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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10685. Wien, Donnerstag, den 24. Mai 1894

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Aus Briefen von Billroth. II


0002Ed. H.*) In die erste Hälfte der Achtziger-Jahre fallen
0004mehrere weite Reisen Billroth’s, die er theils zur Erholung,
0005theils auf Berufung zu medicinischen Consultationen unter-
0006nahm. Von überallher sendete er mir Nachricht; einen
0007längeren oder kürzeren Brief, oft auch nur ein flüchtiges
0008Billet, denen er gern eine frischgepflückte Orangenblüthe
0009oder ein Lorbeerblatt beizulegen liebte. In diesen beglückenden,
0010zarten Freundschaftsbeweisen war Billroth einzig, wie in
0011Allem. Enthusiastische Empfindung für Naturschönheit und
0012glückliche Beobachtung von Land und Volk sprechen aus
0013diesen Reiseblättern. Zwischendurch erhalten wir wieder
0014Urtheile über Bücher und Compositionen, sowie Nachricht
0015von seinen eigenen Studien über Malerei und Musik.


0016Februar 1884.
0017Herzlichen Dank für deine Zusendungen; du weißt, wie
0018lieb und erfreulich mir Alles ist, was von dir und Brahms 
0019kommt. Daß Brahms jetzt nicht mehr allein die künstlerische
0020Schaffensfreude, sondern auch die Freude des Erfolges in
0021tiefen und immer längeren Zügen genießt, freut mich
0022herzlich. Die Abhandlung des Herrn X. ist für mich nicht
0023recht verständlich. Wenn ein sonst gebildeter Mensch sagt,
0024die musikalische Ausdrucksweise und die Art, wie Brahms 
0025die Tonformen gestaltet, ist mir unsympathisch, so läßt sich
0026darüber ebensowenig sagen, als wenn Jemand den Schöpfungen
0027Michelangelo’s oder Hebbel’s gegenüber sagt: das imponirt
0028mir wol, aber es gefällt mir nicht. Wenn aber Jemand
0029behauptet, diese oder jene Kunstschöpfung erregt in mir
0030keine oder keine nachhaltige Empfindung, also ist sie nur
0031mit dem Verstand und ohne Gefühl gemacht, so halte ich
0032das für baren Unsinn. Wenn schon überhaupt die Tren-
0033nung von Verstand und Empfindung bei allen praktischen
0034Aeußerungen des menschlichen Geistes eine sehr prekäre ist,
0035so ist sie das noch viel mehr auf dem Gebiete der Phantasie.
0036Ein Kunstwerk ist ohne Verstand, ja selbst ohne eine Art
0037von Verstandestechnik ebensowenig denkbar, wie ein Mensch
0038ohne Verstand. Das mehr oder weniger abmessen zu wollen, 
0039was der Künstler beim Schaffen an Verstand und Empfin-
0040dung verwendet, und danach Verstandes- und Gefühlskünstler
0041unterscheiden zu wollen, kommt mir geradezu komisch vor.
0042Ist die Einleitung zur „Don Juan“-Ouvertüre mehr Ver-
0043standes- oder Gefühlsmusik? Ist das Adagio der Neunten
0044Symphonie Beethoven’s etwa ohne Verstand oder ohne Ge-
0045fühl geschrieben? Die größten Künstler und nicht zum min-
0046desten die Musiker wie Bach, Händel, Haydn, Mozart,
0047Beethoven, Chopin, Mendelssohn, Schumann, Brahms sind
0048alle ganz gewiß keine Dummköpfe. Diese sehr verbreitete
0049X’sche Theorie entspricht freilich mehr der Durchschnitts-
0050dummheit der Menge, und ist eben auch mit einer Durch-
0051schnittsflachheit der Empfindung gepaart. Wenn Menschen
0052mit einer sehr starken Individualität, in kleinen oder gar
0053kleinlichen Verhältnissen aufgewachsen, in ihrer speciellen
0054Sphäre Bedeutendes leisten und alles nicht in diese Sphäre
0055Hineinragende ablehnen, so kann man sich das gefallen
0056lassen; ob der Herr X., den ich nicht kenne, solche Leistungen
0057aufzuweisen hat, weiß ich nicht.


0058Ein interessanter Punkt ist in dem Aufsatze berührt,
0059der mich schon oft beschäftigt hat, nämlich das Nachklingen
0060der Kunstwerke in uns. Was mich betrifft, so wirkt das
0061Kunstwerk auf mich gerade wie ein Mensch oder eine schöne
0062Gegend. Die Einen tauchen immer wieder als Erinnerungs-
0063bilder auf, die Anderen verschwinden. Der sinnliche, unmittel-
0064bare Eindruck wirkt selten so beglückend auf mich wie das
0065Erinnerungsbild. Ist es nicht ebenso mit den Menschen,
0066die einen Eindruck auf uns gemacht haben? War der Ein-
0067druck ein sympathischer (zunächst rein materiell physiologisch
0068genommen), so werden sich auch bald die Erinnerungsbilder
0069in Tönen oder Formen oder phantastischen, poetischen Ge-
0070danken einstellen; diese Erinnerungsbilder nehmen immer
0071mehr eine subjectiv ideale Form an. Haben wir bald Ge-
0072legenheit, sie wieder mit dem Realen zu vergleichen, d. h. mit
0073dem neuen wieder rein physiologischen Eindruck, so können
0074wir uns zuweilen eine Enttäuschung nicht verhehlen. Und
0075doch nimmt das dann wieder auftauchende Erinnerungsbild
0076wieder eine ideale Gestalt an, ja oft in noch höherer Potenz.
0077So entsteht nach und nach die Liebe sowol zu den uns sym-
0078pathischen Menschen wie zu den uns sympathischen Kunst-
0079werken und Natureindrücken. Für mich ist die Stärke und
0080das anhaltende Auftauchen der idealen Nachbilder geradezu
0081ein Maßstab des Eindrucks, welchen das Kunstwerk auf mich 
0082gemacht hat; der sinnliche Eindruck beim Hören und Sehen
0083ist bei mir fast nie so stark wie die Wirkung des Erinne-
0084rungs- oder des zu eigen gewordenen Phantasiebildes. Ich
0085hatte vorgestern Abends um die mitternächtliche Stunde
0086plötzlich Sehnsucht nach Schumann’s „Faust“. Allein in
0087meinem großen Saale, Todtenstille um mich herum, schlug
0088ich den dritten Theil auf, spielte ihn mir höchst unvollkom-
0089men am Clavier durch und genoß dieses herrliche Werk mit
0090einer Wonne, wie ich sie nie bei einer Aufführung empfinden
0091konnte. So geht es mir auch oft mit Werken von Bach,
0092Beethoven, Schumann, Chopin, Brahms. Kein Virtuos,
0093kein Orchester, kein Chor, kein Sänger kann mir das geben,
0094was ich da in der Stille höre, obgleich ich die Noten nur
0095zur Unterstützung meines Gedächtnisses vor mir habe und
0096nur selten das so meinem Ohr zuführen kann, wie ich es
0097innerlich höre. —


0098Taormina, 12. April.
0099Ach wärst du hier! Heute Abends hast du das Liszt-
0100Concert gehört, du Unglücklicher! Und nun höre unser
0101Concert! Taormina! Ja weißt du, was das bedeutet?
0102Träume, Träume! Und denke dir das Schönste! Ich sage
0103dir, es ist gar nichts! Fünfhundert Fuß über rauschendem
0104Meer! Vollmond! Berauschender Duft von Orangen-
0105blüthen! Rothblühender Cactus an pittoresken colossalen
0106Felsen in solchen Massen wie bei uns das Moos! Palmen-
0107Orangen-, Citronenwälder! Maurische Burgen! Ein sehr
0108schön erhaltenes griechisches Theater! Dazu die breite, lange,
0109schneebedeckte Fläche, der Aetna, Feuersäule! Dazu ein Wein
0110aus der Nähe von Syrakus, genannt Monte Venere! Dazu
0111Johannes in Schwärmerei! Ich in trunkener Frechheit ihm
0112aus seinen Quartetten vorphantasirend. Märchen aus „Tausend
0113und Einer Nacht“! Es gibt Augenblicke im menschlichen
0114Leben! — Ach wärst du bei uns, du lieber Hanns! —
0115Mit einiger Mühe habe ich Brahms mit nach Sicilien 
0116geschleppt; Nottebohm, Goldmark und ich, wir waren in
0117seligem Dolce farniente in Rom, Jeder doch in seiner Art
0118etwas Rechtes, nur du hast gefehlt! — Nottebohm (il gio-
0119vanastre nennt ihn Brahms) und Goldmark (il re di Saba)
0120hatten keine Courage, die Fahrt durch die Scylla und Cha-
0121rybdis zu machen, und bis heute Mittags war auch
0122Johannes nicht sehr erbaut von der langen See- und Eisen-
0123bahnfahrt; doch Taormina! Das war nach meinem Princip
0124so recht in medias res! Es ist unglaublich!

[2]


012518. Juni 1886.
0126Der arme König Ludwig und mein armer College
0127Gudden! So wie jährlich einige Aerzte an Leichen- oder
0128Eitervergiftung sterben, so kommen auch jährlich einige
0129Irrenärzte durch die Irren um. Die Gewohnheit des Um-
0130gangs mit den Kranken macht leicht tollkühn. Gudden scheint
0131einen Moment vergessen zu haben, daß man wol einen
0132Löwen im Käfig bändigen, doch nicht in der Freiheit dres-
0133siren kann. Der bayrische Löwe hat ihn umgebracht. — Die
0134Form des Irrsinns, die man „Verrücktheit“ nennt, ist eine
0135der merkwürdigsten und für Laien kaum verständlich. Wenn
0136Luwig in einem Augenblicke verlangt hätte, eine Walküre
0137zu braten und ihm ein Stück Roastbeef davon vorzusetzen
0138oder ein garnirtes Stück in Nilwasser gedämpften Alberich’s
0139zu serviren mit dem Liebesmotiv des Ministers Lutz und
0140gleich darauf wieder einen gewichtigen geistvollen Brief an
0141Döllinger geschrieben oder eine schwere mathematische Kopf-
0142rechnung ausgeführt hätte, so wäre das in einem Irren-
0143hause etwas ganz Alltägliches — im Schloß Hohenschwangau 
0144staunt man darüber. Die Schlauheit, welche schon halb
0145blödsinnige Irre bei Selbstmordversuchen entwickeln, ist
0146oft stupend.


0147Alexandrien, März 1886.
0148Morgen geht ein Schiff von hier nach Europa; so
0149treffen dich diese Zeilen wol noch vor meiner Rückkunft nach
0150Wien. So bunt und interessant im vulgären Sinne der
0151Orient mit seinen Palmen, Bananen, Tamarisken, seinem
0152dunkelblauen Meer ist, so ist mir doch eigentlich jede mittlere
0153italienische Stadt, wie Perugia, Orvieto, Siena, lieber.
0154Dort finde ich überall geistige, culturelle Anknüpfungspunkte,
0155Beziehungen zu meiner Phantasie! Hier ist von alledem
0156nicht die Rede. Bunt genug ist es freilich hier. So ein
0157Völkersalat wie hier scheint kaum möglich, wenn man ihn
0158nicht gekostet hat; das Suez-Canal-Bild im „Excelsior“ ist
0159nur ein schwaches Abbild von dem, was man hier vom
0160Balcon aus auf der Straße sieht. Mehr kaleidoskopische
0161Figuren, als eigentliche Bilder. Viel Charakteristisches, doch
0162das Ganze unharmonisch. Mündlich davon mehr! Für heute
0163nur diesen kurzen Gruß zum Zeichen, daß ich dein und
0164deiner Sophie gedacht habe.


0165Paris, 9. October 1886, ½2 Uhr Morgens.
0166Du kennst ja das Pariser Leben, wirst dich also über
0167die Datirung dieser Zeilen nicht wundern. Wir waren mit 
0168Frau Wilbrandt im Théâtre Gymnase und sahen „Frou-
0169Frou“, ein miserables Stück, doch vortrefflich gegeben, dann
0170noch etwas Bier, Sherry-Cobler und einige Cognac im
0171Café de la Paix, und nun ins Hotel.


0172Tausend Dank für deine lieben Zeilen und alle deine
0173gütigen Besorgungen. Du wirst aus meinen diversen Be-
0174stellungen ersehen haben, daß ich mich wieder einmal in
0175einem Anfalle des Verschwendens befinde; Alles kommt bei
0176mir anfallsweise: Sparsamkeit, Strenge, Ernst und Pflicht
0177und Tollheit und Verschwendung. Die goldene Mittelstraße
0178kann ich nur akademisch bewundern und empfehlen. Ich
0179fühle mich ganz besonders frisch und kräftig, und wenn nicht
0180ein Rückschlag beim Eintreten in meine Wiener Verhältnisse
0181erfolgt, will ich versuchen, wieder etwas lustiger in diesem
0182Winter zu sein, als in den letzten Jahren.


0183Odessa, December 1886.
0184Das Schwarze Meer ist ebensowenig schwarz wie die
0185Donau blau ist. Einen Pontus-Euxinus-Walzer wird man
0186schwerlich machen, denn das ganze Südrußland macht nichts
0187weniger als einen vergnügten Eindruck. Die Vegetation ist
0188hier unter dem Breitegrade von Rom weit spärlicher als
0189in Wien; die Meeresküste ist ohne allen Reiz, die Stadt,
0190kaum hundert Jahre alt, langweilig und charakterlos. Wäre
0191nicht der schöne Mondschein, so wäre es kaum erträglich.
0192Ich hatte noch nie so Heimweh, als in dieser Woche, wo
0193ich mich außerdem körperlich elend befand. Hoffentlich bin
0194ich übermorgen Abends in Wien.


0195Januar 1887.
0196Das „Tagebuch“ von Goethe kannte ich schon, habe es
0197aber mit großem Vergnügen wieder gelesen. Es ist inzwischen
0198gedruckt, verboten und soll doch schon in irgend einer
0199Gesammt-Ausgabe Goethe’scher Werke stehen. Es ist ein
0200merkwürdiges Gedicht; merkwürdig auch in der Charakte-
0201ristik Goethe’s:
0202Denn zeigt sich auch ein Dämon, uns versuchend, /
0203So waltet Maß, gerettet ist die Tugend. /


0204Dazu stimmt auch ein anderer Ausspruch von ihm,
0205den ich — ich weiß nicht wo — gelesen habe: „Man soll
0206nie eine Neigung zu einer Leidenschaft heranwachsen lassen.“
0207Danach könnte man fast meinen, Goethe habe eine wahre,
0208sinnbethörende Leidenschaft nicht gekannt, die er doch im
0209Faust“, „Egmont“, „Götz“ u. s. w. so meisterhaft schildert.
0210Er war ein Anderer in seiner Phantasie als im Leben; im 
0211Leben wol meist Clavigo, Egoist — darum ist er auch so
0212alt und ein Goethe geworden; nur in seiner Phantasie
0213ein Werther. Ich habe diesen Gegensatz zwischen Phantasie-
0214Menschen und realen Menschen schon oft bemerkt bei Künst-
0215lern. Johanna Wagner war eine alberne, phlegmatische
0216Person im Leben, auf der Bühne von hinreißender Leiden-
0217schaft. — — —


0218Dein heutiges Feuilleton. ... Was für ein guter
0219Mensch du doch bist! Es ist ein Glück, daß ich kein Kritiker
0220geworden bin. Ich könnte dem Reiz nicht widerstehen, von
0221meinem Talent, durch jedes Wort Tausende von Menschen
0222tödtlich zu beleidigen, den ausgiebigsten Gebrauch zu machen.
0223Es liegt doch etwas von einem Löwen oder Tiger in mir,
0224der sich im Blute wohl und stark fühlt.


0225März 1887.
0226Bin ich taub und blind oder sehe ich und höre ich
0227mehr, weil ich seltener höre und sehe? Kurz, ich hatte heute
0228einen recht traurigen Eindruck von dem Concert. Hermine S.
0229ist ein prächtiges, frisches Mädel, aber als Künstlerin scheint
0230sie mir in raschem Niedergang. Wie hübsch und geschmackvoll
0231sang sie im ersten Concert; der Gesammt-Eindruck war ein
0232künstlerischer. Wie manierirt und geschmacklos sang sie heute
0233oft: nur in wenigen Momenten konnte sie mir genügen.
0234Fast an jedem Liede hätte ich wesentliche künstlerische Aus-
0235stellungen zu machen. Der Erfolg bringt sie herunter. Mich
0236interessirt die S. innerlich nicht genug, um ihr das zu
0237sagen; doch wäre es schade, wenn sich nicht ein wahrer
0238Freund fände, der es thäte. Wahre Freunde sind wie die
0239besten Frauen immer unausstehlich, weil sie es für Pflicht
0240halten, die Wahrheit zu sagen, und die Wahrheit ist vor-
0241wiegend unangenehm. Ich bin auch schon auf dem Stand-
0242punkte, daß mir die wohlwollende Convention genügt und
0243ich wenig auf die innere Wahrheit gebe. Wenn man älter
0244wird, genügt einem eine anständige Behandlung, und die
0245gewissenhaftesten Menschen werden unerträglich.


0246Entsetzlich war die Clavierspielerin; sie besaß alle Un-
0247tugenden einer jungen Clavierspielerin im höchsten Maße:
0248unmusikalisch, werkelartige Technik, widerwärtigen harten
0249Anschlag, Unfähigkeit, die Töne zu binden. Das Des-dur-
0250Notturno war das letzte Stück, das ich von Wilhelmine
0251Clauß in Göttingen hörte; es ist mir unvergeßlich. Freilich
0252war ich damals jung und grün, jetzt alt und grau. Das
0253Stück vom Saint-Saëns hätte der selige Kalkbrenner besser [3]
0254componirt. Und die sogenannte Tarantella von Liszt. Ab-
0255scheuliche Hundemusik! Und so von einem Berber-Füllen
0256gespielt! Es ist gut, daß ich keine kritischen Feuilletons zu
0257schreiben habe. Wenn mir aber dieses Fräulein P. in die
0258Nähe kommt, amputire ich ihr beide Hände, wenn sie sich
0259auch daran verbluten sollte. Unsere Polizei ist doch mise-
0260rabel, daß sie solche Mörderinnen frei umherlaufen läßt.
0261Zeit ist Leben! Ist es nicht ein Blödsinn, zwei Stunden in
0262dieser Hitze zu sitzen? Schon vorher die Sekkatur, bis man
0263die Garderobe abgelegt hat, endlich ein Programm erwischt
0264hat, die Billette zwischen den Zähnen, den Zehner in den
0265Händen, endlich den Sitz gefunden hat, auf dem man
0266sich giftet.


02671887.
0268Die Variationen von Dvořak haben mir einen
0269mächtigen Eindruck gemacht; es ist wol sein bestes Orchester-
0270werk, auch wol eines der genialsten und musikalisch inter-
0271essanten der neueren Zeit überhaupt. — Es war Donnerstag
0272Abends reizend behaglich bei dir; mich hat es besonders
0273auch gefreut, Dumba in der Nähe zu sehen. Er ist doch
0274ein Mensch, und dazu ein lieber. Von wie Wenigen kann
0275man das sagen!


027614. März 1887.
0277Wärst du nicht mein lieber Hanns, ich könnte dich um
0278deine entschließende Energie und Thatkraft beneiden. Ich bin
0279seit etwa zwei Wochen von einer Apathie, die keine Grenzen
0280kennt; bis Mittag hält es allenfalls vor, um meine amt-
0281lichen und ärztlichen Geschäfte zu erledigen; da mir dann
0282nach unserer neuen Eßstunde um 2 Uhr jede Ruhe fehlt
0283und nach schnellem Hinabschlingen einiger Speisen sofort die
0284Ordinations-Stunde folgt, bei welcher ich mich kaum auf-
0285rechthalte vor Müdigkeit, und da ich nachher entweder
0286Examina oder ein Diner zu absolviren habe, so befinde ich
0287mich in der zweiten Hälfte des Tages in einem höchst be-
0288jammernswerthen Zustande. Eine zeitlang rappelte ich mich
0289zusammen und täuschte mir vor, ich sei frischer als je; doch
0290nun ist es ganz aus, und ich fühle, daß eine force majeure
0291mich zwingt, eine zeitlang auszuspannen. Doch wie? Wann?
0292Was unternehmen? Des Entschließens Fähigkeit schien mir
0293fast abhanden gekommen; ich kenne mich nicht mehr. Da
0294kommst du mir als rettender Engel mit positiven Vor-
0295schlägen, bestimmten Zwecken, Terminen. Ich ergreife das,
0296wie ein Sinkender einen Strohhalm faßt. Fixiren wir auf
0297alle Fälle „Othello“ am 29. März in Mailand.

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai.