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Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst. Montag, den 1. August 1853. No. 31.


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Ueber den subjektiven Eindruck der Musik
und seine Stellung in der Aesthetik


Von Dr. Eduard Hanslick.


I.
(Schluß.)


Die intensive Wirkung der Musik auf das Nerven-
leben ist als Thatsache von der Psychologie wie von
der Physiologie vollständig anerkannt. Leider fehlt
noch eine ausreichende Erklärung derselben. Es vermag
die Psychologie nimmermehr das magnetisch Zwin-
gende des Eindrucks zu ergründen, den gewisse Akkorde,
Klangfarben und Melodien auf den ganzen Organismus
des Menschen üben, weil es dabei zuvörderst auf eine
spezifische Reizung der Nerven ankommt. Eben so wenig
hat die im Triumph fortschreitende Wissenschaft der
Physiologie etwas Entscheidendes über unser
Problem gebracht und pflegt bei der Untersuchung des
Hörens vielmehr den Schall und Klang überhaupt, als
insbesondere den musikalisch verwendeten, im Auge
zu haben.


Was die musikalischen Monographen dieses Zwit-
tergegenstandes betrifft, so ziehen sie es fast durchgän-
gig vor, die Tonkunst durch Ausbreitung glänzender
Schaustücke in einen imposanten Nimbus von Wunder-
thätigkeit zu bringen, als in wissenschaftlicher For-
schung den Zusammenhang der Musik mit unserm Ner-
venleben auf sein Wahres und Nothwendiges zurück-
zuführen. Dies allein aber thut uns Noth, und weder
die Ueberzeugungstreue eines Doktor Albrecht, wel-
cher seinen Patienten Musik als schweißtreibendes
Mittel verschrieb, noch der Unglaube Oerstedt’s,
der das Heulen eines Hundes bei gewissen Tonarten
durch rationelle Prügel erklärt, mittelst welcher der-
selbe zum Heulen abgerichtet worden sei *).


Manchem Musikfreund dürfte es unbekannt sein, daß
wir eine ganze Literatur über die körperlichen Wirkun-
gen der Musik und deren Anwendung zu Heilzwecken
besitzen. An interessanten Kuriositäten reich, doch in 

der Beobachtung unzuverlässig, in der Erklärung un-
wissenschaftlich, suchen die meisten dieser Musiko-Me-
diziner eine sehr zusammengesetzte und beiläufige Eigen-
schaft der Tonkunst zu selbstständiger Wirksamkeit auf-
zustelzen.


Von Pythagoras der (nach Caelus Aemilianus)
zuerst Wunderkuren durch Musik in Kalabrien verrich-
tete bis auf unsere Tage taucht zeitweilig immer wie-
der, mehr durch neue Beispiele als durch neue Ideen
bereichert, die Lehre auf, man könne die aufregende
oder lindernde Wirkung der Töne auf den körperlichen
Organismus als Heilmittel gegen zahlreiche Krank-
heiten in Anwendung bringen. Peter Lichtenthal 
erzählt uns ausführlich in seinem „Musikalischen Arzt“
wie durch die Macht der Töne Gicht, Hüftweh,
Epylepsie, Starrsucht, Pest, Fieberwahn-
sinn
, Konvulsionen, Nervenfieber, ja
sogar „Dummheit (stupiditas)“ geheilt worden
sei **).


Rücksichtlich der Begründung ihrer Theorie las-
sen sich diese Schriftsteller in zwei Klassen theilen.


Die Einen argumentiren vom Körper aus und
gründen die Heilkraft der Musik auf die physische Einwir-
kung der Schallwallen, welche sich durch den Gehörnerv den
übrigen Nerven mittheile und durch solch’ allgemeine
Erschütterung eine heilsame Reaktion des gestörten Or-
ganismus hervorrufe. Die Affekte, welche zugleich sich
bemerkbar machen, seien nur eine Folge dieser nervösen
Erschütterung, indem Leidenschaften nicht blos gewisse
körperliche Veränderungen hervorrufen, sondern diese
auch ihrerseits die ihnen entsprechenden Leidenschaften
zu erzeugen vermögen.


Nach dieser Theorie, welcher, (unter dem Vortritt
des Engländers Webb) Nicolai, Schneider,
Lichtenthal, J. J. Engel, Sulzer u. A. an-
hängen, würden wir durch die Tonkunst nicht anders
bewegt, als etwa unsere Fenster und Thüren, die bei
einer starken Musik zu zittern beginnen. Als unter-
stützend werden Beispiele angeführt, wie der Bediente
Boyle’s, dem die Zähne zu bluten anfingen, sobald
er eine Säge wetzen hörte, oder viele Personen, welche
beim Kratzen einer Messerspitze auf Glas Konvulsio-
nen bekommen.


Das ist nun keine Musik. Daß diese mit jenen
so heftig auf die Nerven wirkenden Erscheinungen das-
selbe Substrat, den Schall theilt, wird uns für spä-
tere Folgerungen wichtig genug werden, hier ist —
einer materialistischen Ansicht gegenüber — lediglich
hervorzuheben, daß die Tonkunst erst da anfange, wo
jene isolirten Klangwirkungen aufhören, übrigens auch
die Wehmuth in welche ein Adagio den Hörer ver-
setzen kann mit der körperlichen Empfindung eines
schrillen Mißklangs gar nicht zu vergleichen ist.


Die andere Hälfte unserer Autoren (unter ihnen
Kausch und die meisten Aesthetiker), erklärt die heil-
kräftigen Wirkungen der Musik von der psycholo-
gischen
Seite aus. Musik, — so argumentiren sie
— erzeugt Affekte und Leidenschaften in der Seele,
Affekte haben heftige Bewegungen im Nervensystem
zur Folge, heftige Bewegungen im Nervensystem
verursachen eine heilsame Reaktion im kranken Orga-
nismus. Dies Raisonnement, auf dessen Sprünge gar
nicht erst hingedeutet zu werden braucht, wird von der
genannten idealen „psychologischen“ Schule gegen die
frühere materielle so standhaft verfochten, daß sie, un-
ter der Autorität des Engländers Whytt, sogar
aller Physiologie zu Trotz den Zusammenhang des Ge-
hörnervs mit den übrigen Nerven läugnet, wornach
eine körperliche Uebertragung des durch das Ohr
empfangenen Reizes auf den Gesammtorganismus frei-
lich unmöglich wird.


Der Gedanke, durch Musik bestimmte Affekte, als
Liebe, Wehmuth, Zorn, Entzücken, in der Seele zu
erregen, welche den Körper durch wohlthätige Aufre-
gung heilen, klingt so übel nicht. Uns fällt dabei stets
das köstliche Parere ein, welches einer unserer berühm-
testen Naturforscher über die sogenannten „Goldber-
ger
’schen elektromagnetischen Ketten“ abgab. Er sagte:
es sei nicht ausgemacht, ob ein elektrischer Strom ge-
wisse Krankheiten zu heilen vermöge, — das aber sei
ausgemacht, daß die „Goldberger’schen Ketten“ keinen
elektrischen Strom zu erzeugen im Stande sind. Auf
unsere Tondoktoren angewandt, heißt dies: Es ist
möglich, daß bestimmte Gemüthsaffekte eine glück-

liche Krisis in leiblichen Krankheiten herbeiführen, —
allein es ist nicht möglich, durch Musik beliebige Ge-
müthsaffekte hervorzubringen.


Darin kommen beide Theorien, die psychologische
und die physiologische überein, daß sie aus bedenklichen
Voraussetzungen noch bedenklichere Ableitungen folgern
und endlich die bedenklichste praktische Schlußfol-
gerung daraus ziehen. Logische Ausstellungen mag sich
eine Heilmethode etwa gefallen lassen, aber daß sich
bis jetzt noch immer kein Arzt bewogen findet, seine
Typhuskranken in Meyerbeers „Propheten“ zu schicken,
oder statt der Lanzette ein Waldhorn herauszuziehen,
das ist gewiß unangenehm.


Die körperliche Wirkung der Musik ist weder an sich
so stark, noch so sicher, noch von psychischen und ästhe-
tischen Voraussetzungen so unabhängig, noch endlich so
willkürlich behandelbar, daß sie als wirkliches Heil-
mittel in Betracht kommen könnte.


Jede mit Beihilfe von Musik vollführte Kur trägt
den Charakter eines Ausnahmsfalls, dessen Gelingen
niemals der Musik allein zuzuschreiben war, sondern
zugleich von speziellen, vielleicht ganz individuellen kör-
perlichen und geistigen Bedingungen abhing. Es däucht
uns sehr bemerkenswerth, daß die einzige Anwendung
von Musik, welche wirklich in der Medizin vorkommt,
nämlich in der Behandlung von Irrsinnigen, vorzugs-
weise auf die geistige Seite der musikalischen Wir-
kung reflektirt. Die moderne Psychiatrie verwendet
bekanntlich Musik in vielen Fällen und mit glücklichem
Erfolge. Dieser beruht aber weder auf der materiellen
Erschütterung des Nervensystems, noch auf der Erre-
gung von Leidenschaften, sondern auf dem besänftigend
aufheiternden Einfluß, welcher das halb zerstreuende,
halb fesselnde Tonspiel auf ein verdüstertes oder über-
reiztes Gemüth auszuüben vermag. Lauscht der Gei-
steskranke auch dem Sinnlichen, nicht dem Künstleri-
schen des Tonstücks, so steht er doch, da er mit Auf-
merksamkeit
hört, schon auf einer, wenn gleich
untergeordneten Stufe ästhetischer Auffassung.


Was nun alle diese musikalisch medizinischen Werke
für die richtige Erkenntniß der Tonkunst beitragen?
Die (schon durch ihre bloße Existenz dargethane) That-
sache einer von jeher beobachtenden starken physischen
Erregung bei allen durch Musik hervorgerufenen „Affek-
ten“ und „Leidenschaften.“ Steht einmal fest, daß ein
integrirender Theil der durch Musik erzeugten Ge-
müthsbewegung physisch ist, so folgt weiter, daß
dies Phänomen als wesentlich in unserm Nervenleben
vorkommend, auch von dieser seiner körperlichen Seite
erforscht werden müsse. Es kann demnach der Musiker
über dies Problem sich keine wissenschaftliche Ueberzeu-
gung bilden, ohne sich mit den Ergebnissen bekannt zu
machen, bei welchen der gegenwärtige Standpunkt der
Physiologie in Untersuchung des Zusammenhangs
der Musik mit den Gefühlen hält.


Verfolgen wir, ohne Benützung des anatomischen
Details, den Gang, welchen eine Melodie nehmen
muß, um auf unsere Gemüthsstimmung zu wirken.
Zuerst treffen die Töne den Gehörsnerv. Die Physio-
logie, in Verbindung mit der Anatomie und Akustik
weisen die Bedingungen nach, unter welchen unser Ohr
einen Ton vernehmen kann oder nicht, wie viel Luft-
schwingungen zum höchsten oder tiefsten wahrnehmbaren
Ton erforderlich sind, in welcher Stärke und Schnel-
ligkeit sich diese Luftstöße zum Akustikus fortpflanzen.
Diese und ähnliche dahin gehörende Kenntnisse darf
die Aesthetik voraussetzen. Nicht der entstehende,
sondern erst der fertige, vom Ohre aufgenommen Ton
und dieser erst in Verbindung mit andern, gehört ihr
an. Der Weg vom vibrirenden Instrument bis zum
Gehörnerv ist, vollends für das ästhetische Interesse,
hinreichend aufgeklärt, obwohl schon hier die Schwierigkeit
hemmend eintritt, daß wir am menschlichen Ohr nicht
experimentiren können und mit akustischen Apparaten
uns begnügen müssen ***). Unerklärt ist aber der Nerven-
prozeß, wodurch die perzipirte Tonreihe, Lust oder Un-
lust erzeugend, zum Gefühl wird. Die Physiologie
weiß, daß das, was wir als Ton empfinden, eine
Molecullarbewegung in der Nervensubstanz ist, und zwar
wenigstens eben so gut als im Akustikus in den Cen-
tralorganen °). Sie weiß, daß die Fasern des Gehör-
nervs mit anderen Nerven zusammenhängen, und seine
Reize auf sie übertragen, daß das Gehör namentlich
mit dem kleinen und großen Gehirn, dem Kehlkopf,
der Lunge, dem Herzen in Verbindung stehe. Unbekannt 3

ist ihr aber die spezifische Art, wie Musik auf diese
Nerven wirkt, noch mehr die Verschiedenheit, mit wel-
cher bestimmte musikalische Faktoren, Akkorde, Rhyth-
men, Instrumente auf verschiedene Nerven wirken. Ver-
theilt sich eine musikalische Gehörsempfindung auf alle
mit dem Akustikus zusammenhängenden Nerven, oder
nur auf einige? Mit welcher Intensität, mit welcher
Schnelligkeit? Von welchen musikalischen Elementen
wird das Gehirn, von welchen die zum Herzen oder
zur Lunge führenden Nerven am meisten affizirt? Un-
läugbar ist, daß Tanzmusik in jungen Leuten, deren
natürliches Temperament nicht durch die Uebung der
Civilisation ganz zurückgehalten wird, ein Zucken im
Körper namentlich in den Füßen hervorruft. Es wäre
einseitig den physiologischen Einfluß von Marsch-
und Tanzmusik zu läugnen, und ihn lediglich auf psy-
chologische Ideenassoziation
reduziren zu
wollen. Was daran psychologisch ist, — die wachgerufene
Erinnerung an das schon bekannte Vergnügen des Tan-
zes, — entbehrt nicht der Erklärung, allein diese reicht
für sich keineswegs aus. Nicht weil sie Tanzmusik
ist, hebt sie die Füße, sondern sie ist Tanzmusik,
weil sie die Füße hebt. Wer in der Oper ein wenig
um sich blickt, wird bald bemerken, wie bei lebhaften,
faßlichen Melodien die Damen unwillkürlich mit dem
Kopfe hin- und herschaukeln, nie wird man dies aber
bei einem Adagio sehen, sei es noch so ergreifend oder
melodisch. Läßt sich daraus schließen, daß gewisse musi-
kalische, namentlich rhythmische Verhältnisse auf moto-
rische Nerven wirken, andere nur auf Empfindungs-
nerven? Wann ist das erstere, wann das letztere der
Fall? °°) Erleidet das Solargeflecht, welches traditio-
nell für einen vorzugsweisen Sitz des Empfindens gilt
bei der Musik eine besondere Affektion? Erleiden sie
etwa die „sympathetischen Nerven“ (— an denen, wie
der geistreiche Purkinje uns bemerkte, ihr Name
das schönste ist —)? Warum ein Klang schrillend,
widerwärtig, ein anderer rein und wohllautend erscheine,
das wird auf akustischem Wege durch die Gleichförmig-
keit oder Ungleichförmigkeit der aufeinanderfolgenden
Luftstöße erklärt. Mit der einfachen Empfindung 
hat der Aesthetiker es nicht zu thun, er verlangt nach
der Erklärung des Gefühls und fragt: wie kommt
es, daß eine Reihe von wohlklingenden Tönen
den Eindruck der Trauer, eine zweite von gleich-
falls wohlklingenden
den Eindruck der Freude 
macht? Woher die entgegengesetzten, oft mit zwingen-
der Kraft auftretenden Stimmungen, welche verschie-
dene Akkorde oder Instrumente von gleich reinem, wohl-
klingendem Ton dem Hörer unmittelbar einflößen?


Dies alles kann, — so weit unser Wissen und Ur-
theil reicht, — die Physiologie nicht beantworten. Wie
sollte sie auch? Weiß sie doch nicht, wie der Schmerz
die Thräne erzeugt, wie die Freude das Lachen, —
weiß sie doch nicht, was Schmerz und Freude sind!
Hüte sich deshalb Jeder, von einer Wissenschaft Auf-
schlüsse zu verlangen, die sie nicht geben kann.


Freilich muß der Grund jedes durch Musik hervor-
gerufenen Gefühls vorerst in einer bestimmten Affek-
tionsweise der Nerven durch einen Gehöreindruck lie-
gen. Wie aber eine Reizung des Gehörnervs, die wir
nicht einmal bis zu dessen Ursprungstelle verfolgen kön-
nen, als bestimmte Empfindungsqualität ins Bewußt-
sein fällt, wie der körperliche Eindruck zum Seelenzu-
stand, die Empfindung endlich zum Gefühle wird, —
das liegt jenseits der dunklen Brücke, die von keinem
Forscher überschritten ward. Es sind tausendfältige
Umschreibungen des Einen Urräthsels: vom Zusam-
menhang des Leibes mit der Seele. Diese Sphynx
wird sich niemals ins Wasser stürzen.


Was die Physiologie der Musikwissenschaft bietet,
ist ein Kreis von objektiven Anhaltspunkten, welche
vor einschlägigen Fehlschüssen bewahren. Mancher Fort-
schritt in Erkenntniß der durch Gehörseindrücke her-
vorgebrachten Erscheinungen kann durch die Physiolo-
gie noch geschehen, in der musikalischen Hauptfrage
wird dies nicht leicht der Fall sein.


Hierüber mögen die Aussprüche zweier der geistvoll-
sten Physiologen der Gegenwart Platz finden, die über-

dies der Musik ein aufmerksameres Interesse zuwenden
als es die Männer dieser Wissenschaft zu haben
pflegen.


Hr. Lotze sagt in seiner „medizinischen Psycholo-
gie“ (S. 273): „Die Betrachtung der Melodien 
würde zu dem Geständniß führen, daß wir gar
nichts über die Bedingungen
wissen, unter
denen ein Uebergang des Nerven aus einer Form der
Erregung in die andere eine physische Grundlage für
die kraftvollen ästhetischen Gefühle bietet, die der Ab-
wechslung der Töne folgen.“ Ferner über den Eindruck
von Lust oder Unlust, den selbst ein einfacher Ton auf
das Gefühl ausüben kann (S. 236): Es ist uns
völlig unmöglich, gerade für diese Eindrücke einfacher
Empfindungen einen physiologischen Grund anzugeben,
da uns die Richtung, in welcher sie die Nerventhätig-
keit verändern, zu unbekannt ist, als daß wir aus ihr
die Größe der Begünstigung oder Störung, die sie er-
fährt abzuleiten vermöchten.“


E. Harleß spricht sich über die Bedingungen, von
welchen eine Lösung unserer Frage nothwendig auszu-
gehen hätte; in R. Wagners „Handwörterbuch der
Physiologie“ (24. und 25. Lieferung 1850) also aus:
„Es ist nicht allein die Unkenntniß der Funktion,
welche die einzelnen Theile des Gehörapparates in phy-
sikalischer Beziehung haben, sondern noch vielmehr die
allgemeinen Verhältnisse der Nerven und ihr Zusam-
menhang mit den Centralorganen in physiologischer
Beziehung, was alles noch in einem tiefen Dunkel
liegt.“


Aus diesen physiologischen Resultaten ergibt sich für
die Aesthetik der Tonkunst die Betrachtung, daß die-
jenigen Theoretiker, welche das Prinzip des Schönen
in der Musik, auf deren Gefühlswirkungen bauen,
wissenschaftlich verloren sind, weil sie über das Wesen
dieses Zusammenhangs nichts wissen können, also
besten Falls nur darüber zu rathen oder zu phantasiren
vermögen. Vom Standpunkte des Gefühls wird eine
künstlerische oder wissenschaftliche Bestimmung der Mu-
sik niemals ausgehen können. Mit der Schilderung
der subjektiven Bewegungen, welche den Kritiker bei
Anhörung einer Symphonie überkommen, wird er deren
Werth und Bedeutung nicht begründen, eben so wenig
kann er von den Affekten ausgehend den Kunstjünger
etwas lehren. Letzteres ist wichtig. Denn stünde der
Zusammenhang bestimmter Gefühle mit gewissen mu-
sikalischen Ausdrucksweisen so zuverläßig da, als man
geneigt ist zu glauben, und als er dastehen müßte, um
die ihm vindizirte Bedeutung zu behaupten, so wäre
es ein Leichtes, den angehenden Komponisten bald zur
Höhe ergreifendster Kunstwirkung zu leiten. Man
wollte dies auch wirklich. Matheson lehrt im dritten
Kapitel seines „vollkommenen Kapellmeisters,“ wie
Stolz, Demuth und alle Leidenschaften zu komponiren
seien, indem er z. B. sagt, die „Erfindungen“ zur
Eifersucht müssen „alle was Verdrießliches, Grim-
miges und Klägliches haben.“ Ein anderer Meister
des vorigen Jahrhunderts, Heinchen, gibt in seinem
Generalbaß“ acht Bogen Notenbeispiele wie die Mu-
sik „rasende, zankende, prächtige, ängstliche oder ver-
liebte Empfindungen“ ausdrücken solle °°°). Es fehlt nur
noch, daß derlei Vorschriften mit der Kochbuch-Formel
„Man nehme“ anhüben, oder mit der medizinischen
Signatur m. d. s. endigten. Es holt sich aus solchen
Bestrebungen die lehrreichste Ueberzeugung wie spezielle
Kunstregeln immer zugleich zu eng und zu weit sind.


Diese an sich bodenlosen Regeln für die musikalische
Erweckung bestimmter Gefühle gehören jedoch um so
weniger in die Aesthestik, als die erstrebte Wirkung
keine rein ästhetische, sondern ein unausscheidbarer An-
theil daran körperlich ist. Das ästhetische Rezept
müßte lehren, wie der Tonkünstler das Schöne in
der Musik erzeuge, nicht aber beliebige Affekte im
Auditorium. Wie ganz ohnmächtig diese Regeln wirk-
lich sind, das zeigt am schönsten die Erwägung, wie
zaubermächtig sie sein müßten. Denn wäre die Ge-
fühlswirkung jedes musikalischen Elementes eine noth-
wendige und erforschbare, so könnte man auf dem Ge-
müth des Hörers, wie auf einer Klaviatur spielen. Und
falls man es vermöchte, — würde die Aufgabe der
Kunst dadurch gelöst? So nur lautet die berechtigte
Frage und verneint sich von selbst. Musikalische 

Schönheit allein ist das Ziel des Tonkünsters.
Auf ihren Schultern schreitet er sicher durch die reißen-
den Wogen der Zeit, in denen das Gefühlsmoment
ihm keinen Strohhalm bietet vorm Ertrinken.


Man sieht, unsre beiden Fragen, — nämlich, wel-
ches spezifische Moment die Gefühlswirkung durch
Musik auszeichnen, und ob dies Moment wesentlich
ästhetischer Natur sei? — erledigen sich durch
die Erkenntniß ein und desselben Faktors: Der in-
tensiven Einwirkung auf das Nervensystem.
Auf dieser beruht die eigenthümliche Stärke und Un-
mittelbarkeit, mit welcher die Musik im Vergleich mit
jeder andern nicht durch Töne wirkenden Kunst, Af-
fekte aufzuregen vermag.


Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich über-
wältigend, also pathologisch auftritt, desto geringer
ist ihr ästhetischer Antheil; ein Satz der
sich freilich nicht umkehren läßt. Es muß darum in
der musikalischen Hervorbringung und Auffassung ein
anderes Element hervorgehoben werden, welches das
unvermischt Aesthetische dieser Kunst repräsentirt, und
als Gegenbild zu der spezifisch-musikalischen Gefühls-
erregung, sich den allgemeinen Schönheitsbedin-
gungen der übrigen Künste annähert. Dies ist die
reine Anschauung. Ihre besondere Erscheinungs-
form in der Tonkunst, so wie die vielgestaltigen Ver-
hältnisse, welche sie in der Wirklichkeit zum Gefühls-
leben eingeht, mag unser zweiter (zugleich letzte) Aufsatz
zu beleuchten versuchen.

Fußnoten
  • *)

    Der Geist in der Natur.“ III. 9.
  • **)
    Die höchste Konfusion erreichte diese Lehre bei dem
    berühmten Arzt Baptista Porta, welcher die
    Begriffe von Medizinalpflanze und Musikinstrument
    kombinirte und die Wassersucht mit einer Flöte
    heilte, die aus den Stengeln des Helleborus 
    verfertigt war. Ein aus dem populus verfer-
    tigtes Musikinstrument sollte Hüftschmerzen, ein
    aus Zimmtrohr geschnitztes Ohnmachten heilen.
    (Encyclopédie, article „musique.“)
  • ***)
    „Die inneren Theile des Ohrs sind so klein und
    liegen so tief in der unmittelbaren Nachbarschaft
    der wesentlichen Lebenswerkzeuge verborgen, daß sich
    keine Versuche an ihnen anstellen lassen.“
    G. Valentin, Physiologie I. 3., Zweite
    Auflage.
  • °)
    Vergl. R. Wagner’s Handwörterbuch der Physio-
    logie, Artikel „Hören,“ S. 312.
  • °°)
    Wenn Carus den Reiz zur Bewegung damit er-
    klärt, daß er den Hörnerv im kleinen Gehirn ent-
    springen läßt, in dieses den Sitz des Willens ver-
    legt und aus beiden die eigenthümlichen Wirkun-
    gen der Gehörseindrücke auf Handlungen des Mu-
    thes u. a. ableitet, so ist das ein Beweis aus Hy-
    pothesen
    . Denn nicht einmal die Abstammung
    des Gehörnervs aus dem kleinen Gehirn ist
    eine wissenschaftlich ausgemachte Thatsache.
    Harleß vindizirt der bloßen Wahrnehmung 
    des Rhythmus, ohne allem Gehöreindruck, den-
    selben Trieb zu Bewegungen wie der rhythmischen
    Musik, was uns der Erfahrung zu widersprechen
    scheint.
  • °°°)
    Wunderschön sind die Belehrungen des Herrn ge-
    heimen Raths und Doktors der Philosophie, v.
    Böcklin, welcher S. 34 seiner „Fragmente zur
    höheren Musik“ unter Anderem sagt: „Angenom-
    men, der Komponist wolle einen Beleidigten 
    darstellen, so muß in dieser Musik ganz ästhetische
    Wärme auf Wärme, Schlag auf Schlag, ein erha-
    bener
    Gesang mit äußerster Lebhaftigkeit hervor-
    springen, die Mittelstimmen rasen und schau-
    dervolle Stöße den erwartungsvollen Zuhörer
    schrecken.“