Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10675. Wien, Sonntag, den 13. Mai 1894
[1]Aus Briefen von Billroth. I.
[3]
0002Ed. H. Das süßschmerzliche Gefühl, mit dem man
0003die Briefe eines eben verstorbenen theuren Freundes durch-
0004liest — ich habe es jetzt wieder in seiner ganzen Gewalt
0005erfahren. Blatt für Blatt durchlebte ich abermals die zahl-
0006reichen Briefe, die Billroth im Laufe von sechsundzwanzig
0007Jahren mir zugesendet. Von der ersten Einladung zu einem
0008„ungezwungenen Herrenabend“ 1867 bis zu dem letzten
0009Billet aus Abbazia, worin der Schwerkranke wenige Tage
0010vor seinem Ende mir für das Billroth-Capitel in meinen
0011„Erinnerungen“ dankt und mit den Worten schließt: „Ein
0012ausführlicher Brief folgt noch“. Dieser ausführliche Brief
0013ist nicht mehr geschrieben worden — der erste und einzige
0014Fall, wo der Freund mir nicht Wort gehalten hat.
0015Billroth war auch als Briefschreiber eine ungewöhnliche,
0016imponirende Erscheinung. Er schrieb nach aufreibendem
0017Tagwerk seine Briefe meistens gegen Mitternacht oder noch
0018später; da fühlte er noch das Bedürfniß, sich zwanglos aus-
0019zusprechen über die Bücher, die Musik, die Ereignisse, die
0020ihn eben beschäftigten, über Alles, was seinen Geist, sein
0021Gemüth bewegte. Darin mahnte er fast an die entschwundene
0022Literatur-Periode der umfangreichen intimen Briefe, die heute
0023in der rasenden Bewegungsschnelligkeit des modernen Lebens
0024den lakonischen Correspondenz-Billetten und Postkarten Platz
0025gemacht haben. Ich erfülle einen Wunsch der Herausgeber
0026dieses Blattes, indem ich unseren Lesern Einiges aus Bill-
0027roth’s Briefen mittheile. Die Auswahl ist mir allerdings
0028schwer gefallen; fand ich doch fast in jedem Briefe etwas
0029Schönes oder Charakteristisches, das wegzulegen mir leid
0030that. Meinem befangenen Gefühle durfte ich nicht allzusehr
0031trauen, und diejenigen Briefe, die mich am allermeisten
0032gefreut, mußten zu allererst beseitigt werden. Billroth
0033ließ in seiner grenzenlosen Liebenswürdigkeit kaum ein
0034Feuilleton von mir vorübergehen, ohne mir einige herzlich
0035zustimmende Worte darüber zu schreiben. Sie haben in
0036selbstquälerischen Momenten, wie sie ja mit den Jahren zu-
0037nehmen, mich jedesmal erquickt und aufgemuntert. „Un bon
0038approbateur“ ist nach dem französischen Sprichworte oft so
0039viel werth, wie un bon correcteur. Auch andere intime
0040Mittheilungen, schöne Zeugnisse seiner unbedingten Wahrheits-
0041liebe und Aufrichtigkeit können hier nicht Platz finden. So
0042bleiben denn in erster Linie Billroth’s Briefe über musi-
0043kalische und literarische Werke als Aeußerungen von all-
0044gemeinem Interesse stehen. Doch glaubte ich mich nicht darauf
0045beschränken zu sollen; Billroth’s mächtige und fesselnde Per-
0046sönlichkeit, Alles, was seinen Charakter und sein Gemüths-
0047leben hell beleuchtet, schien mir ebenso wichtig und anziehend.
0048Ich dachte dabei zumeist an die Wiener, an die Menschen, die
0049ihn persönlich gekannt und verehrt haben, denen jede Erin-
0050nerung an Billroth theuer und sein Bild unverlöschlich ist.
0051„Man wird mich mit viel Liebe begraben,“
0052schrieb er mir in einem seiner letzten Briefe. Das ist ein-
0053getroffen, und in viel, viel höherem Maße, als er selbst
0054ahnen konnte.
0055Die nachstehenden Brief-Fragmente mögen mit einigen
0056musikalischen Herzensergießungen Billroth’s beginnen. Der
0057Leser wird sich von zeitweilig aufflammender Ueberschwäng-
0058lichkeit im Ausdrucke der Bewunderung oder Abneigung
0059nicht beirren lassen; Billroth schrieb stets unter der Gewalt
0060des ersten Eindrucks, unbekümmert um stylistische Abrun-
0061dung und genauestes Abwägen der Worte. Trotzdem be-
0062zeugen diese vertraulichen Improvisationen ebenso sehr Bill-
0063roth’s starkes künstlerisches Empfinden, wie seine ins Einzelne
0064dringende musikalische Bildung.
006512. October 1877.
0066Je öfter du die neuen Lieder von Brahms vor-
0067nimmst, um so lieber werden sie dir werden; einige werden
0068dich sofort in Fesseln schlagen. Da ich noch immer so be-
0069schäftigt bin, daß ich nicht weiß, wann ich zu dir kommen
0070kann, so möchte ich dir das Suchen nach dem Schönsten
0071etwas abkürzen. Freilich verliere ich bei künstlerischen
0072Schöpfungen, die mich so sehr ergreifen, wie die meisten
0073dieser Lieder, leicht die Kritik, wie wenn ich sie selbst gemacht
0074hätte, diese Lieder. Ein schöner Gedanke, um so fesselnder
0075als er das Unerreichbare in sich schließt.
0076Op. 69, Heft 1 und 2, sind Mädchenlieder, blond und
0077brünett von 16 bis 26 Jahren. Für die schönsten halte ich
0078Nr. 2, 4, 8, 9. Das Gedicht Nr. 2 ist herrlich; es ist die
0079schönste resignirte Trauer in Poesie und Musik. Das Mäd-
0080chen wol 26 Jahre alt. Strophenlied im Volkston, es muß [4]
0081„gesungen“ nicht „vorgetragen“ werden. Meine beiden
0082Mädel sangen es prächtig, wenn wir Abends beim Spazier-
0083gange vom Königssee nach Hause kamen. Ich möchte statt
0084des con moto lieber commodo oder andante setzen. Der
0085Auftakt muß, breit und schön klingend, wie eine süße Erin-
0086nerung an schöne Stunden herauskommen. Das Lied muß
0087ganz durch sich selbst, nicht durch die Sängerin wirken; es
0088gehört volle Naivetät dazu, ich möchte es nicht im Concert-
0089saal hören.
0090Nr. 4. Achtzehnjährig, blond, üppig, die Sinnlichkeit
0091nur als Naturnothwendigkeit, nur halb bewußt empfindend.
0092Von bezaubernder Wirkung ist, wie der vierte Vers das
0093Zwischenspiel nicht mehr abwarten kann, sondern in das-
0094selbe voll Zuversicht hineinjubelt. Auch dies Lied (mit Aus-
0095schluß des freilich wichtigen dritten Verses) singt meine Else
0096in vollster kindlicher Naivetät sehr nett in den Bergen bei
0097hellem Sonnenschein. Man vergißt diese Lieder nicht, wenn
0098man sie einmal gefaßt hat.
0099Nr. 8. Ein originelles, sechzehnjähriges, schwarzäugiges
0100Mädchen, toll, übermüthig; sehr rasch, sehr leicht, mit
0101natürlicher Grazie und sprudelndem Uebermuthe heraus-
0102zujubeln! Die Sängerin darf keine Empfindung davon
0103haben, wie schwer das Lied, zumal im zweiten Theile, ist;
0104daher besser, erst ohne Begleitung zu singen, dann auswendig.
0105Nr. 9. Ein furchtbar sinnlich leidenschaftliches Lied: es
0106muß mit Wollust gesungen werden, der Csardas immer
0107toller und toller. Wenn das Mädchen nach diesem Lied
0108ihren Jaro trifft, umarmt sie ihn, daß ihm alle Rippen
0109krachen! Ich habe das Lied anfangs ernst und tragisch ge-
0110nommen, doch ist es nicht so gemeint, sondern der Ausdruck
0111glühendster Sinnlichkeit, die nach „Genüge“ (wie es in einem
0112anderen Liede von Brahms heißt) ringt.
0113Op. 70 und 71. Lieder für Tenor, den Verstandes-
0114kräften eines Mittelbegabten angemessen.
0115Op. 70, Nr. 1. Sehr schön in dem Genre der „Maien-
0116nacht“. Adelaide ist wol der Typus dieses Genres. Nr. 2
0117phantastisch reizend, Nr. 3 entzückend graziös (nicht zu rasch).
0118Op. 71, Nr. 3, von zartestem Lilienduft, Mondschein.
0119Diese Lieder müssen mit schön hinströmenden Stimmen
0120nicht nur gesungen, sondern „vorgetragen“ werden. Ebenso
0121Nr. 4, womit ein einigermaßen koketter Tenorist es gibt
0122solche) den meisten weiblichen Wesen den Kopf verdrehen
0123kann, wenn er es versteht und sich das Lied auswendig
0124begleiten kann (solche gibt es nicht). Was ich von Nr. 5
0125sagen soll, weiß ich kaum. Wenn Jemand wissen will, was
0126man musikalisch süß ohne Süßlichkeit, empfindungsvoll ohne
0127Sentimentalität nennt, so muß er dies Lied hören. Nimm
0128Schumann’s und Brahms’ Schönstes zusammen, so kommt
0129dies heraus. Sinnige Empfindung ohne bewußte Sinnlichkeit,
0130Verklärung der ersten Liebesschwärmerei; willst du dich
0131berauschen, so spiele dir das Lied einigemale vor dem
0132Schlafengehen, es wird dich im süßesten Traume begleiten
0133und dir die glücklichsten Stunden deiner Jugend zurück-
0134rufen.
0135December 1878.
0136Auf Brahms’ Veranlassung schicke ich dir seine Motette
0137„Warum?“. Nächst dem Requiem ist es wol das Schönste,
0138was er erfunden hat. Vor Allem der Text. So menschlich
0139und so göttlich zugleich und doch confessionslos. Im Concert-
0140saal kann es kaum eine große Wirkung haben, zumal nach
0141einer komischen Opern-Ouvertüre. Kindliche Fragen und
0142Greisenweisheit und Manneszweifel, Alles ist darin. Denke
0143dir das im Lateran von schönen Knaben- und Männer-
0144stimmen gesungen. Du sahst von oben herab auf Rom, auf
0145die Campagna. Die Sonne sank. Alles wird ruhig; du
0146suchst den Weg vom Hügel herab nach Rom. In der
0147Laterankirche erklingt Musik; du trittst ein. Halbdunkel
0148erfüllt den Raum, einige Kerzen am Altar. „Warum?“ erklingt
0149es; der ganze Raum, der hier die Welt bedeutet, erklingt.
0150„Warum?“ Die Klangwirkungen erinnern mich an Lotti, Palä-
0151strina, dann auch wieder ganz an Brahms. Gibt es eine un-
0152sinnliche Geistesschöne in der Musik, dann ist sie hier zur Offen-
0153barung gekommen. Wir sahen in Perugia erst den ganzen
0154Perugino in seinen Fresken, daran denke, wenn du die
0155Motette hörst. Oder denke dich ganz allein in der Sixtina,
0156ganz Eins in Gedanken mit Michelangelo’s Propheten und
0157Sybillen, ganz Mensch, Gott, Welt, Alles in Eins. — Wäre
0158ich der König von Bayern, ich ließe mir das von einem
0159verdeckten Chor vorsingen, neidisch auf jeden Ton, der durch
0160die Kirchenthür zu den Profanen dringt. Ach, und das soll
0161nun den vierunddreißig Karyatiden im dumpfen Musik-
0162saal erklingen, die fast ebensowenig dabei empfinden werden,
0163wie das hochgeehrte Publicum und Adel.
0164Ihr, die ihr euch immer im Gebiete des Schönen
0165bewegt, könnt nicht so empfinden, wie es Jemand zu Muthe
0166ist, der den ganzen Tag vom Jammer der Menschheit an-
0167gepackt ist — und sich, wenn auch oft spät in der Nacht,
0168auch nur kurze Zeit täglich auf diesem Gebiete behaglich zu
0169strecken und recken beginnt. Da wird man wieder lebens-
0170froh im Gebiete der Ideale und des Schönen, wenn man
0171zuvor lebenssatt und gedankenmüde durch die unerbittliche
0172Realität des Lebens geworden war.
01735. März 1877, Nachts.
0174Aus dem Papierkorbe eines Wiener Arztes.
0175(Walküren-Schatten.)
0176Jeder, der sich ernst in Kunstwerke vertieft hat und der
0177Gelegenheit hatte, viel Schönes zu sehen und zu hören,
0178muß zugeben, daß Wagner in der „Walküre“ etwas Groß-
0179artiges, tief Empfundenes dramatisch und musikalisch ge-
0180stalten wollte. Nach dem, was er bisher geschaffen hat, darf
0181er mit vollem Rechte beanspruchen, daß man ihm in seinen
0182Intentionen unbefangen entgegenkommt, unbeirrt durch alle
0183Aeußerlichkeiten, mit welchen das Werk durch die „Nibe-
0184lungen“-Aufführungen in Bayreuth zu seinem Nachtheile
0185behängt ist.
0186Nachdem ich mich eifrig mit dem dramatisch und musi-
0187kalisch einfach aufgebauten Werke beschäftigt hatte, war ich
0188erstaunt, daß die Wirkung auf mich so vollkommen ausblieb;
0189sowol die unmittelbare, als die durch Reflexion in der Phan-
0190tasie voraus empfundene. Stellen, die mir überaus schön
0191erschienen waren, gingen ohne alle Wirkung an mir vorüber.
0192Die Wiener Aufführung war glänzend, alle Darsteller sangen
0193und spielten mit Begeisterung, zum größten Theile unüber-
0194trefflich; das zu beobachten, ist ja schon an sich eine große
0195Freude; dennoch war ich nicht nur selbst bald ermüdet,
0196sondern sah schon im zweiten Act um mich her vorwiegend
0197abgespannte, halb schlafende Gesichter.
[5]
0198Von der Schlußscene des dritten Actes erwartete ich
0199eine zauberisch-poetische Wirkung; ich habe den „Feuerzauber“
0200nie im Concert gehört, doch kann ich es jetzt wohl verstehen,
0201wenn man da und dort erzählt, er wirke intensiver im
0202Concertsaale als im Theater. Es scheint mir, daß hier ein
0203Effect durch den anderen umgebracht wird; eine rothe Gluth
0204im Hintergrunde, vorne roth beleuchtete Wasserdämpfe
0205würden die „vabernde“ Wirkung der Musik weniger stören;
0206man wird bei diesem vielen offenen Feuer auf der Bühne
0207den Gedanken doch nicht los, daß etwas anbrennen könnte;
0208es fehlt diesem Feuer der Zauber; der soll in der Musik
0209liegen, und liegt auch in ihr für Jeden, der sich halb träu-
0210mend diesem Hin- und Herwogen und Flattern des Klanges
0211hingeben will und kann; die hellen Glockentöne haben mich
0212dabei gestört; sie müßten so leise hineinwirken, daß sie dem
0213Klange ein bisher ungehörtes Timbre geben, jedoch ohne
0214daß man so deutlich hört, wie es zu Stande kommt. — So
0215war auf mich der Schlußeindruck dieses Werkes, an welchem
0216Wagner so viele Jahre lang mit aller seiner Kraft gear-
0217beitet hat, der einer mittelmäßigen Feerie! — nichts von
0218Kunstwerk? — nichts von Poesie! Mich hat das sehr
0219traurig gestimmt; ich empfand den schweren Irrthum eines
0220bedeutenden schaffenden Künstlers nie so mit. Es kam die
0221Stimmung des Galgenhumors über mich und ich rief den
0222Souffleur und den Lampenputzer heraus! Loge heraus!
0223Hätte Wagner mit eigenen Augen sehen müssen, wie sein
0224Wotan und der Feuerwerker, seine Walküren mit dem
0225Coulissenmaler und sein Hanns Richter mit dem Maschinisten
0226auf dem Podium Hand in Hand erschienen — seine bittersten
0227Feinde hätte ein menschliches Rühren erfaßt! — Loge ’rraus!
0228Der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen war hier
0229Ereigniß! — Loge hat den Wotan arg überlistet!
0230Schon seit Jahren hatte ich mich an die sonderbare
0231Sprache Wagner’s in den „Nibelungen“ gewöhnt; der Stoff
0232an sich war mir als Nordländer sympathisch. Die Anord-
0233nung der Scenen und ihr Aufbau erscheinen mir zum großen
0234Theile sehr glücklich; besonders sind die Schlußscenen aller
0235drei „Wallküren“-Acte sehr poetisch empfunden und scenisch
0236sehr geschickt arrangirt; die Vorstellung gelang auch technisch
0237vortrefflich — ich frage mich immer wieder, warum das
0238Ganze so wirkungslos, die Wirkungen des Einzelnen so
0239vorübergehend und matt? Sollte es Wagner doch an dem
0240fehlen, was den Dichter in Wort und Ton erst zum Dichter
0241macht? Vermag er seine Empfindung nicht so zu gestalten,
0242daß sie auch auf Andere poetisch wirkt? Ich hatte nicht den
0243Eindruck, daß ich der Einzige oder Einer mit Wenigen war,
0244der so unberührt blieb. Fast kommt es mir vor, als fehle
0245Wagner das unbewußte Können, das unbewußte Wirken;
0246er ist sich des Unbewußten wie der Philosoph gar zu sehr
0247bewußt. Dabei bleibt er immer eines der eminentesten, viel-
0248seitigst begabten Talente, und als solches eigenartig durch
0249die Kühnheit und die consequente Ausbildung und Aus-
0250breitung der besonderen Qualitäten seiner Begabung. So
0251episch breit und oft sich wiederholend er in seiner Dichtung
0252ist, so ist er es auch in seiner Methode der Composition;
0253sowie im Text kein künstlerischer Aufbau architektonisch ge-
0254gliederter Versgruppen und keine außergewöhnliche Gedanken-
0255tiefe gefunden wird, so auch nicht in der Musik. So einfach
0256und sparsam die dramatischen Motive, so einfach und
0257sparsam auch die musikalischen. Es herrscht vielfach die irrige
0258Meinung, daß die Musik in Wagner’s „Nibelungen“ sehr
0259complicirt und daher schwer zu fassen sei; das ist vollkom-
0260men unrichtig. Nimmt man das Fleisch fort, so bleibt meist
0261ein sehr einfaches Skelet, wie das einer Schlange; eine
0262lange Wirbelsäule aus lauter gleichen Stücken. Alle Scenen
0263sind gleich gearbeitet, die etwas wirkenden haben einen
0264deutlich erkennbaren Kopf, doch bei vielen besteht auch der
0265Kopf nur aus einem Wirbel. Bleiben wir im Vergleich, so
0266sind diese Schlangenwirbel von sehr zierlichen, in allen
0267Farben schillernden Schuppen und Flossen bedeckt, und hierin
0268gibt sich ein Reichthum der Phantasie und eine Geschicklich-
0269keit des Schöpfers kund, die man bei genauerem Studium
0270immer mehr bewundert. Eine Thierschöpfung, die bis zur
0271Schlangenbildung gekommen ist, bleibt immerhin eine respec-
0272table Leistung — doch wenn man auch andere Geschöpfe mit
0273Flügeln, Armen und Beinen, Gesichtern und Mienen kennen
0274gelernt hat, so möchte man doch auch zuweilen solche sehen;
0275das Prähistorische ist nun freilich Mode, und das unterstützt
0276die Wirkung der „Nibelungen“. Diese Art von Geschöpfen
0277ist gewiß berechtigt, und man soll es Niemand verargen,
0278der an ihnen seine besondere Freude hat, doch darf man
0279Anderen dann auch nicht das Recht schmälern, wenn sie
0280anderen Thierformen den Vorzug geben oder mindestens
0281eine Abwechslung wünschen.
0282Mir ist es vollkommen klar, daß in dieser principiell
0283eigensinnigen Monotonie einer Form, deren Berechtigung
0284an sich ich gar nicht beanstande, die Ursache liegt, weßhalb
0285das Kunstwerk auf mich nicht wirkt. Wagner hat in der
0286„Walküre“ eine besonders strenge Oekonomie der Verwen-
0287dung von musikalischen Motiven geübt; ich nehme an, er
0288hat das so gewollt, er wollte einfach und groß sein. Die
0289sechs bis acht Motive sind meist rhythmisch energisch und
0290sinnlich eindringlich; ich finde sie vorwiegend schön, und ist
0291es mir dabei gleichgiltig, ob sich Gleiches bei Anderen oder
0292anderswo bei ihm schon findet. Doch diese Motive sind meist
0293sehr kurzatmig, es sind Naturlaute, Interjectionen oder nur
0294Vordersätze; sie wachsen nur durch Umhüllung mit immer
0295mehr Stoffen wie eine Modellpuppe, nicht aus sich heraus.
0296Längere, rhythmisch gegliederte Strophen, Vorder- und Nach-
0297sätze, eine zweite Hälfte zu einem ersten Theil, das Alles
0298kommt nicht vor. So könnte jede Scene der Musik wegen
0299beliebig abbrechen und in die Länge gezogen werden. Ich
0300verliere dabei bald alles Interesse am Folgen. Für einige
0301Scenen läßt man sich das gefallen, zumal wenn die leiten-
0302den Motive schön sind; doch wenn man nie losgelassen
0303wird, nie die Gegend im Ganzen überschauen kann, sondern
0304immer nur dem Führer in den Hohlwegen nachtraben soll,
0305nie weiß, wie viel man hinter sich, was man vor sich hat,
0306so wird man anfangs müde, dann mißmuthig, endlich läßt
0307man sich nur noch halb gewaltsam fortschleppen.
0308Warum Wagner, der doch ein solcher Virtuose im
0309Erfinden von Klangwirkungen ist, von den schönsten Klang-
0310wirkungen, die durch die Vereinigung menschlicher Stimmen
0311erzeugt werden, in der „Walküre“ ganz und gar Abstand
0312nimmt (nur die Walküren schreien im letzten Act zuweilen
0313zusammen), bleibt mir unklar; es wäre seinem Erfindungs-
0314geiste gewiß nicht schwer geworden, dies so einzufügen, daß
0315es dramatisch nicht stört. Ebenso verstehe ich nicht, warum
0316er fast nie von zwei- und drei- und vierstimmigen Instru-
0317mentalführungen, von thematischen Führungen und Gegen[6]-
0318führungen etc. Gebrauch macht. Die musikalische Einfachheit
0319ist mit einer Strenge durchgeführt, die uns eine Entsagung
0320auferlegt, welche oft an Aushungerung grenzt. Der ein-
0321fachste Bach’sche Choral kommt mir wie ein Monstrum an
0322Complicirtheit vor gegenüber Wagner’s „Walküren“-Musik,
0323die mir eine frappante Aehnlichkeit mit den in den ver-
0324schiedensten bunten Farben angestrichenen altegyptischen
0325Schlachtenbildern zu haben scheint, wo hundert Soldaten
0326hinter einander mit den gleichen Linien gezogen sind. — —
0327Loge heraus! — — Loge heraus! —
03289. Mai 1879.
0329Es war sehr lieb von dir, daß du meiner gedachtest.
0330Ich habe in dieser Zeit sehr viel an dich gedacht, weil ich
0331wußte, wie viel du an deinem Freunde Schön verloren
0332hast, der mit ebenso viel Liebe an dir hing, wie du an ihm.
0333Er war eine feinfühlige künstlerische Natur, ein lieber, guter
0334Mensch und dabei ein vortrefflicher Mann, der voll und
0335ganz ins Getriebe der Staatsverwaltung eingriff; es gibt
0336nicht allzu Viele, bei denen praktische Tüchtigkeit, poetischer
0337Sinn und musikalisches Können so vereinigt sind, wie es bei
0338ihm der Fall war. Und dazu sein reizender Humor in der
0339Musik; er blieb darin stets jung und kindlich; auch ein
0340Beweis für seine echt künstlerische Natur. Nur selten fand
0341man in einem schmunzelnden Zuge um den Mund bei dem
0342ernsten und schon kränkelnden, zuweilen fast melancholisch
0343erscheinenden Manne den Humor wieder, der in vielen
0344seiner Studenten-Compositionen so köstlich hervortritt. Ich
0345kann mir denken, daß er in früheren Jahren ein prächtiger
0346Geselle im fröhlichen Kreise war. Hlasiwetz, Unger, Schön
0347und du, ihr hattet zusammen so Vieles gemein, daß ich
0348mir euren früheren Kreis in der „Krone“ ganz köstlich und
0349heiter denke. Fast kommt es mir vor, daß die Entwicklung
0350solcher Freundeskreise immer seltener wird. Das Leben wird
0351immer complicirter, absorbirt uns immer mehr; die immer
0352steigende Concurrenz auf wissenschaftlichem, künstlerischem,
0353literarischem, socialem Gebiete ist wol ein Beweis von stei-
0354gender Kraftentwicklung unserer Generation, doch geht bei
0355diesem Arbeiten und ewigem Hasten nach neuer Arbeit auch
0356viel verloren. Die Kunst leidet dabei am meisten; das mo-
0357derne Publicum hat keine Zeit mehr zum Sehen und Hören,
0358denn das Denken und Empfinden wird gewaltsam durch das
0359Schwungrad der Zeit in eine bestimmte Bahn mitgerissen.
0360Wenn du dich behaglich in Marienbad fühlst und deine
0361Sophie aus Franzensbad zu dir herüberzieht, so eile nicht
0362zu sehr nach Wien. Was früher die Kälte im Extrem hier
0363leistete, leistet jetzt die Hitze; zwanzig bis vierundzwanzig
0364Grad im Schatten bei dicker, schwerer Luft ist hier jetzt das
0365Gewöhnliche; nur mein Garten, in welchem heute Abends
0366die jungen Spatzen und Amseln einen Chor eigener Com-
0367position schnalzen und wo die Akazien und Jasmin duften
0368und die Rosen zu blühen anfangen, macht uns die Existenz
0369erträglich; ja, wenn wir zusammen Abends unser Nachtmal
0370im Garten nehmen, ist es so still und friedlich, als gäb’ es
0371gar keine Welt. Wie würdest du das Alles genießen, wärest
0372du an meiner Stelle; ich habe leider viel an Genußfähigkeit
0373verloren; so lange ich in Wien bin, treiben mich stets
0374tausend Gedanken und lassen mich nicht zur Ruhe kommen,
0375bis ich einschlafe; schlafen kann ich zu meinem Glück noch
0376wie ein Murmeltier.
0377October 1879.
0378Brahms’ neue Violin-Sonate kenne ich aus dem Manu-
0379script. Es ist ein eigenes Stück; schwärmerisch, elegisch in
0380allen Sätzen; in Stimmung und Motiven ein Nachklang
0381von dem „Regenlied“ (op. 59, Heft 1, Nr. 3 und 4). Du
0382solltest dir das Lied vorher ansehen; wenn du es nicht hast,
0383will ich es dir schicken. Mir ist es unendlich lieb; die Poesie
0384ist herrlich; eines von den Liedern, in welchen, Gott sei
0385Dank, nicht von Liebe und Frauenzimmern die Rede ist und
0386doch ein echtes Tenorlied. Die Erinnerung an unschuldsvolle
0387Jugend ist zu einer Weise erhoben, die fast an religiöse
0388Schwärmerei grenzt. Hat man sich das Hauptmotiv zu eigen
0389gemacht, so kann man es nie vergessen. Ich kenne keinen
0390Sänger, der das Lied so singen könnte, wie ich es mir
0391denke; würde das Lied so gesungen, wie es sich in unserem
0392geistigen Ohr gestaltet, wir würden der Thränen nicht Herr
0393werden. Die Sonate in drei Sätzen besteht nur aus den
0394Motiven des Liedes. So sehr ich mich freue, sie bei mir zu
0395hören, im Concertsaal kann ich sie mir vorläufig nicht denken;
0396die Empfindungen sind zu fein, zu wahr und warm, die
0397Innerlichkeit zu herzlich für die Oeffentlichkeit.
0398Januar 1881.
0399Du hast gewiß eine der neueren, besseren Beethoven-
0400Biographien; lass’ mir doch gelegentlich eine zukommen.
0401Ich habe ein Bedürfniß, mich mit diesem merkwürdigsten
0402Menschen zu beschäftigen. „Fidelio“ hat gestern wieder einen
0403überwältigenden Eindruck auf mich gemacht. Die Sängerin
0404ist ja sehr häßlich und hat auch keine schöne Höhe, doch war
0405sie warm und rührend. Leonore soll ja auch keine heldische,
0406sondern eine rührende, keine leidenschaftliche, sondern durch
0407das hohe Maß ihres ausdauernden Leidens anbetungswürdige
0408Frau sein. Das absolut Unsinnliche in der Handlung und
0409Musik hat etwas Antikes; von dem ehelichen Verhältniß ist
0410das Gesellschaftliche, weil leicht Vergängliche, abgestreift, es
0411bleibt mehr eine Freundschaft im antiken und mittelaltrigen
0412Sinne; sie ist mehr als Liebe des Geliebten zur Geliebten.
0413Denkt man sich, Leonore wäre mit Florestan noch nicht ver-
0414heiratet gewesen, so würde der Stoff sofort ins Triviale
0415verfallen, die Musik Beethoven’s wäre unwahr, wenigstens
0416würde sie uns kaum noch als wahr erscheinen.
0417Florenz, 4. April 1882.
0418Was soll ich dir von Italien schreiben? Du kennst es
0419und kennst es auch nicht, denn immer ist es neu. Ein
0420schöner Frühlingstag in Sorrento, in Amalfi ist eine Welt
0421von Poesie für den, der letztere immer bei sich hat, doch
0422wie viele und zumal jetzt deutsche Reisende findet man,
0423denen man sehr deutlich ansieht, daß sie unbefriedigt von
0424dannen ziehen, weil sie nicht wissen, was sie wollen und
0425was sie suchen; es gibt nicht nur absolut unmusikalische
0426Menschen, sondern auch Menschen ohne allen Sinn für
0427Naturschönheit; man glaubt so leicht, die Schönheit liegt in
0428der Natur, und doch liegt sie nur in uns; sie ist auch nicht
0429gleich voll und ganz da, sondern wächst nach und nach durch
0430Uebung, welche dann auch die Empfindung steigert. Der
0431Sinn für Naturschönheit hat viel Verwandtes mit dem
0432Musiksinn. — In Sorrent und Amalfi hätte ich dich und
0433Johannes besonders gern in unserer Mitte gehabt; es gab
0434da viel Volksthümliches zu sehen und zu hören, auch in
0435Venedig. Lied und Tanz gehören dort überall zusammen.
0436Das Volk tanzt wie es singt und umgekehrt. Am origi-
0437nellsten sind die Neapolitaner; mit welchen soit-disant-Instru[7]-
0438menten sie die gräßlichsten Töne hervorbringen, um den
0439Tact zu markiren, ist zum Todtlachen. Dazu die Volksspiele,
0440zumal der Fackeltanz: es bindet sich Einer eine lange
0441Papierdüte am Hintern an, und dreht und springt damit
0442umher; die Anderen versuchen, die Düte anzuzünden, was
0443ihnen selten gelingt; die Naivetät dabei ist reizend. Dann
0444wieder die schwärmerischen Canzonettensänger; ich bringe
0445etwas davon mit gedruckt, auch ein Manuscript von einem
0446Barbier-Componisten in Sorrento. Doch wie dumm sieht
0447das auf dem Papier aus: Costüm, Mondnacht, das Meer,
0448der Vesuv, die laue Luft gehören dazu. Das Landvolk in
0449der Umgebung von Neapel hat sich am ungetrübtesten seinen
0450nationalen Tanzgesang bewahrt. Sonst hört man in ganz
0451Italien Wiener Musik! Hat Wien früher viel Freude
0452durch italienische Musik gehabt, so zahlte es diesen Genuß
0453jetzt reichlich durch Strauß und Suppé zurück.
0454Ich war inzwischen in den Ufficien und im Palazzo
0455Pitti, wie ehern und marmorn ist das dort Alles gegen die
0456Musik! Jetzt wollen wir noch nach S. Miniato, Firenze ist
0457mit Blumen wie Pompeji mit Asche erfüllt. Ein göttlicher
0458Tag! Verwirrend!
0459Juli 1882.
0460Auf deinen Wunsch habe ich mir den Text des „Parsi-
0461falles“ gekauft und nach dreimaligem krampfhaften Ansatz
0462soeben fertig gelesen. Es thut mir leid um die Zeit. Gibt
0463es etwas Dümmeres? Widerlicheres? Die ganze Gralsage
0464war mir stets zuwider; diese faulen Mönche mit ihrer
0465„Tätzen“ und dem römischen Lanzknechtspeer; die götzen-
0466artige Anbetung dieser alten Scharteken; das ewige Lamento
0467des dummen Amfortas! Die Mumie Titurel, die sich zuletzt
0468noch im Sarge aufrichtet! Der Trottel Parsifal! Ist das
0469nicht Alles widerlich? Man muß sich doch immer denken,
0470daß diese Gralsritter wie die Auguren unter sich lachen;
0471was thun sie denn sonst den ganzen Tag? Und wenn sie
0472noch ein Publicum um sich hätten, das sie nasführen, aber
0473daß sie sich nur selbst zum Besten haben, ist gar zu läppisch.
0474Ich sehe auch nicht eine Spur von Poesie in dem ganzen
0475Stoff! — Und nun dieser Parsifal? Ich vermuthe, er ist
0476ein Castrat; jedenfalls ist seine Phantasie und sein Ver-
0477stand castrirt. Er thut nichts, als blödsinnig umherlaufen,
0478niemals weiß er, was er will, wo er ist, was er gethan
0479hat. Dann die Scene im zweiten Act auf dem Mons Veneris.
0480Kundry-Messalina und Paetus-Parsifal. Die Wandelbilder
0481(zweimal dasselbe! Welche Phantasie-Armuth!) kommen mir
0482immer lächerlich auf der Bühne vor. Gurnemanz und
0483Parsifal stampfen die Erde wie ein Esel in einem Triebrad,
0484und die Maschinisten ziehen die Bilder vorbei! Es ist zu
0485läppisch! Und dann wieder die gleichen Schlüsse im ersten
0486und dritten Act; welche Armuth der Erfindung und Ge-
0487staltung! — Es ist wieder wie bei allen Schöpfungen
0488Wagner’s: er kann keine Menschen gestalten; das sind doch
0489wieder nur singende Automaten. Auch die Kundry hat keinen
0490freien Willen; der alte Hausknecht Gurnemanz soll doch
0491nicht etwa ein Charakter sein! Dazu die widerliche Sprache!
0492Welche Frechheit gehört dazu, Dinge zu schreiben, wie „durch
0493Mitleid wissend, der reine Thor: harre sein, den ich erkor“.
0494Es thut mir leid, daß du als Musikreferent und an-
0495ständiger Mensch in Bayreuth bist, sonst würde ich sagen,
0496die Menschen, welche sich diesen Blödsinn gefallen lassen,
0497sind nicht werth, Viecher in des Meisters Stall zu sein.
0498... bald wird die Welt nur aus Parsifals und Kundrys
0499(junge Buhlerin, alte Betschwester) bestehen.
0500August 1882.
0501Deine Kritik über „Parsifal“ ...
0502Ich finde, daß dein Standpunkt immer der gleiche,
0503kunstschöne ist, und daß du stets das Schöne bei Wagner
0504hervorgehoben und das theatralisch Wirksame gebührend
0505anerkannt hast. Gerade das Maßvolle deiner Kritiken hat
0506die Fanatiker früher so erbost. Jeder vernünftige Mensch
0507wird außerdem jedem bedeutenden Künstler gegenüber —
0508die Künstler treten uns ja meist früher als scharf ab-
0509geschlossene Individuen entgegen — immer milder werden,
0510weil er bei jedem neuen Werk in vorhinein weiß, was er
0511zu erwarten hat. Man freut sich an Makart’s Farben und
0512seinem naiven Durcheinander der Zeichnung, erwartet aber
0513keinen Michelangelo’schen Inhalt; man freut sich an Brahms’
0514großen Formen und der Vertiefung und der Energie des
0515Ausdrucks, verlangt aber keine Rossini’sche Grazie; man
0516weiß nun auch, daß man bei Wagner keine Mozart’sche
0517Formen- und Melodien-Schönheit findet, man erwartet sie
0518nicht, ist also nicht enttäuscht, sondern gibt sich rückhaltloser
0519der declamatorischen und decorativen Wirkung hin. Nach
0520dem traurigen Eindruck, welchen im Ganzen die „Nibelungen“
0521machen, freut man sich gewiß, etwas mehr Musik im „Parsifal“
0522zu finden, und ärgert sich nicht mehr so über den Text,
0523den man sich doch noch viel dümmer denkt, wenn man ihn
0524noch nicht gelesen hat.
0525Mai 1883.
0526Ich mußte im Akademischen Gesangverein den ganzen
0527ersten Act des „Parsifal“ hören. Scenerie: Bösendorfer-
0528Saal. Orchester: ein harter Bösendorfer-Flügel.
0529Vielleicht nur ein schlechter Holzschnitt nach einem guten
0530Oelgemälde. Doch selbst ein solcher nach einem Rafael,
0531Michelangelo oder selbst Feuerbach ist doch noch immer etwas
0532Schönes! Aber ein Holzschnitt nach Wagner ist mir eine
0533wüste Masse von Strichen ohne irgend eine erkennbare
0534Form. Ich habe mich immer gefragt: Bin ich verrückt oder
0535sind es die Andern? Oder ist die Musik überhaupt verrückt
0536geworden? Wenn man das „Componiren“ nennt, dann ist
0537es wahrlich nicht schwer.
0538Immerhin fragt man sich, wenn das Alles so dumm
0539ist, warum redet man davon? Ist es nur der Mangel an
0540anderem Stoff, an anderer Production? Doch wol nicht.
0541Es schweben ihm jedenfalls große Ideale vor! Ungeheuerliche
0542Ziele! Diese verwirklichen zu wollen, ist ja eine Art Bornirt-
0543heit! Doch alle Helden sind in einigen Punkten bornirt.
0544Die Welt hat nun einmal das Bedürfniß, an solche Helden
0545zu glauben. Habeant sibi! Glaubt die Welt an einen Papst
0546und an seine ex cathedra proclamirten Dogmen, so mag
0547sie auch an Wagner glauben. Mir ist leider Beides versagt.
0548Der Jugend verdenke ich es nicht, daß sie sich für Wagner
0549begeistert; die technischen Schwierigkeiten sind schon ein
0550großer Reiz! Wer es aber mit der Kunst und dem Schönen
0551ernsthaft meint, kann sich wol nicht, ohne sich selbst zu
0552belügen, in diese Begeisterung mit hineinstürzen. Ich spähte
0553heute Abends vergeblich nach begeisterten Gesichtern; überall
0554nur Langweile und blödes Erstaunen. Man nennt wol
0555Malerei und Plastik speciell bildende „Kunst“, doch für mich
0556gibt es überhaupt keine Kunst ohne Form und Gestalt!