1Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst. Montag, den 15. August 1853. No.
33.
2Ueber den subjektiven Eindruck der Musik
und seine Stellung in der Aesthetik
Von Dr. Eduard Hanslick.
II. (Schluß.)
Nichts hat die wissenschaftliche Entwicklung der mu-
sikalischen Aesthetik so empfindlich gehemmt, als der
übermäßige Werth, welchen man den Wirkungen der
Musik auf die Gefühle beilegte. Je auffallender sich
diese Wirkungen zeigten, desto höher pries man sie als
Herolde musikalischer Schönheit. Wir haben im Ge-
gentheil gesehen, daß gerade den überwältigendsten Ein-
drücken der Musik der stärkste Antheil körperlicher
Erregung von Seite des Hörers beigemischt ist. Von
Seite der Musik liegt diese heftige Eindringlichkeit in
das Nervensystem eben so wenig in ihrem künstle-
rischen Moment, das ja aus dem Geiste kommt,
und an den Geist sich wendet, — sondern in ihrem
Material, dem die Natur jene unergründliche phy-
siologische Wahlverwandtschaft eingeboren hat. Das
Elementarische der Musik, der Klang und
die Bewegung ist es was die wehrlosen Gefühle
so vieler Musikfreunde in die Ketten schlägt, mit denen
sie so gerne klirren. Weit sei es von uns, die Rechte
des Gefühls an die Musik verkürzen zu wollen. Allein
dies Gefühl, welches sich thatsächlich mehr oder min-
der mit der reinen Anschauung paart, kann nur dann
als künstlerisch gelten, wenn es sich seiner ästheti-
schen Herkunft bewußt bleibt, d. h. der
Freude an einem und zwar gerade diesem, bestimmten
Schönen. Fehlt dies Bewußtsein, fehlt die freie
Anschauung des bestimmten Kunstschönen und fühlt das
Gemüth sich nur von der Naturgewalt der Töne be-
fangen, so kann die Kunst sich solchen Eindruck um-
so weniger zu Gute schreiben, je stärker er auftritt.
Die Zahl derer, welche auf solche Art Musik hören
oder eigentlich fühlen, ist sehr bedeutend. Indem sie
das Elementarische der Musik in passiver Empfänglich-
keit auf sich wirken lassen, gerathen sie in eine vage
nur durch den Charakter des Tonstücks bestimmte über-
sinnlich-sinnliche Erregung. Ihr Verhalten gegen die
Musik ist nicht anschauend, sondern pathologisch;
ein stetes Dämmern, Fühlen, Schwärmen, ein Han-
gen und Bangen in klingendem Nichts. Lassen wir an
dem Gefühlsmusiker mehrere Tonstücke gleichen, etwa
rauschend fröhlichen Charakters, vorbeiziehen, so wird
er in dem Banne desselben Eindrucks verbleiben. Nur
was diesen Stücken gleichartig ist, also die Bewe-
gung des rauschend Fröhlichen assimilirt sich seinem
Fühlen, während das Besondere jeder Tondichtung,
das künstlerisch Individuelle seiner Auffassung ent-
schwindet. Gerade umgekehrt wird der musikalische Zu-
hörer verfahren. Die eigenthümliche künstlerische Gestal-
tung einer Komposition, das, was sie unter einem Dutzend
ähnlich wirkender zum selbstständigen Kunstwerk stempelt,
erfüllt sein Aufmerken so vorherrschend, daß er ihrem
gleichen oder verschiedenen Gefühlsausdruck nur gerin-
ges Gewicht beilegt. Das isolirte Aufnehmen eines
abstrakten Gefühlsinhaltes anstatt der konkreten Kunst-
erscheinung ist in solcher Ausbildung der Musik ganz
eigenthümlich. Nur die Gewalt einer besonderen Be-
leuchtung erscheint ihr nicht selten analog, wenn
sie Manchen so ergreift, daß er über die beleuchtete
Landschaft selbst sich gar keine Rechenschaft zu geben 3
vermag. Eine unmotivirte und darum desto eindring-
lichere Totalempfindung wird in Bausch und Bogen
eingesaugt
*).
Halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt, lassen jene
Enthusiasten von den Schwingungen der Töne sich tra-
gen und schaukeln, statt sie scharfen Blickes zu betrach-
ten. Wie das stark und stärker anschwillt, nachläßt,
aufjauchzt oder auszittert, das versetzt sie in einen un-
bestimmten Empfindungszustand, den sie für rein gei-
stig zu halten so unschuldig sind. Sie bilden das
„dankbarste“ Publikum, und dasjenige, welches geeig-
net ist, die Würde der Musik am sichersten zu diskre-
ditiren. Das ästhetische Merkmal des geistigen Ge-
nusses geht ihrem Hören ab; eine feine Cigarre, ein
pikanter Leckerbissen, ein laues Bad leistet ihnen unbe-
wußt, was eine Symphonie. Vom gedankenlos gemäch-
lichen Dasitzen der Einen bis zur tollen Verzückung
der Andern ist das Prinzip dasselbe: die Lust am
Elementarischen der Musik. Die neue Zeit hat
übrigens eine herrliche Entdeckung gebracht, welche für
Hörer, die ohne alle Geistesbethätigung nur den Ge-
fühlsniederschlag der Musik suchen, diese Kunst weit
überbietet. Wir meinen den Schwefeläther. In der
That zaubert uns die Aethernarkose einen höchst ange-
nehmen, wachsenden, den ganzen Organismus süßtraum-
haft durchbebenden Rausch, — ohne die Gemeinheit
des Weintrinkens, welches auch nicht ohne musikalische
Wirkung ist.
Die Werke der Tonkunst reihen sich für solche Auf-
fassung zu den Naturprodukten, deren Genuß
uns entzücken, aber nicht zwingen kann zu denken,
einem bewußt schaffenden Geiste nach zu denken.
Der süße Athem eines Akazienbaums läßt sich auch
geschlossenen Auges, träumend einsaugen. Hervorbrin-
gungen menschlichen Geistes verwehren das durchaus,
wenn sie nicht eben auf die Stufe sinnlicher Natur-
reize herabsinken sollen.
In keiner andern Kunst ist dies so hohen Grades
möglich, als in der Musik, deren sinnliche Seite
einen geistlosen Genuß wenigstens zuläßt. Schon
das Verrauschen derselben, während die Werke der
übrigen Künste bleiben, gleicht in bedenklicher Weise
dem Akt des Verzehrens.
Ein Bild, eine Kirche, ein Drama lassen sich nicht
schlürfen, eine Arie sehr wohl. Darum gibt auch der
Genuß keiner andern Kunst sich zu solch accessorischem
Dienst her. Die besten Kompositionen können als Ta-
felmusik gespielt werden und die Verdauung der
Fasane erleichtern. Musik ist die zudringlichste und
auch wieder die nachsichtigste Kunst. Die jämmerlichste
Drehorgel, so sich vor unserem Haus postirt, muß
man hören, aber zuzuhören braucht man selbst
einer Mendelssohn’schen Symphonie nicht.
Aus diesen Betrachtungen ergibt sich leicht die rich-
tige Werthschätzung für die sogenannten „morali-
schen Wirkungen“ der Musik, die als glänzendes
Seitenstück zu den im ersten Artikel erwähnten „physi-
schen“ von älteren Autoren mit so viel Vorliebe her-
ausgestrichen werden. Da hiebei die Musik nicht im
Entferntesten als ein Schönes genossen, sondern als
rohe Naturgewalt empfunden wird, die bis zu besin-
nungslosem Handeln treibt, so stehen wir an dem ge-
raden Widerspiel alles Aesthetischen. Ueberdies liegt
das Gemeinschaftliche dieser angeblich „morali-
schen“ Wirkungen mit den anerkannt physischen zu
Tage.
Der drängende Gläubiger, der durch die Töne seines
Schuldners bewogen wird, ihm die ganze Summe zu
schenken
**) ist dazu nicht anders angetrieben, als der
Ruhende, den ein Walzermotiv plötzlich zum Tanz be-
geistert. Der Erstere wird mehr durch die geistigeren
Elemente: Harmonie und Melodie, der Zweite durch
den sinnlicheren Rhythmus bewegt. Keiner von Beiden
handelt aber aus freier Selbstbestimmung, keiner über-
wältigt durch geistige Ueberlegenheit oder ethische
Schönheit, sondern in Folge befördernder Nervenreize.
Die Musik löst ihnen die Füße oder das Herz, gerade
so wie der Wein die Zunge. Solche Siege predigen
nur die Schwäche des Besiegten.
Ein Erleiden unmotivirter ziel- und stoffloser Af-
fekte durch eine Macht, die in keinem Rapport zu un-
serm Wollen und Denken steht, ist des Menschengeistes
unwürdig. Wenn vollends Menschen in so hohem Grade
von dem Elementarischen einer Kunst sich hinreißen
lassen, daß sie ihres freien Handelns nicht mehr mäch-
tig sind, so scheint uns dies weder ein Ruhm für die
Kunst noch viel weniger für die Helden selbst.
Die Musik hat diese Bestimmung keineswegs, allein
ihr intensives Gefühlsmoment macht es möglich, daß
sie in solcher Tendenz genossen werde. Dies ist der
Punkt, in welchem die ältesten Anklagen gegen die
Tonkunst ihre Wurzel haben: daß sie entnerve, ver-
weichliche, erschlaffe.
Wo man Musik als Erregungsmittel „unbestimmter
Affekte“ macht, als Nahrung des „Fühlens“ an sich,
da wird jener Vorwurf nur zu wahr. Beethoven
verlangte, die Musik solle dem Mann „Feuer aus dem
Geiste schlagen.“ Wohlgemerkt, „soll.“ Ob nicht
selbst ein Feuer, das durch Musik erzeugt und ge-
nährt wird, die willensstarke, denkkräftige Entwick-
lung des Mannes hemmend zurückhält?
Jedenfalls scheint uns diese Anklage des musikali-
schen Einflusses würdiger als dessen übermäßige Lob-
preisung. Sowie die physischen Wirkungen der
Musik im geraden Verhältniß stehen zu der krankhaf-
ten Gereiztheit des ihnen entgegenkommenden Nerven-
systems, so wächst der moralische Einfluß der Töne
mit der Unkultur des Geistes und Charakters. Je
kleiner der Widerhalt der Bildung, desto gewaltiger
das Dreinschlagen solcher Macht. Die stärkste
Wirkung übt Musik bekanntlich auf
Wilde.
Das schreckt unsere Musik-Ethiker nicht ab. Sie
beginnen, gleichsam präludirend, am liebsten mit zahl-
reichen Beispielen, „wie sogar die Thiere“ sich der
Macht der Tonkunst beugen. Es ist wahr, der Ruf
der Trompete erfüllt das Pferd mit Muth und Schlacht-
begier, die Geige begeistert den Bären zu Balletver-
suchen, die zarte Spinne
***) und der plumpe Elephant
bewegen sich horchend bei den geliebten Klängen. Ist
es denn aber wirklich so ehrenvoll, in solcher Ge-
sellschaft Musik-Enthusiast zu sein?
Auf die Thierproduktionen folgen die menschlichen
Kabinetsstücke. Sie sind meist im Geschmack Alexan-
der des Großen, welcher durch das Saitenspiel des
Timotheus zuerst wüthend gemacht, hierauf durch
den Gesang des Antigenides wieder besänftigt
wurde. So ließ der minder bekannte König von Däne-
mark Ericus bonus, um sich von der gepriesenen Ge-
walt der Musik zu überzeugen, einen berühmten Musi-
kus spielen, und zuvor alles Gewehr entfernen. Der
Künstler versetzte durch die Wahl seiner Modulationen
alle Gemüther zuerst in Traurigkeit, dann in Frohsinn.
Letzteren wußte er bis zur Raserei zu steigern. „Selbst
der König brach durch die Thür, griff zum Degen und
brachte von den Umstehenden vier ums Leben.“ Und
das war noch der „gute Erich.“ (Albert Krantzius,
Dan. lib. V., cap. 3.)
Wären solche „moralische Wirkungen“ der Musik
noch an der Tagesordnung, so käme man unseres Er-
achtens vor innerer Empörung gar nicht dazu, sich über
die Hexenmacht vernünftig auszusprechen, welche in
souverainer Exterritorialität den Menschengeist, unbe-
kümmert um dessen Gedanken und Entschlüsse bezwingt
und verwirrt.
Die Betrachtung jedoch, daß die berühmtesten dieser
musikalischen Trophäen dem grauen Alterthum ange-
hören, macht wohl geneigt, der Sache einen historischen
Standpunkt abzugewinnen.
Es leidet gar keinen Zweifel, daß die Musik bei
den alten Völkern eine weit unmittelbarere Wirkung
äußerte wie gegenwärtig, weil die Menschheit eben
in ihren primitiven Bildungsstufen dem Elementa-
rischen viel verwandter und preisgegebener ist, als
später, wo Bewußtsein und Selbstbestimmung in ihr
Recht treten. Dieser natürlichen Empfänglichkeit kam
der eigenthümliche Zustand der Musik im Römischen
und Griechischen Alterthum hilfreich entgegen. Sie war
nicht Kunst in unserem Sinn. Klang und Rhyth-
mus wirkten in fast vereinzelter Selbständigkeit und
vertraten in dürftigem Vordrängen die Stelle der rei-
chen, geisterfüllten Formen, welche die gegenwärtige
Tonkunst bilden. Alles was von der Musik jener Zei
ten bekannt ist, läßt mit Gewißheit auf ein blos sinn-
liches, dafür aber in dieser Beschränkung verfeinertes
Wirken derselben schließen. Musik in der modernen, künst-
lerischen Bedeutung gab’s nicht im klassischen Alter-
thum, sonst hätte sie für die spätere Entwicklung eben
so wenig verloren gehen können, als die klassische Dicht-
kunst, Plastik und Architektur verloren gegangen sind.
Die Vorliebe der Griechen für ein gründliches Stu-
dium ihrer ins Subtilste zugespitzten Tonverhältnisse
gehört als eine rein wissenschaftliche nicht
hierher.
Der Mangel an Harmonie, die Befangenheit der
Melodie in den engsten Grenzen rezitativischen Aus-
drucks; endlich die Entwicklungsunfähigkeit des alten
Tonsystems zu wahrhaft musikalischem Gestaltenreich-
thum machten eine absolute Bedeutung der Musik als
Tonkunst im ästhetischen Sinne unmöglich; sie ward
auch fast niemals selbstständig, sondern stets in Ver-
bindung mit Poesie, Tanz und Mimik angewendet,
mithin als eine Ergänzung der andern Künste. Musik
hatte nur den Beruf durch rhythmischen Pulsschlag
und Verschiedenheit der Klangfarben zu beleben; end-
lich als intensive Steigerung rezitirender Deklama-
tion Worte und Gefühle zu kommentiren. Die Ton-
kunst wirkte daher lediglich nach ihrer sinnlichen und
ihrer symbolischen Seite. Auf diese beiden Fak-
toren hingedrängt, mußte sie dieselben durch solche Kon-
zentration zu großer, ja raffinirter Wirksamkeit aus-
bilden. Die Zuspitzung des melodischen Materials bis
zur Anwendung der Vierteltöne und des „enharmoni-
schen Tongeschlechts“ hat die heutige Tonkunst eben so
wenig mehr aufzuweisen, als den charakteristischen Son-
derausdruck der Tonarten und ihr enges Anschmiegen
an das gesprochene oder gesungene Wort.
Diese gesteigerten tonlichen Verhältnisse der Alten
fanden für ihren engen Kreis überdies eine viel größere
Empfänglichkeit in den Hörern vor. Wie das Grie-
chische unendlich feinere Intervallen-Unterschiede
zu fassen fähig war, als es das unsere in der schwe-
benden Temperatur auferzogene ist, so war auch das
Gemüth jener Völker der wechselnden Umstimmung durch
Musik weit zugänglicher und begehrlicher, als wir, die
an dem künstlerischen Bilden der Tonkunst ein kontem-
platives Gefallen hegen, das deren elementarischen Ein-
fluß paralysirt. So erscheint denn eine intensivere Wir-
kung der Musik im Alterthum wohl begreiflich.
Desgleichen ein bescheidener Theil der Historien, die
uns von der spezifischen Wirkung der verschiedenen Ton-
arten bei den Alten überliefert sind. Sie gewinnen
einen Erklärungsgrund in der strengen Scheidung, mit
welcher die einzelnen Tonarten zu bestimmten Zwecken
gewählt und unvermischt erhalten wurden. Die do-
rische Tonart brauchten die Alten für ernste, nament-
lich religiöse Anlässe; mit der phrygischen feuerten
sie die Heere an; die lydische bedeutete Trauer und
Wehmuth, und die äolische erklang, wo es in
Liebe oder Wein lustig herging. Durch diese strenge,
bewußte Trennung von vier Haupttonarten für eben so
viel Klassen von Seelenzuständen, so wie durch ihre
konsequente Verbindung mit nur zu dieser Ton-
art passenden Gedichten mußten Ohr und Gemüth
unwillkürlich eine entschiedene Tendenz gewinnen, beim
Erklingen einer Musik gleich das ihrer Tonart entspre-
chende Gefühl zu reproduziren. Auf der Grundlage
dieser einseitigen Ausbildung war nun die Musik un-
entbehrliche, fügsame Begleiterin aller Künste, war
Mittel zu pädagogischen, politischen und andern Zwe-
cken, sie war alles, nur keine selbstständige Kunst.
Wenn es blos einiger phrygischer Klänge bedurfte,
um den Soldaten muthig gegen den Feind zu treiben,
und die Treue der Strohwitwen durch dorische Lie-
der gesichert war, so mag der Untergang des Griechi-
schen Tonsystems von Feldherrn und Ehegatten be-
trauert werden, — der Aesthetiker wird es nicht
zurückwünschen.
Wir setzen jenem pathologischen Ergriffenwerden das
bewußte reine Anschauen eines Tonwerks entgegen.
Diese kontemplative ist die einzig künstlerische, wahre
Form des Hörens; ihr gegenüber fällt der rohe Af-
fekt des Wilden und der schwärmende des Musikenthu-
siasten in Eine Klasse. Dem Schönen entspricht ein
Genießen, kein Erleiden, wie ja das Wort
„Kunstgenuß“ sinnig ausdrückt. Die Gefühlvollen hal-
ten es freilich für Ketzerei gegen die Allmacht der
Musik, wenn Jemand von den Herzens-Revolutionen und
Krawallen Umgang nimmt, welche sie in jedem Tonstück
antreffen und redlich mitmachen. Man ist dann offen-
bar „kalt,“ „gemüthlos,“ „Verstandesnatur.“ Immer-
hin. Edel und bedeutend wirkt es, dem schaffenden
Geiste zu folgen, wie er zauberisch eine neue Welt
von Elementen vor uns aufschließt, diese in alle denk-
baren Beziehungen zu einander lockt, und so fortan
aufbaut, niederreißt, hervorbringt und vernichtet, den 4
ganzen Reichthum eines Gebietes beherrschend, welches
das Ohr zum feinsten und ausgebildetsten Sinneswerk-
zeug adelt. Nicht eine angeblich geschilderte Leiden-
schaft reißt uns in Mitleidenschaft. Ruhig freudigen
Geistes, in affektlosem, doch innig-hingebendem Ge-
nießen sehen wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen
und feiern erkennend was Schelling so schön „die
erhabene Gleichgiltigkeit des Schönen“ nennt
°). Die-
ses Sich-Erfreuen mit wachem Geiste ist die würdigste,
heilvollste und nicht die leichteste Art, Musik zu
lieben.
Der wichtigste Faktor in dem Seelenvorgang, wel-
cher das Auffassen eines Tonwerks begleitet und zum
Genuße macht, wird am häufigsten übersehen. Es ist
die geistige Befriedigung, die der Hörer darin
findet, den Absichten des Komponisten fortwährend zu
folgen und voran zu eilen, sich in seinen Vermuthun-
gen hier bestättigt, dort angenehm getäuscht zu finden.
Es versteht sich, daß dieses intellektuelle Hinüber- und
Herüberströmen, dieses fortwährende Geben und Em-
pfangen, unbewußt und blitzvoll vor sich geht. Nur
solche Musik wird vollen künstlerischen Genuß bieten,
welche dies geistige Nachfolgen, welches ganz eigentlich
ein Nachdenken der Phantasie genannt wer-
den könnte, hervorruft und lohnt. Ohne geistige Thä-
tigkeit gibt es überhaupt keinen ästhetischen Genuß.
Der Musik aber ist diese Form von Geistes-
thätigkeit darum vorzüglich eigen, weil ihre Werke
nicht unverrückbar und mit Einem Schlag dastehen,
sondern sich successiv am Hörer abspinnen, daher sie
von diesem kein, ein beliebiges Verweilen und Unter-
brechen zulassendes Betrachten, sondern ein in schärf-
ster Wachsamkeit unermüdliches Begleiten fordern.
Diese Begleitung kann bei verwickelten Kompositionen
sich bis zur geistigen Arbeit steigern. Wie viele ein-
zelne Individuen, so können auch manche Na-
tionen sich ihr nur sehr schwer unterziehen. Die sie-
gende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Italie-
nern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequem-
lichkeit dieses Volks, welchem das ausdauernde Durch-
dringen unerreichbar ist, womit der Nordländer einem
künstlichen Gewebe von harmonischen und kontrapunkti-
schen Verschlingungen zu folgen liebt. Dafür wird Hö-
rern, deren geistige Thätigkeit gering ist, der Genuß
leichter, und solche Musikbolde können Massen von
Musik verzehren, vor welchen der künstlerische Geist
zurückbebt.
Das bei jedem Kunstgenuß nothwendige geistige
Moment wird sich bei mehreren Zuhörern desselben
Tonwerks in sehr verschiedener Abstufung thätig erwei-
sen; es kann in sinnlichen und gefühlvollen Naturen
auf ein Minimum sinken, in vorherrschend geistigen
Persönlichkeiten das geradezu Entscheidende werden. Die
wahre „rechte Mitte“ muß sich, nach unserm Gefühl,
hier etwas nach rechts neigen. Zum Berauscht-werden
brauchts nur der Schwäche, aber es gibt eine Kunst
des Hörens.
Das Gefühlsschwelgen ist meist Sache jener Hörer,
welche für die künstlerische Auffassung des musika-
lisch Schönen keine Ausbildung besitzen. Der Laie
fühlt bei Musik am meisten, der gebildete Künstler
am wenigsten. Je bedeutender nämlich das ästheti-
sche Moment im Hörer (grade wie im Kunstwerk), desto
mehr nivellirt es das blos elementarische. Darum ist
das ehrwürdige Axiom der Theoretiker: „eine düstere
Musik erregt Gefühle der Trauer in uns, eine heitere
erweckt Fröhlichkeit,“ — in dieser Ausdehnung nicht
richtig. Wenn jedes hohle Requiem, jeder lärmige
Trauermarsch, jedes winselnde Adagio die Macht haben
sollte, uns traurig zu machen, — wer möchte denn
länger so leben? Blickt eine Tondichtung uns an mit
klaren Augen der Schönheit, so erfreuen wir uns in-
niglich daran, und wenn sie alle Schmerzen des Jahr-
hunderts zum Gegenstand hätte. Der lauteste Jubel
aber eines Verdi’schen Finales oder einer Musard’schen
Quadrille hat uns noch nie froh gemacht.
Der Laie und Gefühlsmensch frägt gerne, ob eine
Musik lustig sei oder traurig? — Der Musiker, ob
sie gut sei oder schlecht? Dieser kurze Schlagschatten
weist deutlich, auf welch verschiedener Seiten beide
Parteien gegen die Sonne stehen.
Wenn wir sagten, daß unser ästhetisches Wohlge-
fallen an einem Tonstück sich nach dessen künstlerischem
Werth richte, so hindert dies nicht, daß ein einfacher
Hornruf, ein Jodler im Gebirg uns zu größerem Ent-
zücken aufrufen kann, als jede Beethoven’sche Sym-
phonie. In diesem Fall tritt aber die Musik
in die Reihe des Naturschönen. Nicht als
dieses bestimmte Gebilde in Tönen, sondern
als diese bestimmte Art von Naturwirkung in
solchen kommt uns das Gehörte entgegen und kann
übereinstimmend mit dem landschaftlichen Charakter
der Umgebung und der persönlichen Stimmung jeden
Kunstgenuß an Macht hinter sich zurücklassen. Es gibt
also ein Uebergewicht an Eindruck, welches das Ele-
mentarische über das Artistische erreichen kann, allein
die Aesthetik (— oder wenn man strengstens for-
muliren will, derjenige Theil derselben, welcher das
Kunstschöne behandelt —) hat die Musik lediglich von
ihrer künstlerischen Seite aufzufassen, also auch
nur jene ihrer Wirkungen anzuerkennen, welche sie als
menschliches Geistesprodukt, durch eine bestimmte
Gestaltung jener elementarischen Faktoren auf die
reine Anschauung hervorbringt.
Die nothwendigste Forderung einer ästhetischen
Aufnahme der Musik ist aber, daß man ein Tonstück
um seiner selbst willen höre, welches es nun
immer sei und mit welcher Auffassung immer. Sobald
die Musik nur als Mittel angewandt wird, eine ge-
wisse Stimmung in uns zu fördern, accessorisch, deko-
rativ, da hört sie auf, als Kunst zu wirken. Das
Elementarische der Musik wird unendlich oft
mit der künstlerischen Schönheit derselben ver-
wechselt, also ein Theil für das Ganze genommen,
und dadurch namenlose Verwirrung verursacht. Hundert
Aussprüche, die über „die Tonkunst“ gefällt werden,
gelten nicht von dieser, sondern von der sinnlichen Wir-
kung ihres Materials.
Wenn Heinrich der Vierte bei Shakespeare
(II. Theil. IV. 4.) sich sterbend Musik machen läßt, so
geschieht es wahrlich nicht, um die vorgetragene Kom-
position anzuhören, sondern um träumend in deren ge-
genstandlosem Element zu wiegen. Eben so wenig wer-
den Porzia und Bassanio (im „Kaufmann von
Venedig“) gestimmt sein, während der verhängnißvollen
Kästchenwahl der bestellten Musik Aufmerksamkeit zu
schenken. J. Strauß hat reizende, ja geistreiche
Musik in seinen bessern Walzern niedergelegt, — sie
hören auf es zu sein, sobald man lediglich dabei im
Takt tanzen will. In allen diesen Fällen ist es ganz
gleichgiltig, welche Musik gemacht wird, wenn sie
nur den verlangten Grundcharakter hat. Wo aber
Gleichgiltigkeit gegen das Individuelle eintritt, da
herrscht Klangwirkung, nicht Tonkunst. Nur
derjenige, welcher nicht blos die allgemeine Nachwir-
kung des Gefühls, sondern die unvergeßliche, bestimmte
Anschauung eben dieses Tonstücks mit sich nimmt,
hat es gehört und genossen. Jene erhebenden Ein-
drücke auf unser Gemüth und ihre hohe psychische,
wie physiologische Bedeutung dürfen nicht hindern, daß
die Kritik überall unterscheide, was bei einer vorhan-
denen Wirkung künstlerisch, was elementarisch sei. Eine
ästhetische Anschauung hat Musik niemals als Ursache,
sondern stets als Wirkung aufzufassen, nicht als Pro-
duzirendes, sondern als Produkt.
Eben so häufig als die elementarische Wirkung der
Musik, wird deren maßhaltendes, Ruhe und Bewegung,
Dissonanz und Konkordanz vermittelndes, allgemein
harmonisches Element mit der Tonkunst selbst verwech-
selt. Bei dem gegenwärtigen Stand der Tonkunst und
der Philosophie dürfen wir uns im Interesse beider
die Altgriechische Ausdehnung des Begriffes „Musik“
auf alle Wissenschaft und Kunst, so wie auf die Bil-
dung sämmtlicher Seelenkräfte nicht gestatten. Die be-
rühmte Apologie der Tonkunst im „Kaufmann von
Venedig“ (V. 1.)
°°) beruht auf solcher Verwechslung der
Tonkunst selbst mit dem sie beherrschenden Geist des
Wohlklangs, der Uebereinstimmung des Maßes. Man
könnte in ähnlichen Stellen ohne viel Aenderung statt
„Musik“ auch „Poesie,“ „Kunst,“ ja „Schönheit“ über-
haupt setzen. Daß aus der Reihe der Künste gerade die
Musik hervorgeholt zu werden pflegt, verdankt sie der
zweideutigen Macht ihrer Popularität. Gleich die wei-
teren Verse der angeführten Rede bezeugen dies, wo
die zähmende Wirkung der Töne auf Bestien sehr ge-
rühmt wird, die Musik also wieder einmal als van
Aken erscheint.
Die lehrreichsten Beispiele bieten Bettina’s „mu-
sikalische Explosionen,“ wie Goethe ihre Briefe über
Musik galant bezeichnete. Als das wahrhafte Prototyp
aller vagen Schwärmerei über Musik, zeigt Bettina,
wie ungebührlich man den Begriff dieser Kunst aus-
dehnen kann, um sich bequem darin umherzutummeln.
Mit der Prätension, von der Musik selbst zu sprechen,
redet sie stets von dunkler Einwirkung, welche diese auf
ihr Gemüth übt, und deren üppige Traumseligkeit sie
absichtlich von jedem forschenden Denken absperrt. In
einer Komposition sieht sie immer ein unerforschliches
Naturerzeugniß, nicht ein menschliches Kunstwerk, und
begreift daher Musik nie anders, als rein phänomeno-
logisch. „Musik,“ „musikalisch“ nennt Bettina un-
zählige Erscheinungen, die lediglich ein oder das andere
Element der Tonkunst: Wohlklang, Rhythmus, Gefühls-
erregung mit ihr gemein haben. Auf diese Faktoren
kömmt es aber gar nicht an, sondern auf die spezi-
fische Art wie sie in künstlerischer Gestal-
tung als Tonkunst erscheinen. Es versteht sich von
selbst, daß die musiktrunkne Dame in Goethe, ja
in Christus große Musiker sieht, obwohl von Letz-
terem Niemand weiß, daß er einer, von Ersterem Je-
dermann, daß er keiner gewesen.
Das Recht historischer Bildungen und poetischer
Freiheit halten wir in Ehren. Wir begreifen es, war-
um Aristophanes in den „Wespen“ einen feinge-
bildeten Geist „den Weisen und Musikalischen“ nennt
(σοφον ϰαι μεϛιϰόν), und finden den Ausdruck Graf
Reinhardt’s sinnig, Oehlenschläger habe
„musikalische Augen.“ Wissenschaftliche Betrachtungen
jedoch dürfen der Musik nie einen andern Begriff bei-
legen oder voraussetzen, als den streng ästhetischen,
wenn nicht alle Hoffnung zur einstigen Feststellung die-
ser zitternden Wissenschaft aufgegeben werden soll.