Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11716. Wien, Sonntag, den 4. April 1897
[1]Von Johannes Brahms’ letzten Tagen.
0002Ed. H. So haben wir ihn denn auch verloren, den
0003echten großen Meister und treuen Freund! Ihn, der noch
0004vor Kurzem sich rühmen durfte, in seinem ganzen Leben
0005nie krank gewesen zu sein, nicht einen einzigen Tag! Das
0006hielt auch glücklich an bis gegen Ausgang des Sommers;
0007da war er unversehens erkrankt, ohne es selbst zu wissen.
0008Einige Freunde machten ihn in Ischl aufmerksam auf seine
0009krankhafte gelbe Gesichtsfarbe. Mit der Erklärung, er schaue
0010ohnehin nie in den Spiegel, brach er das ihm ärgerliche
0011Gespräch ab. Brahms, der Vierundsechzigjährige, wollte
0012niemals von Krankheit hören, nie von Schonung oder
0013Vorsicht; durch seine beneidenswerthe Rüstigkeit dünkte er
0014sich gefeit. Als er mir vor etwa fünf Jahren mit naiver
0015Befriedigung erwähnte, er habe sich ein hübsches Vermögen
0016zusammencomponirt, welches ihm Simrock in Berlin ver-
0017walte, bemerkte ich: „Du hast doch ein Testament gemacht?“
0018— „Ein Testament?“ rief er ganz erstaunt, „ich bin ja
0019ganz frisch und gesund!“ — „Eben darum,“ erklärte ich.
0020„Verschiebt man dieses Geschäft, bis man recht alt und krank
0021geworden, dann kommt man entweder gar nicht mehr dazu
0022oder macht etwas Dummes.“ Brahms schwieg und schien
0023mit dem Gedanken wie mit etwas Weltfremdem zu ringen.
0024Nach ein paar Tagen brachte er mir trotzdem ein versiegeltes
0025Testament zur Aufbewahrung. Ich behielt es vorläufig, bis
0026bald darauf Simrock in Wien eintraf und auf mein Ersuchen
0027die Urkunde zu sich nahm. Als der Jüngste von uns Dreien
0028hatte er die meiste Wahrscheinlichkeit des Ueberlebens für sich.
0029In Ischl bequemte sich Brahms doch endlich seinen
0030Freunden zulieb, ärztlichen Rath anzunehmen. Die Aerzte
0031erklärten seine Gelbsucht aus einem vorläufig noch unbe-
0032denklichen Leberleiden und schickten Brahms nach Karlsbad.
0033Sehr widerwillig gehorchte er dieser Weisung, war doch
0034seine Vorliebe für Ischl ebenso groß wie seine Abneigung
0035gegen jeden ernsten „Curplatz“, Ende August langte er in
0036Karlsbad an. Ich hatte dort zwei musikalische Freunde
0037(Professor Emil Seling und Musikdirector Janetschek)
0038brieflich ersucht, Brahms auf dem Bahnhofe zu erwarten
0039und ihm beim Wohnungssuchen und sonst behilflich zu sein.
0040Als sie ihm aus dem Waggon aussteigen halfen, waren
0041Beide, wie sie mir schrieben, über sein furchtbares Aus-
0042sehen so entsetzt, daß sie Mühe hatten, ihn es nicht merken
0043zu lassen. Nachdem Brahms den Eindruck des Fremden
0044und Ungewohnten überwunden hatte, begann ihm Karlsbad
0045besser zu gefallen, als er je gedacht. „Wie leid mir ist,“
0046schreibt er mir Anfangs September, „am 11. nicht dabei
0047zu sein, und manches Andere brauche ich dir nicht zu
0048sagen.*)
Von hier aber wollte ich recht behaglich zu dir
0053plaudern — dies ist das erste Blatt Papier, das ich nehme!
0054Aber da werde ich gleich heute Früh mit so viel theilnahms-
0055vollen Briefen überschüttet, daß ich wirklich nicht anfangen
0056mag. Aber ich bin meiner Gelbsucht ganz dankbar, daß sie
0057mich endlich in das berühmte Karlsbad bringt. Es be-
0058grüßten mich auch gleich so herrliche Tage, wie wir sie den
0059ganzen Sommer nicht hatten. Dazu habe ich eine überaus
0060reizende Wohnung („Stadt Brüssel“, am Hirschensprung)
0061bei allerliebsten Leuten, so daß ich höchst vergnügt bin.
0062Sei für heute mit dem flüchtigen Gruße zufrieden deines
0063J. Br.“
0064Nicht so tröstlich lautete ein Brief, den Brahms’ aus-
0065gezeichneter Karlsbader Arzt Dr. Grünberger die
0066Güte hatte, mir am 24. September zu schreiben, und
0067worin es heißt: „Nach wiederholter genauer Untersuchung
0068und durch volle drei Wochen fortgesetzter Beobachtung des
0069Patienten ergab sich als Resultat das Vorhandensein einer
0070bedeutenden Schwellung der Leber mit vollständigem Ver-
0071schluß der Gallengänge und den hiedurch bedingten Folge-
0072Erscheinungen, Gelbsucht, Verdauungsstörungen etc. Trotzdem
0073ich eine Neubildung der Leber direct nachzuweisen nicht im
0074Stande war ... kann ich doch nicht umhin, den Zustand
0075als einen recht ernsten zu bezeichnen.“ Kein Zweifel,
0076daß die hervorragenden Aerzte, welche Brahms nach seiner
0077Rückkehr hier consultirte, über seine unheilbare Krankheit
0078ebenso im Reinen waren, wenn sie auch den trostlosen
0079Namen derselben gegen Niemanden aussprechen mochten.
0080Am wenigsten durfte natürlich Brahms selbst Verdacht
0081bekommen. Wie lebhaft er auf psychologische Eindrücke
0082reagirte, sah ich mit Staunen, als ich ihn eines Vor-
0083mittags besuchte und seine Stimme auffallend kräftiger,
0084seine Bewegung viel freier fand, als Tags vor-
0085her. „Ja,“ rief er, mit einem zufriedenen Ton,
0086wie ich ihn lange nicht mehr von ihm gehört, „ich
0087bin jetzt wirklich beruhigt; es war ein Consilium
0088von Aerzten bei mir, und sie haben nach genauester Unter-
0089suchung durchaus nichts Gefährliches bei mir gefunden!“
0090Thatsächlich war in den ersten zwei bis drei Monaten nach
0091seiner sechswöchentlichen Karlsbader Cur eine Verschlimmerung
0092seines Zustandes kaum zu bemerken, freilich auch keine
0093Besserung. Brahms ging noch ziemlich viel spazieren; auf-
0094fallend erschien dabei nur sein schwankender Gang und die
0095gebückte Haltung. Auch war er sehr reizbar geworden, be-
0096sonders heftig und unwirsch, wenn man nach seinem
0097Befinden fragte oder vorgab, ihn besser aussehend zu finden.
0098Wenn man überhaupt den Muth hatte, ihn zu fragen,
0099antwortete er meistens: „Alle Tage ein bischen schlechter.“
0100Das war auch objectiv richtig. Eine langsame, aber stetig
0101zunehmende Verschlimmerung machte sich deutlich bemerkbar.
0102Der gelbe, fast orangefarbene Teint wurde immer dunkler
0103und gab seinen einst so schönen blauen Augen einen un-
0104heimlichen Ausdruck. Sein kräftiger, zu starker Fülle
0105neigender Körper schrumpfte zu entsetzlicher Mager-
0106keit ein; die langen weißen Haare hingen wirr herab
0107über das faltige, abgemagerte, bekümmerte Gesicht.
0108Trotzdem kam er noch vier Wochen vor seinem Ende fast
0109regelmäßig als Mittagsgast zu befreundeten Familien, auch
0110manchmal in deren Loge ins Burgtheater, das er ebenso
0111gern besuchte, als er der Oper auswich. „Ich bitte dich
0112dringend,“ schrieb er mir in jener Zeit, „entbehre Bösen-
0113dorfer und Reinecke und benütze beiliegende Karte, um
0114Anzengruber’s „Gewissenswurm“ zu sehen! Es ist ein ganz
0115vortreffliches Stück und wird dich herzlich erfreuen, ja wahr-
0116haft erquicken. Du kennst es aber wahrscheinlich und weißt,
0117daß es kein trauriges Stück ist.“ Die letzte Opernvor[2]-
0118stellung, welche Brahms besucht hat, war das „Heimchen“
0119von Goldmark, den er persönlich liebte und schätzte. Im
0120Theater wie auch am Mittagstisch geschah es nun häufiger
0121als je, daß Brahms einnickte. Er war bereits recht schwach,
0122als Strauß’ neue Operette „Die Göttin der Vernunft“
0123herauskam; aber wiederholt hatte er mich gemahnt, ihm
0124gewiß einen Platz in meiner Loge zu reserviren. Für
0125Johann Strauß, mit dem er, zumal in Ischl, viel und
0126gern verkehrte, empfand Brahms die herzlichste Sympathie
0127und hatte noch an dessen letztem Werke: „Waldmeister“
0128sich aufrichtig erfreut. Auf einen Fächer von Frau Adele
0129Strauß schrieb Brahms unter die Anfangstacte des „Donau-
0130walzers“ die Worte: „J. Brahms, der dies componirt
0131haben möchte.“ Er erschien auch am 13. März pünktlich
0132in der Première der „Göttin der Vernunft“, fühlte sich
0133aber zu angegriffen, um bis zu Ende zu bleiben. Nach
0134dem zweiten Acte verließ er das Theater, wie immer heftig
0135dagegen protestirend, daß man einen Wagen hole oder ihn
0136nach Hause begleite, was doch bereits sehr rathsam erschien.
0137Nur durch eine listige Vorspiegelung gelang es, daß er die
0138Begleitung meines Schwagers annahm. Es war das letzte-
0139mal, daß Brahms ein Theater betreten hat. Dem Besuch
0140von Abendconcerten hatte er schon früher entsagt; das
0141Concert der von ihm sehr hochgeschätzten Marcella
0142Sembrich hätte er gern gehört und kam selbst zu ihr,
0143sich zu entschuldigen.
0144Das letzte von Brahms besuchte Concert war das
0145„Philharmonische“ vom 7. März. Die Erinnerung
0146daran wird sich jedem Anwesenden tief eingeprägt haben.
0147Man begann mit Brahms’ 4. Symphonie in E-moll.
0148Gleich nach dem ersten Satz erhob sich ein Beifallssturm,
0149so anhaltend, daß Brahms endlich aus dem Hintergrund
0150der Directions-Loge vortreten und sich dankend verneigen
0151mußte. Diese Ovation wiederholte sich nach jedem der vier
0152Sätze und wollte nach dem Finale gar kein Ende nehmen.
0153Es ging ein Schauer von Ehrfurcht und schmerzlichem Mit-
0154leid durch die ganze Versammlung; eine deutliche Ahnung,
0155daß man die Leidensgestalt des geliebten kranken Meisters
0156in diesem Saale zum letztenmal begrüße. Diese ganz außer-
0157gewöhnliche Huldigung wirkte um so stärker, als ge-
0158rade seine E-moll-Symphonie niemals populär gewesen
0159und bei ihrem geringen sinnlichen Reiz es auch schwerlich
0160werden wird. Wir Freunde, die wir an der ersten kalten
0161Aufnahme dieses Werkes im Jahre 1886 nun diesen
0162glänzenden Erfolg messen konnten, freuten uns für Brahms
0163unsäglich über diesen Triumph. Aber die rechte innere Fröh-
0164lichkeit wollte sich doch nicht einstellen; das Weh der Sorge,
0165des Mitleidens ließ sich nicht wegmusiciren.
0166Es ging nun zusehends abwärts mit Brahms. Seine
0167Füße wollten nicht mehr gehorchen; so holten ihn denn seine
0168Freunde zu Spazierfahrten in den Prater ab. Auch diese
0169karge Herrlichkeit währte nur ganz kurze Zeit. Brahms
0170mußte, wogegen er sich am längsten gesträubt, vor acht
0171Tagen zu Bett gebracht werden. Er hat es nicht wieder
0172verlassen. So kraftlos war er in diesen letzten Tagen, daß
0173er auch wachend in einer Art Betäubung hinzudämmern
0174schien. Die unbeschreiblich rührende Sorgfalt seiner Freunde
0175Victor v. Miller-Aichholz, Arthur Faber, Dr. Fellinger und
0176ihrer Frauen hat ihn, den Alleinstehenden, unausgesetzt um-
0177geben. Wie es scheint, hat Brahms kein Bewußtsein von
0178der Hoffnungslosigkeit seines Zustandes und von der Nähe
0179der Gefahr gehabt; die Freunde und Aerzte erhielten ihn
0180liebevoll in dieser Illusion; die Zeitungen, die er noch zeit-
0181weise durchblätterte, enthielten sich rücksichtsvoll jeder Notiz
0182über seine schwere Erkrankung.
0183Brahms’ letzte Composition (op. 121) waren bekanntlich
0184die auf Bibelworte gesetzten „Vier ernsten Gesänge“,
0185deren bittere Klage über die Vergänglichkeit des Menschen
0186von schmerzlichem Todesschauer durchweht sind. Sie schienen
0187uns, als sie in diesem Winter zum erstenmale gesungen
0188wurden, ein böses Omen, und in der Musikgeschichte werden
0189sie ohne Zweifel als eine merkwürdige, ganz bestimmte
0190Todesahnung fortleben. Dennoch stand Brahms, als er die
0191Lieder im vorigen Sommer in Ischl componirte, in voller
0192Gesundheit und war noch Monate später ganz unberührt von
0193Todesgedanken. Aller Wahrscheinlichkeit nach steht die Wahl
0194dieser Texte im Zusammenhange mit Clara Schumann’s
0195Tod (Ende Mai 1896), welcher Brahms so tief erschüttert
0196hat. Aber die „Ernsten Lieder“ blieben seine letzten: sie
0197präludirten seinem Sterben.
0198Als wir am 7. Mai v. J. Brahms’ 63. Geburtstag
0199im Freundeskreis so heiter begingen, da mochte Niemand,
0200Niemand ahnen, daß es sein letzter war. Wir werden keinen
02017. Mai mehr feiern.