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Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst. Montag, den 13. März 1854. No. 11.

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Die Tonkunst in ihren Beziehungen zur Natur.


Von Dr. Eduard Hanslick.


Das Verhältniß zur Natur ist für jedes Ding das
Erste, darum das Ehrwürdigste und das Einfluß-
reichste. Wer auch nur flüchtig an den Puls der
Zeit gefühlt, der weiß wie die Herrschaft dieser Er-
kenntniß in mächtigem Anwachsen begriffen ist. Durch
die moderne Forschung geht ein so starker Zug nach
der Naturseite aller Erscheinungen, daß selbst die
abstraktesten Untersuchungen merklich gegen die Me-

thode der Naturwissenschaften gravitieren. Auch die
Aesthetik, will sie kein bloßes Scheinleben füh-
ren, muß die knorrige Wurzel kennen wie die zarte
Faser, an welcher jede einzelne Kunst mit dem Na-
turgrund zusammenhängt. Hat in dieser Kenntniß
die Wissenschaft des Schönen für Maler und Poeten
Fragmentarisches geliefert, so schuldet sie dem Mu-
siker nicht viel weniger als Alles.


Man, pflegte die Naturbeziehungen der Musik haupt-
sächlich nur aus physikalischem Standpunkte zu be-
trachten und ist über Schallwellen, Klangfiguren,
Monochord u. s. w. wenig hinausgekommen. Ge-
schah irgend ein Schritt zu großartigerer Untersu-
chung, so gerieth er alsbald ins Stocken, weil er
vor seinen eigenen Resultaten erschrack oder doch vor
dem allzuheftigen Konflikt mit der herrschenden Lehre.
Und doch erschließt das Verhaltniß der Tonkunst zur
Natur die wichtigsten Folgerungen für die musika-
lische Aesthetik. Die Stellung ihrer schwierigsten Ma-
terien, die Lösung ihrer kontroversesten Fragen hängt
von der richtigen Würdigung dieses Zusammen-
hangs ab.


Die Künste — vorerst als empfangend, noch nicht
als rückwirkend betrachtend, — stehen zu der umge-
benden Natur in einer doppelten Beziehung. Erstens
durch das rohe körperliche Material, aus welchem sie
schaffen, dann durch den schönen Inhalt, den sie für
künstlerische Behandlung vorfinden. In beiden Punk-
ten verhält sich die Natur zu den Künsten als müt-
terliche Spenderin der ersten und wichtigsten Mitgift.
Es gilt den Versuch, diese Ausstattung im Interesse
der musikalischen Aesthetik rasch zu besichtigen und
zu prüfen, was die vernünftig und darum ungleich
schenkende Natur für die Tonkunst gethan hat.


Untersucht man, in wiefern die Natur Stoff für
die Musik biete, so ergibt sich, daß sie dies nur in
dem untersten Sinn des rohen Materials thut, wel-
ches der Mensch zum Tönen zwingt. Das stumme
Erz der Berge, das Holz des Waldes, der Thiere
Fell und Gedärm sind Alles was wir vorfinden, um
den eigentlichen Baustoff für die Musik: den rei-
nen
Ton zu bereiten. Wir erhalten also vorerst nur
Material zum Material. Dies letztere ist der reine,
nach Höhe und Tiefe bestimmte, d. i. meß-
bare Ton
. Er ist erste und unumgängliche Be-
dingung jeder Musik. Diese gestaltet ihn zu
Melodie und Harmonie, den zwei Hauptfak-
toren der Tonkunst. Beide finden sich in der Natur
nicht vor, sie sind Schöpfungen des Menschengeistes.
Das geordnete Nacheinanderfolgen meßbärer Töne,
welches wir Melodie nennen, begegnen wir in der
Natur auch nicht in den dürftigsten Anfängen; ihre
successiven Schallerscheinungen entbehren der verständ-
lichen Proportion und entziehen sich der Reduktion
auf unsere Skala. Die Melodie aber ist, mit einem
neuern Schriftsteller zu sprechen, „der springende
Punkt,“ das Leben, die erste Kunstgestalt des Ton-
reichs, an sie ist jede weitere Bestimmtheit, alle Er-
fassung des Inhaltes geknüpft.


Eben so wenig wie Melodie kennt die Natur, diese
großartige Harmonie aller Erscheinungen, Harmo-
nie
im musikalischen Sinn, als Zusammenklingen
bestimmter Töne. Hat Jemand in der Natur einen
Dreiklang gehört, einen Sext- oder Septimakkord?
Wie die Melodie, so war auch (nur in viel langsa-
meren Fortschreiten) die Harmonie ein Erzeugniß
menschlichen Geistes.


Die Griechen kannten keine Harmonie, sondern san-
gen in der Oktave oder im Einklang, wie noch heut
zu Tage jene asiatischen Völkerschaften, bei welchen
überhaupt Gesang angetroffen wird. Der Gebrauch
der Dissonanzen, wozu auch Terz und Sext 
gehörten, begann allmälig vom zwölften Jahrhundert
an, und bis ins fünfzehnte beschränkte man sich bei
Ausweichungen auf die Oktave. Jedes der Intervalle,
die jetzt unserer Harmonie dienstbar sind, mußte ein-
zeln gewonnen werden, und oft reichte ein Jahrhun-
dert nicht hin für solch kleine Errungenschaft. Das
kunstgebildetste Volk des Alterthums, sowie die ge-
lehrtesten Tonsetzer des früheren Mittelalters konnten
nicht, was unsere Hirtinnen auf der entlegensten Alpe:
in Terzen singen. Durch die Harmonie aber ist der
Tonkunst nicht etwa ein neues Licht aufgegangen,
sondern zum ersten Mal Tag geworden. „Die ganze
Tonschöpfung wurde von dieser Zeit an erst ausge-
boren.“ (Nägeli.)


Harmonie und Melodie fehlen also in der Natur.
Nur ein drittes Element in der Musik, dasjenige von
dem die beiden ersten getragen werden, existirt schon
vor und außer dem Menschen: der Rhytmus. Im
Galopp des Pferdes, dem Klappern der Mühle, dem
Gesang der Amsel und Wachtel äußert sich eine Ein-
heit, zu welcher aufeinanderfolgende Zeittheilchen sich 3

zusammenfassen und ein anschauliches Ganze bilden.
Nicht alle, aber viele Lautäußerungen der Natur sind
rhytmisch. Und zwar herrscht in ihr das Gesetz des
zweitheiligen Rhytmus, als Hebung und Senkung,
Anlauf und Auslauf. Was diesen Naturrythmus
von der menschlichen Musik trennt, muß alsbald auf-
fallen. In der Musik gibt es nämlich keinen isolir-
ten Rythmus als solchen, sondern nur Melodie oder
Harmonie, welche rythmisch sich äußert. In der Natur
hingegen trägt der Rythmus weder Melodie noch
Harmonie, sondern nur unmeßbare Luftschwingungen.
Der Rythmus, das einzige musikalische Urelement in
der Natur ist auch das erste, so im Menschen erwacht,
im Kinde, im Wilden sich am frühesten entwickelt.
Wenn die Südsee-Insulaner mit Metallstücken und
Holzstäben rythmisch klappern und dazu ein unfaßli-
ches Geheul ausstoßen, so ist das natürliche Mu-
sik, denn es ist eben keine Musik. Was wir aber
einen Tiroler Bauer singen hören, zu welchem an-
scheinend keine Spur von Kunst gedrungen, ist durch-
aus künstliche Musik. Der Mann meint freilich,
er singe, wie ihm der Schnabel gewachsen ist: aber
damit dies möglich wurde, mußte die Saat von Jahr-
hunderten wachsen.


Wir hätten somit die nothwendigen Elementar-
bestandtheile unserer Musik betrachtet und gefunden,
daß der Mensch von der ihn umgebenden Natur nicht
musiciren lernte. In welcher Art und Folge sich unser
heutiges Tonsystem ausgebildet hat, lehrt die Ge-
schichte der Tonkunst. Wir haben diese Nachweisung
vorauszusetzen und nur ihr Ergebniß festzuhalten,
daß Melodie und Harmonie, daß unsere Intervallen-
Verhältnisse und Tonleiter, die Theilung von Dur
und Moll nach der verschiedenen Stellung des Halb-
tons, endlich die schwebende Temperatur, ohne welche
unsere (europäisch-abendländische) Musik unmöglich
wäre, langsam und allmälig entstandene Schöpfungen
des menschlichen Geistes sind. Die Natur hat dem
Menschen nur die Organe und die Lust zum Singen
mitgegeben, dazu die Fähigkeit, sich auf Grundlage
der einfachsten Verhältnisse nach und nach ein
Tonsystem zu bilden. Man hüte sich vor der Ver-
wechslung, als ob dieses (gegenwärtige) Ton-
system selbst
nothwendig in der Natur läge. Die
Erfahrung, daß selbst Naturalisten heut zu Tage mit
den musikalischen Verhältnissen unbewußt und leicht
handtiren, wie mit angebornen Kräften, die sich von
selbst verstehen, stempelt die herrschenden Tongesetze
keineswegs zu Naturgesetzen; es ist dies bereits Folge
der unendlich verbreiteten musikalischen Kultur. Hand,
bemerkt ganz richtig, daß darum auch unsere Kinder
in der Wiege schon besser singen, als erwachsene
Wilde. „Läge die Tonfolge der Musik in der Natur
fertig vor, so sänge auch jeder Mensch und immer
rein“ *).


Wenn man unser Tonsystem ein „künstliches“
nennt, so gebraucht man dies Wort nicht in dem
raffinirten Sinn einer willkürlichen, konventionellen
Erfindung. Es bezeichnet blos ein Gewordenes 
im Gegensatz zum Erschaffenen.


Dies übersieht M. Hauptmann, wenn er den
Begriff eines künstlichen Tonsystems einen „durchaus
nichtigen“ nennt, „indem die Musiker eben so wenig
haben Intervalle bestimmen und ein Tonsystem er-
finden können als die Sprachgelehrten die Worte der
Sprache und die Sprachfügung erfunden haben“ **).
Grade die Sprache ist in demselben Sinn wie die
Musik ein künstliches Erzeugniß, indem beide nicht
in der äußeren Natur vorgebildet liegen, sondern
unerschaffen sind und erlernt werden müssen.
Nicht die Sprachgelehrten, aber die Nationen bilden
sich ihre Sprache nach ihrem Charakter und Bedürf-
niß, erneuern und ändern sie fortwährend. So haben
auch die „Tongelehrten“ unsere Musik nicht „errich-
tet,“ sondern lediglich das fixirt und begründet, was
der allgemeine musikalisch befähigte Geist mit Ver-
nünftigkeit
aber nicht mit Nothwendig-
keit
unbewußt ersonnen hatte ***).



Aus diesem Prozeß ergibt sich, daß auch unser
Tonsystem im Zeitverlauf neue Bereicherungen und
Veränderungen erfahren wird. Doch sind innerhalb
des gegenwärtigen Systems noch zu große und viel-
fache Evolutionen möglich, als das eine Aenderung
im Wesen des Systems anders als sehr fernliegend
erscheinen dürfte. Bestände diese Bereicherung z. B.
in der „Emancipation der Vierteltöne,“ wovon eine
moderne Schriftstellerin schon Andeutungen im Cho-
pin
finden will, °) so würde Theorie, Kompositions-
lehre und Aesthetik der Musik eine total andere. Der
musikalische Theoretiker kann daher gegenwärtig den
Ausblick auf diese Zukunft noch kaum anders frei lassen,
als durch die einfache Anerkennung ihrer Möglichkeit.


Unserem Anspruch, es gebe keine Musik in
der Natur, wird man den Reichthum mannigfal-
tiger Stimmen einwenden, welche die Natur so
wundervoll beleben. Sollte das Rieseln des Bachs,
das Klatschen der Meereswellen, der Donner der La-
winen, das Stürmen der Windsbraut nicht Anlaß
und Vorbild der menschlichen Musik gewesen sein?
Hatten all die lispelnden, pfeifenden, schmetternden
Laute mit unserm Musikwesen nichts zu schaffen?
Wir müssen in der That mit Nein antworten. Alle
diese Aeußerungen der Natur sind lediglich Schall 
und Klang, d. h. in ungleichen Zeittheilen aufein-
anderfolgende Luftschwingungen. Höchst selten und
dann nur isolirt bringt die Natur einen Ton her-
vor, d. i. einen Klang von bestimmter, meßbarer Höhe
und Tiefe. Töne sind aber die Grundbedingung
aller Musik. Mögen diese Klangäußerungen der Na-
tur noch so mächtig oder reizend das Gemüth anre-
gen, sie sind keine Stufe zur menschlichen Musik,
sondern lediglich elementarische Andeutungen 
einer solchen. Selbst die reinste Erscheinung des na-
türlichen Tonlebens, der Vogelgesang, steht zur
menschlichen Musik in keinem Bezug, da er unserer
Skala nicht angepaßt werden kann. Auch das Phä-
nomen der Naturharmonie ist auf seine rich-
tige Bedeutung zurückzuführen. Die harmonische Pro-
gression erzeugt sich auf der gleichbesaiteten Aeols-
harfe von selbst, gründet also auf einem Naturgesetz,
allein das Phänomen selbst hört man nirgend von der
Natur unmittelbar erzeugt. Sobald nicht auf einem
musikalischen Instrument ein bestimmter, meßbarer
Grundton angeschlagen wird, erscheinen auch keine
sympathischen Nebentöne, keine harmonische Progres-
sion. Der Mensch muß also fragen, damit die
Natur Antwort gebe. Die Erscheinung des Echo 
erklärt sich noch einfacher. Es ist merkwürdig, wie
selbst tüchtige Schriftsteller sich von dem Gedanken
einer eigentlichen (nur unvollkommenen) „Musik“ in
der Natur nicht losmachen können. Selbst Hand,
von dem wir absichtlich früher Beispiele zitirten,
welche seine richtige Einsicht in das inkommensurable,
kunstunfähige Wesen der natürlichen Schallerscheinun-
gen darthun, bringt ein eigenes Kapitel von der
„Musik der Natur,“ deren Schallerscheinungen „ge-
wissermaßen“ auch Musik genannt werden müssen.
Ebenso Krüger°°). Wo es sich aber um Prinzi-
pienfragen handelt, da gibt es kein „gewissermaßen,“
— was wir in der Natur vernehmen ist entweder
Musik, oder es ist keine Musik. Das entschei-
dende Moment kann nur in die Meßbarkeit des Tons
gelegt werden. Hand legt den Nachdruck überall
auf die „geistige Beseelung“ „den Ausdruck inneren
Lebens, innerer Empfindung,“ „die Kraft der Selbst-
thätigkeit, wodurch unmittelbar ein Inneres zur Aus-
sprache gelangt.“ Nach diesem Prinzip müßte der
Vogelgesang Musik genannt werden, die mechanische
Spieluhr hingegen nicht; während gerade das Ent-
gegengesetzte wahr ist.


— Die „Musik“ der Natur und die Tonkunst des
Menschen sind zwei verschiedene Gebiete. Der Ueber-
gang von der ersten zur zweiten geht durch die Ma-
thematik
. Ein wichtiger, folgenreicher Satz. Frei-
lich darf man ihn nicht so denken, als hätte der
Mensch seine Töne durch absichtlich angestellte Berech-
nungen geordnet; es geschah dies vielmehr durch un-
bewußte Anwendung ursprünglicher Größen- und
Verhältniß-Vorstellungen, durch ein verborgenes Mes-
sen und Zählen, dessen Gesetzmäßigkeit erst später die
Wissenschaft konstatirte.


Dadurch, daß in der Musik alles kommensurabel
sein muß, in den Naturlauten aber Nichts kommen-
surabel ist, stehen diese beiden Schallreiche unvermit-
telt neben einander. Die Natur gibt uns nicht das 

künstlerische Material eines fertigen, vorgebildeten
Tonsystems, sondern nur den rohen Stoff der Kör-
per, die wir der Musik dienstbar machen. Nicht die
Stimmen der Thiere, sondern ihre Gedärme sind uns
wichtig, und das Thier dem die Musik am meisten
verdankt, ist nicht die Nachtigall, sondern das
Schaf.—


Nach dieser Untersuchung, welche für das Verhält-
niß des musikalisch Schönen nur ein Unterbau,
aber ein nothwendiger war, heben wir uns eine Stufe
höher, auf eigentlich ästhetisches Gebiet.


Der meßbare Ton und das geordnete Tonsystem
sind erst womit der Komponist schafft, nicht was 
er schafft. Wie Holz und Erz nur „Stoff“ waren
für den Ton, so ist der Ton nur „Stoff“ (Material)
für die Musik. Es gibt noch eine dritte und höhere
Bedeutung von „Stoff,“ Stoff im Sinn des behan-
delten Gegenstandes, der dargestellten Idee, des Su-
jets. Woher nimmt der Komponist diesen Stoff?
Woher erwächst einer bestimmten Tondichtung der
Inhalt, der Gegenstand, welcher sie als Individuum
hinstellt und von andern unterscheidet?


Die Poesie, die Malerei, die Skulptur 
haben ihren unerschöpflichen Quell von Stoffen in
der uns umgebenden Natur. Der Künstler findet sich
durch irgend ein Naturschönes angeregt, es wird
ihm Stoff zu eigener Hervorbringung.


In den bildenden Künsten ist das Vorschaffen
der Natur am auffallendsten. Der Maler könnte kei-
nen Baum, keine Blume zeichnen, wenn sie nicht schon
in der äußern Natur vorgebildet wären; der Bild-
hauer keine Statue, ohne die wirkliche Menschenge-
stalt zu kennen und zum Muster zu nehmen. Das-
selbe gilt von erfundenen Stoffen. Sie können nie
im strengen Sinn „erfunden“ sein. Besteht nicht
die „ideale“ Landschaft aus Felsen, Bäumen, Wasser
und Wolkenzügen, lauter Dingen die in der Natur
vorgebildet sind? Der Maler kann nichts malen, was
er nicht gesehen und genau beobachtet hat. Gleich-
viel ob er eine Landschaft malt, oder ein Genrebild,
ein Historiengemälde erfindet. Wenn uns Zeitgenossen
einen „Achilles“ „Egmont“ malen, so haben sie ihren Ge-
genstand nie wirklich gesehen, aber für jeden Bestandtheil
desselben müssen sie das Vorbild genau der Natur
entnommen haben. Der Maler muß nicht diesen 
Mann, aber er muß viele Männer gesehen haben,
wie sie sich bewegen, gehen, stehen, beleuchtet werden,
Schatten werfen; der gröbste Vorwurf wäre gewiß
die Unmöglichkeit oder Naturwidrigkeit seiner
Figuren.


Dasselbe gilt von der Dichtkunst, welche ein
noch weit größeres Feld naturschöner Vorbilder hat.
Die Menschen und ihre Handlungen, Gefühle, Schick-
sale, wie sie uns durch eigene Wahrnehmung 
oder durch Tradition (— denn auch diese gehört
zu dem Vorgefundenen, dem Dichter Darge-
botenen
—) gebracht werden, sind Stoff für das
Gedicht, die Tragödie, den Roman. Der Dichter kann
keinen Sonnenaufgang, kein Schneefeld beschreiben,
keinen Gefühlszustand schildern, keinen Bauer, Sol-
daten, Geizigen, Verliebten auf die Bühne bringen,
wenn er nicht die Vorbilder dazu in der Natur gese-
hen und studirt oder richtige Traditionen so in sei-
ner Phantasie belebt hat, daß sie die unmittelbare
Anschauung ersetzen.


Stellen wir nun diesen Künsten die Musik ent-
gegen, so erkennen wir, daß sie ein Vorbild, einen
Stoff für ihre Werke nirgend vorfindet.


Es gibt kein Naturschönes für die Musik.


Dieser Unterschied zwischen der Musik und den üb-
rigen Künsten (— nur die Baukunst findet gleich-
falls kein Vorbild in der Natur —) ist tiefgehend
und folgerungsreich.


Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein
stetes (inneres oder wirkliches) Nachzeichnen, Nach-
formen, — etwas Nachzumusiziren gibt es in
der Natur nicht. Die Natur kennt kein Rondo, keine
Sonate, keine Ouverture. Wohl aber Landschaften,
Genrebilder, Idyllen, Trauerspiele. Der Aristotelische
Satz von der Naturnachahmung in der Kunst, wel-
cher noch bei den Philosophen des vorigen Jahrhun-
derts gang und gäbe war, ist längst berichtigt, und
bedarf, bis zum Ueberdruß abgedroschen, hier keiner
weiteren Erörterung. Nicht sklavisch nachbilden soll
die Kunst die Natur, sie hat sie umzubilden.
Der Ausdruck zeigt schon, daß vor der Kunst etwas
da sein mußte, was umgebildet wird. Dies ist eben
das von der Natur dargebotene Vorbild, das Natur-
schöne. Der Maler findet sich von einer reizenden
Landschaft, einer Gruppe, einem Gedicht, der Dichter
von einer historischen Begebenheit, einem Erlebniß,
zur künstlerischen Darstellung dieses Vorgefundenen
veranlaßt. Bei welcher Naturbetrachtung könnte aber

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der Tonsetzer jemals ausrufen: das ist ein präch-
tiges Vorbild für eine Ouverture, eine Symphonie!
Der Komponist kann gar nichts umbilden, er muß
alles neu erschaffen. Was der Maler, der Dich-
ter in Betrachtung des Naturschönen findet, das muß
der Komponist durch Konzentration seines Innern
herausarbeiten. Er muß der guten Stunde warten,
wo es in ihm anfängt zu singen und zu klingen:
da wird er sich versenken und aus sich heraus etwas
schaffen, was in der Natur nicht seines Gleichen hat
und daher auch, ungleich den andern Künsten, gera-
dezu nicht von dieser Welt ist.


Es unterliegt keineswegs eine parteiische Begriffs-
bestimmung, wenn wir zu dem „Naturschönen“ für
den Maler und Dichter den Menschen hinzu rech-
neten, für den Musiker hingegen den kunstlos aus
der Menschenbrust quellenden Gesang verschwiegen.
Der singende Hirte ist nicht Objekt sondern schon
Subjekt der Kunst. Besteht sein Lied aus meßbaren,
geordneten, wenn noch so einfachen Tonfolgen, so
ists ein Produkt des Menschengeistes, ob es nun ein
Hirtenjunge erfunden hat, oder Beethoven.


Wenn, daher ein Komponist wirkliche Nationalme-
lodien benützt, so ist dies kein Naturschönes, denn
man muß bis zu Einem zurückgehen, der sie erfun-
den hat, — woher hatte sie dieser? Fand er ein
Vorbild dafür in der Natur? Dies ist die berechtigte
Frage. Die Antwort kann nur verneinend lauten.
Der Volksgesang ist kein Vorgefundenes, kein Na-
turschönes, sondern die erste Stufe wirklicher Kunst,
naive Kunst. Er ist für die Tonkunst eben so
wenig ein von der Natur erzeugtes Vorbild als die
mit Kohle an Wachtstuben und Schüttböden geschmier-
ten Blumen oder Soldaten natürliche Vorbilder für
die Malerei sind. Beides ist menschliches Kunstpro-
dukt. Für die Kohlenfiguren lassen die Vorbilder in
der Natur sich nachweisen, für den Volksgesang nicht;
man kann nicht hinter ihn zurückgehen.


Zu einer sehr gangbaren Verwirrung gelangt man,
wenn man den Begriff des „Stoffs“ für die Musik
in einem angewandten höheren Sinn nimmt und
darauf hinweist, daß Beethoven wirklich eine Ouver-
ture zu Egmont oder — damit das Wörtchen „zu“
nicht an dramatische Zwecke mahne, — eine Musik
Egmont“ geschrieben hat, Berlioz einen „König
Lear
,“ Mendelssohn eine „Melusina.“ Haben
diese Erzählungen, fragt man, dem Tondichter nicht
ebenso den Stoff geliefert, als dem Dichter? Keines-
wegs. Dem Dichter sind diese Gestalten wirkliches
Vorbild, das er umbildet, dem Komponisten bieten
sie blos Anregung und zwar poetische Anregung.
Das Naturschöne für den Tondichter müßte ein hör-
bares
sein, wie es für den Maler ein sichtbares,
für den Bildhauer ein greifbares ist. Nicht die Ge-
stalt Egmont’s, nicht seine Thaten, Erlebnisse, Ge-
sinnungen sind Inhalt der Beethoven’schen Ouver-
türe, wie dies im BildeEgmont“ oder im Drama 
Egmont“ der Fall. Der Inhalt der Ouverture sind
Tonreihen, welche der Komponist vollkommen frei
nach musikalischen Denkgesetzen aus sich erschuf. Sie
sind ganz unabhängig und selbstständig von der Vor-
stellung „Egmont“, mit welcher sie lediglich die poe-
tische Phantasie des Tondichters in Zusammenhang
bringt. Dieser Zusammenhang aber ist so willkür-
lich, daß niemals ein Hörer der Musik auf deren
angeblichen Gegenstand verfallen würde, wenn nicht
der Autor durch die ausdrückliche Benennung 
unserer Phantasie im vorhinein die bestimmte
Richtung oktroyirte. Berlioz’s großartige
Ouverture hängt mit der Vorstellung „König Lear“
eben so wenig nothwendig zusammen, als ein Strauß’-
scher Walzer. Man kann dies nicht scharf genug aus-
sprechen, da hierüber die irrigsten Anschauungen all-
gemein sind. Erst mit dem Augenblick erscheint der
Strauß’sche Walzer der Vorstellung „König Lear“
widerstrebend, die Berlioz’sche Ouverture hingegen ihr
entsprechend, wo wir diese Musiken mit jener Vor-
stellung vergleichen. Allein eben zu dieser Ver-
gleichung existirt kein innerer Anlaß, sondern nur
eine ausdrückliche Nöthigung vom Autor. Durch eine
bestimmte Ueberschrift werden wir zur Vergleichung
des Musikstückes mit einem außer ihm stehenden Ob-
jekt genöthigt, wir müssen es mit einem bestimmten
Maßstab messen, welcher nicht der musika-
lische
ist.


Man darf dann vielleicht sagen: Beethoven’s Ou-
vertüre „Prometheus“ sei zu wenig großartig
für diesen Vorwurf. Allein nirgend kann man ihr
von Innen her beikommen, nirgend ihr eine musika-
lische Lücke oder Mangelhaftigkeit nachweisen. Sie
ist vollkommen, weil sie ihren musikalischen 
Inhalt vollständig ausführt; ihr dichterisches 
Thema analog auszuführen ist eine zweite, ganz ver-

schiedene Forderung. Diese entsteht und verschwindet mit
dem Titel. Ueberdies kann solcher Anspruch an ein
Tonwerk mit bestimmter Ueberschrift nur auf gewisse cha-
rakteristische Eigenschaften lauten: daß die Musik
erhaben, düster oder niedlich, froh klinge, von einfacher
Exposition zu gewaltigem Ringen, endlich zu betrübtem
oder freudigem Abschluß sich entwickle u. s. w. An
die Dichtkunst oder Malerei stellt der Stoff die For-
derung einer bestimmten, konkreten Invidualität,
nicht bloßer Eigenschaften. Darum wäre es recht wohl
denkbar, daß Beethoven’s Ouverture zu „Egmont
allenfalls „Wilhelm Tell“ oder „Jeanne d’Arc“ über-
schrieben sein könnte. Das Drama Egmont, das
Bild Egmont lassen höchstens die Verwechslung zu,
daß dies ein anderes Individuum in den gleichen
Verhältnissen, nicht aber daß es ganz andere Ver-
hältnisse sind °°°).


Man erräth, wie eng das Verhältniß der Musik
zum Naturschönen mit der ganzen Frage von ihrem
Inhalt zusammenhängt.


Noch einen Einwand wird man aus der musikalischen
Literatur herholen, um der Musik ein Naturschönes
zu vindiziren. Beispiele nämlich, daß Tonsetzer aus
der Natur nicht blos den poetischen Anlaß geschöpft
(wie in obgenannten Historien), sondern wirklich
hörbare Aeußerungen ihres Tonlebens nachgebildet
haben: der Hahnenruf in Haydn’s Jahreszeiten,
Kuckuk, Nachtigall und Wachtelschlag in Spohr’s 
Weihe der Töne“ und Beethoven’s Pastoral-
Symphonie. Allein wenn wir gleich diese Nachah-
mungen hören und in einem musikalischen 
Kunstwerk hören, so haben sie doch darin keine mu-
sikalische Bedeutung, sondern eine poetische. Es soll
uns der Hahnenschrei nicht als schöne Musik oder
überhaupt als Musik vorgeführt werden, sondern
nur der Eindruck zurückgerufen, welcher mit jener Natur-
erscheinung zusammenhängt. Allgemein bekannte Stich-
wörter, Citate, sind es, welche uns erinnern: Es ist früher
Morgen, laue Sommernacht, Frühling. Ohne diese be-
schreibende Tendenz hat nie ein Komponist Natur-
stimmen zu wirklich musikalischen Zwecken verwenden
können. Ein Thema können alle Naturstimmen
der Erde zusammen nicht hervorbringen, eben weil
sie keine Musik sind, und sehr bedeutungs-
voll erscheint es, daß die Tonkunst von der Na-
tur nur Gebrauch machen kann, wenn sie in die Ma-
lerei pfuscht.

Fußnoten
  • *)
    Hand, Aesth. d. T. I. S. 50. Ebendaselbst wird
    passend angeführt, daß die Galen in Schottland 
    bekanntlich mit indischen und chinesischen Völkerstäm-
    men den Mangel der Quarte und Septime theilen,
    die Folge ihrer Töne also c d e g a c lautet. Bei
    den körperlich sehr ausgebildeten Patagoniern 
    im südlichen Amerika findet sich keine Spur von
    Musik oder Gesang.
  • **)
    Die Natur der Harmonik und Metrik,“ 1853, Leip-
    zig, Breitkopf. S. 7.
  • ***)
    Unsere Ansicht stimmt mit den Forschungen Jakob
    Grimms
    , welcher u. A. andeutet: „Wer nun
    Ueberzeugung gewonnen hat, daß die Sprache freie
    Menschenerfindung war, wird auch nicht zweifeln
    über die Quelle der Poesie und Tonkunst.“ („Ur-
    sprung der Sprache; 1852.“)
  • °)
    Johann Kinkel, Acht Briefe über Klavier-
    unterricht.
  • °°)
    Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst,
    S. 149, ff.
  • °°°)
    Man könnte einwenden, daß ja auch die bildenden
    Künste uns die bestimmte, historische Person nicht zu
    geben vermögen, und wir die gemalte oder gemeißelte
    Gestalt nicht als dieses Individuum erkennen wür-
    den, bräuchten wir nicht die Kenntniß des Historisch-
    Thatsächlichen hinzu. Ohne solche Vorkenntniß könnte
    Niemand aus jener klassischen Gruppe entnehmen,
    daß es gerade Laokoon und seine Söhne sind,
    welche sie darstellt. Diese bestimmten Individuen kann
    nur der Dichter vorführen, weil nur ihm das Mittel
    der Sprache zu Gebote steht. Der Maler oder
    Bildhauer aber zeigt uns doch unverkennbar einen
    Mann und zwei Jünglinge, von diesem Alter die-
    sem
    Aussehne, dieser Tracht, ihre Stellungen und
    schmerzverzogenen Mienen deuten unverkennbar auf
    körperliche Qual, die sie umwindenden Schlangen sind
    die zweifellose Ursache dieses Kampfes. Dies Alles ist
    klar, unzweifelhaft, sichtlich, erzählbar, — ob nun der
    Mann Laokoon hieße, oder anders. Was die Mu-
    sik
    unter dem Titel „Laokoon“ geben kann, sind
    nicht etwa Laokoons Gefühle, oder überhaupt die
    Gefühle eines Mannes in dieser Situation, son-
    dern: Moll-Themen, verminderte Septim-Akkorde,
    Tremolo u. dgl., kurz musikalische Elemente, welche
    eben so gut Weib als Kind, geistigen wie Körper-
    schmerz, Bisse von Schlangen oder von Eifersucht,
    Rache oder Reue, kurz Alles Erdenkliche bedeuten
    können, wenn man schon das Tonstück etwas will be-
    deuten lassen. Wer erinnert sich nicht der entschei-
    denden Klarheit, mir welcher Lessing nachweist,
    was der Dichter und was der bildende Künst-
    ler aus der Geschichte des Laokoon zu machen ver-
    mag. Vom Musiker lesen wir Nichts. Ganz be-
    greiflich, denn das ist es eben, was er aus dem Lao-
    koon machen kann.