläum mit einer solennen Aufführung der „Weißen
0007Frau“ — nur unser Hofoperntheater ignorirte den Tag,
0008sogar das Jahr. Man wird sich erinnern, daß damals ge-
0009rade der prachtvoll verschlimmbesserte „Tannhäuser“ das
0010Hofoperntheater wochenlang in Anspruch nahm und das
0011Personal tyrannisirte, „so weit die vorhandenen Kräfte
0012reichten“. Da verschlang denn auch der vielbesprochene
0013weiße Schwan die weiße Frau. Nachträglich scheint die Di-
0014rection doch einige verspätete Gewissensbisse empfunden zu
0015haben, sie weckte die „Weiße Frau“ aus fünfjähriger Archivs-
0016ruhe und brachte sie jetzt neu scenirt und sorgfältig vorbe-
0017reitet zur Aufführung. Es war eine Vorstellung, so schön
0018gerundet auf der Bühne, so andächtig gehört im Parterre,
0019daß sie einer nachträglichen Boieldieu-Feier nicht unähnlich
0020erschien. Der Zufall oder Herr Nachbaur wollte es, daß
0021obendrein die „Weiße Frau“ gleich am nächsten Abend in
0022der Komischen Oper sich zeigte, somit wurde die verspätete
0023Erinnerungsfeier wenigstens zu einer verdoppelten. Im Hof-
0024operntheater sang Herr Müller den George Brown mit
0025ebenso erfreulichem wie überraschendem Gelingen. Denn er
0026mußte seiner ganzen Individualität diese widerspenstige Rolle
0027förmlich abringen, dazu gehört große Willenskraft und ein
0028heroischer Fleiß. Gibt es überhaupt wenig deutsche Tenoristen,
0029welche die so ausgeprägt französische Lustspielfigur glaubwür-
0030dig darzustellen vermögen, so mußte sie gerade Herrn Müller 
0031besonders schwerfallen. Ernsthafter Deutscher, weich von Ge-
0032müth, hart von Aussehen, bescheiden bis zur Schüchternheit,
0033erscheint Müller fast wie ein Gegenstück zu dem lustigen,
0034kecken Lieutenant Boieldieu’s. Leichte Beweglichkeit in Spiel
0035und Conversation schienen ihm bis vor Kurzem unerreichbar.
0036Lächeln war ihm eine Anstrengung, Lachen ein Unding. Wo
0037die komische Oper nicht als selbstständige Gattung gepflegt
0038wird oder gar (wie im Hofoperntheater) nur als seltene 
0039Ausnahme erscheint, da ist es auch dem talentvollsten Sänger
0040schwer gemacht, sich den Lustspielton anzueignen. Wie sehr
0041Herr Müller seit einiger Zeit sich als Darsteller vervoll-
0042kommt hat, ist uns nicht entgangen. Aber es bleibt immer
0043nach ein großer Unterschied, in ernsten Rollen wie Fernando 
0044oder Ernani dramatische Fortschritte zu zeigen — selbst José 
0045in „Carmen“ und Nemorino im „Liebestrank“ sind durchaus
0046sentimentale Charaktere — oder als französischer Lieutenant 
0047„alleweil fidel“ zu sein. Zugegeben, daß Müller’s George
0048Brown noch einige Spuren nicht vollständig überwundener
0049Mühe aufweist, die Leistung hat uns doch geradezu über-
0050rascht durch ihre Frische und Natürlichkeit. Daß sie im
0051Gesange warm, ton- und seelenvoll ausklingen werde, war
0052vorauszusehen, hier gelang Alles gut, das Meiste vortrefflich,
0053wie insbesondere die große Arie: „Komm’, o weiße Dame!“
0054(worin Müller die Rarität eines langen schönen Trillers zum
0055Besten gab) und die schwierige Scene mit Chor im dritten Act.
0056Seltsam, daß gerade diese Scene, die jetzt das wichtigste, ja
0057einzig hervorragende Musikstück des dritten Actes bildet, gar
0058nicht in dem ursprünglichen Plane lag, sondern erst nach-
0059träglich hinzukam. Dieser dritte Act, der durch sein musika-
0060lisches wie dramatisches Versiegen die „Weiße Frau“ noch
0061immer empfindlich schädigt, machte dem Componisten schwere
0062Sorgen. „Denken Sie nur,“ klagte er eines Tages seinem
0063Lieblingsschüler Adolph Adam (dem Componisten des
0064Postillon“), „daß ich nach zwei an Musik so reichen Acten
0065im dritten nichts habe, als einen unbedeutenden Chor, ein
0066kleines Frauenduett und ein Finale ohne dramatische Ent-
0067wicklung! Da müßte eine effectvolle große Nummer stehen,
0068statt des Bauernchors „Hoch lebe der Herr!“ Scribe 
0069notirt dazu: „Die Landleute werfen ihre Mützen in die Höhe,“
0070es muß also ein lustiges, kurzes Stück sein; sie können doch
0071nicht eine Viertelstunde lang die Mützen in der Luft werfen!
0072Es kam mir da eben ein Einfall, der vielleicht gut ist. Im
0073Walter Scott habe ich von einem Mann gelesen, der, in
0074seine Heimat zurückkehrend, ein Lied aus seiner Kindheit
0075wiedererkennt. Wie, wenn die Schloßvasallen statt des Vivat-
0076Chors dem George eine alte schottische Ballade sängen,
0077deren er sich allmälig so lebhaft erinnert, daß er sie selbst
0078zu Ende singen kann? Wäre das nicht eine musikalische
0079Situation? — „Gewiß.“ erwiderte Adam (dem wir 
0080obige Erzählung verdanken), „und sie würde den dritten Act
0081vortrefflich ausfüllen.“ — „Aber ich habe keinen Text dazu,“
0082klagte Boieldieu, „bin überdies krank und darf das Bett
0083nicht verlassen.“ — „Aber ich bin gesund“ ruft Adam aus
0084und eilt zu dem ganz nahe wohnenden Scribe, dem Text-
0085dichter der „Weißen Frau“. Dieser findet die Idee vor-
0086züglich, erklärt den dritten Act für gerettet, und ehe eine
0087Viertelstunde vergeht, hat er Boieldieu die Worte zu der
0088neuen Scene überschickt. Wir haben hier eines der zahlreichen
0089Beispiele von dem fruchtbaren Zusammenarbeiten, der stetigen
0090Wechselwirkung, welche in Frankreich zwischen dem Compo-
0091nisten und dem Textdichter stattfindet und noch durch die
0092Proben hindurch bis zur Aufführung selbst sich fortsetzt. An
0093dem Gegentheile, der Isolirung des Tondichters vom Poeten,
0094geht in Deutschland manche Oper zu Grunde.


0095Die weiße Frau“ ist im Hofoperntheater sehr nett
0096ausgestattet, lebensvoll gruppirt und wird unter Capellmeister
0097Gericke’s Leitung mit feiner Nuancirung ausgeführt.
0098Fast sämmtliche Rollen sind neu besetzt. Nur Fräulein Ta-
0099gliana
war uns bereits bekannt als eine der anmuthigsten
0100Darstellerinnen, die man für die Rolle der Jenny wünschen
0101kann. Weniger vermochte Frau Kupfer zu befriedigen,
0102welche (wenigstens in der hier beurtheilten zweiten Aufführung)
0103indisponirt schien, wahrscheinlich in Folge ihrer starken Be-
0104schäftigung, und nicht immer rein intonirte. Ein charak-
0105teristisches Gepräge wußte sie der etwas unbestimmten Gestalt
0106der Miss Anna so wenig zu geben, wie andere Sängerinnen
0107dieser Partie. Frau Dustmann war die einzige, welche die
0108Anna gleich bei den ersten Worten als einen energischen,
0109überlegenen Charakter faßte und selbst einen Anflug von
0110Härte nicht scheute, um diese Auffassung durchzuführen. Gut
0111angelegt und sorgfältig ausgearbeitet ist der Gaveston des
0112Herrn Scaria, desgleichen der Dickson des Herrn Schmitt,
0113Fräulein Tremel singt, wie fast alle jungen Alti-
0114stinnen, das Spinnlied der alten Margarethe zu schwer und
0115pathetisch. Classisch erscheint freilich ihre Leistung, wenn man
0116die Margarethe der Komischen Oper dagegen hält, welche
0117die Fehler Fräulein Tremel’s im Hohlspiegel zeigte. Es wäre
0118unbescheiden, an die Aufführung der „Weißen Frau“ am
0119Schottenring den Maßstab des Hofoperntheaters zu legen;
0120nicht aber, vor solcher Concurrenz zu warnen. Die Komische [2]
0121Oper wird kaum ein ausreichendes Publicum heranziehen, so
0122lange sie Werke entbehrt, die man im Hofoperntheater nicht
0123zu hören bekommt. Fräulein Vogel brachte als Anna ihren
0124wohlklingenden hohen Sopran, Fräulein Benetti als Jenny 
0125ihre graziöse Beweglichkeit zur Geltung; die Gesangskunst
0126ließ hier wie dort Manches zu wünschen übrig. Herr Pirk,
0127ehedem ein schätzbarer Dickson des Hofoperntheaters, scheint
0128leider seine Stimme im deutschen Reich gelassen zu haben.
0129Herr Faßbender schwelgte förmlich im schwärzesten Böse-
0130wicht-Bewußtsein, was glücklicherweise dem Gaveston doch
0131besser zu Gesicht stand, als jüngst seinem Bijou im „Postil-
0132lon“. Mittel- und Anziehungspunkt der Vorstellung war
0133selbstverständlich der königlich bayrische Kammersänger Herr
0134Nachbaur als George Brown. Diese Leistung befriedigte
0135nur in Einzelheiten (vornehmlich des zweiten Actes), im
0136Ganzen erreichte sie nicht den Chapelou dieses Künstlers. Er
0137sang mit Anstrengung, und so blieb gleich die große Eingangs-
0138Arie fast ohne Wirkung. Auch in dem Duett mit Jenny 
0139klang die Stimme spröde, der Ausdruck nicht weich genug.
0140Nachbaur’s Spiel schien uns zu derb (wir erinnern an die Art
0141oder Unart, wie er während der ersten Erzählung dem Pächter
0142Dickson wiederholt auf die Schulter schlägt), die Prosa holperig.
0143Den Manrico im „Trovatore“ soll Herr Nachbaur am
0144folgenden Abend mit großem Erfolg gesungen haben; wir
0145waren am Besuch dieser Vorstellung verhindert. Alles Lob
0146verdient die Scenirung der „Weißen Frau“ in der Komischen
0147Oper und die Leistung des Orchesters. In Einem Punkte
0148war die Vorstellung der „Weißen Frau“ in der Komischen
0149Oper dem Hofoperntheater voraus: es ist das Haus selbst.
0150In diesem kleineren Raum, mit diesem schwächeren Orchester
0151vermag jede Rolle in der „Weißen Frau“ mehr Effect zu
0152machen, als im Hofoperntheater; besonders die erste Arie
0153des George Brown ist hier für den Sänger und Schau-
0154spieler ein Kinderspiel gegen die Anstrengung derselben Scene
0155im Hofoperntheater.


0156Im großen Musikvereinssaale folgten dem ersten Ge-
0157sellschafts-Concert die „Philharmoniker“, unter Hanns
0158Richter’s Anführung, auf dem Fuße. Sie begannen ihr
0159erstes Concert mit Weber’s „Euryanthe“-Ouvertüre, die sie
0160nun endlich zum Ueberdruß oft gespielt hätten, während die
0161Aufführung der Oper selbst seit Jahren vergeblich auf sich
0162warten läßt. Es folgte eine von J. Raff effectvoll 
0163orchestrirte Toccata von Seb. Bach, endlich die B-dur-
0164Symphonie von Beethoven. Den größten Beifall errang
0165das kleinste Stück: der hier von Hellmesberger eingeführte
0166(soeben bei Buchholz in Wien erschienene) Menuett von
0167Boccherini, von allen Geigern des Philharmonischen
0168Orchesters ausgeführt.


0169Am 15. d. M. brachte die Gesellschaft der Musikfreunde
0170die „Schöpfung“ von Haydn unter Herbeck’s Direction.
0171Der Saal war überfüllt, der Beifall herzlich und rauschend.
0172Wie erklärt sich diese fast unerwartete Theilnahme? Zunächst
0173wol daraus, daß die „Schöpfung“ hier seit vier Jahren nicht
0174gegeben war. Das hatte wohlgethan und nothgethan. Ueber
0175ein halbes Jahrhundert lang hörten die Wiener alljährlich
0176zweimal die „Schöpfung“ und zweimal die „Jahreszeiten“,
0177das begann ihnen die Sache ein wenig zu verleiden. Es gibt
0178Tondichtungen, welchen eine bleibende Stelle in den großen
0179Musikaufführungen gebührt, welche von Zeit zu Zeit immer
0180wieder gegeben werden müssen, weil sie classisch sind und
0181zur Bildung der Nation gehören. Von Zeit zu Zeit und in
0182sorgfältigster, reichbesetzter Aufführung — nur dann werden
0183sie mit jedesmal neuer Kraft auf die Zuhörer wirken. Die
0184Aufführung der „Schöpfung“ durch den Tonkünstler-Pensions-
0185verein zu Weihnachten 1872 (unter Dessoff im Burgtheater)
0186war die letzte dieses Werkes, zugleich die letzte Production
0187jenes Vereins überhaupt. Kaum hatte der zum „Haydn
0188umgetaufte Tonkünstlerverein das Jubiläum seines hundert-
0189jährigen Bestandes in Ehren gefeiert (1871), so hörte er
0190plötzlich auf, zu musiciren. Als Witwen- und Waisen-Versor-
0191gungs-Institut besteht und wirkt er fort, und zwar im er-
0192freulichsten Wohlstand. Als Concert-Institut besaß er das
0193Privilegium, an den „Normatagen“ vor Ostern und
0194Weihnachten Musikaufführungen veranstalten zu dür-
0195fen. Der neuorganisirte „Pensionsfonds des Hofopern-
0196theaters“ löste dem „Haydn“ dieses Privilegium mit
0197einer bedeutenden Geldsumme ab und veranstaltet nun
0198selbst an den genannten theaterfreien Abenden große Aka-
0199demien im Hofoperntheater. Beide Theile sollen durch die
0200Ablösung nur gewonnen haben. Das ist recht schön und
0201praktisch. Aber daß der erste, ehrwürdigste Tonkünstlerverein
0202Oesterreichs, daß eine Oratorien-Gesellschaft von europäischem
0203alten Adel so ganz ohne Abschied und Partezettel verschwinde,
0204still und geheim, fast wie unser altes Kärntnerthor-Theater, 
0205bleibt doch seltsam und bedauerlich. Ob wir uns nach diesen
0206meist von Dilettanten besorgten und schleuderisch vorbereiteten
0207Aufführungen von „Schöpfung“ und „Jahreszeiten“, wie sie
0208der Tonkünstlerverein in dem musikfeindlichsten Locale Wiens,
0209im Burgtheater, abhielt, zurücksehnen, wird uns Niemand
0210ernstlich fragen; aber ein feierliches Begräbniß hätten sie
0211wenigstens verdient ob ihrer großen historischen Vergan-
0212genheit.


0213Was selbst bei so allbekannten, leicht zu spielenden
0214Werken wie die „Schöpfung“ eine gewissenhafte, gefeilte
0215Ausführung ausmacht, an der die besten Kräfte sich liebevoll
0216betheiligen, das hat die Production vom letzten Mittwoch be-
0217wiesen. Wie ein neues Werk trat diese ehrwürdige Cantate
0218vor uns hin, „mit Würd’ und Hoheit angethan“!
0219Herbeck hat Haydn’s „Schöpfung“ nicht nur mit
0220der Pietät, die einem classischen Werke gebührt, son-
0221dern mit jenem warmen, liebevollen Interesse, welches
0222man bedeutenden Novitäten zuzuwenden pflegt, einstudirt
0223und dirigirt. Das neunzig Mann starke Orchester, die
0224dreihundert Sänger und Sängerinnen des „Singvereins“, in
0225den Fortestellen verstärkt von der brausenden Orgel, wirkten
0226in den großen Ensemble-Nummern mit hinreißender Gewalt.
0227Drei Meister im Vortrag classischen Gesangs, Frau Wilt,
0228Herr Rokitansky und der eigens für diese Aufführung
0229gewonnene gefeierte Tenorist Herr Vogel aus München,
0230wetteiferten mit einander um die Palme des Tages. Hoffen
0231wir, daß Herbeck uns bald in ähnlicher Vollendung Haydn’s
0232Jahreszeiten“ hören lasse, die wir ob ihres abwechslungs-
0233reicheren Textes, wie ob ihrer frischeren, blühenderen Musik
0234der „Schöpfung“ vorziehen. Der Unterschied zwischen beiden
0235Cantaten ließe sich mit Einem Wort bezeichnen: In der
0236Schöpfung“ singen Engel, in den „Jahreszeiten“ Men-
0237schen
. Und Vater Haydn war zeitlebens mehr auf der Erde zu
0238Hause, als im Himmel. Darum klingt auch das Schöpfungs-
0239werk bei Haydn ganz in der Freude der ersten Menschen
0240aus; zur Erhabenheit bringt er es selten; wir verlieren trotz
0241des Schlußchors den Schöpfer über dem Mitgefühl am
0242Geschöpfe aus den Augen. Das ist aber nicht Haydn’s
0243Fehler, sondern seine Eigenthümlichkeit. Und dieser in der
0244Schöpfung“ nicht immer berechtigten Eigenthümlich-
0245keit
konnte er in keinem zweiten Werke sich so voll und
0246rein hingeben, wie in seinen „Jahreszeiten“.