1Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst. Montag, den 20. November 1854. No.
47.
Zur Aesthetik der Tonkunst.
Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision
der Aesthetik der Tonkunst. Von Dr. Eduard
Hanslick.
Leipzig. R. Weigl 1854. 8. 104.
Es gibt wenig Partien, die für den Aesthetiker
dorniger wären als die Aesthetik der Tonkunst. In
keiner andern Kunst scheint die Kenntniß des Tech-
nischen so unentbehrlich und ist doch zugleich nur
von so Wenigen und zumeist nur von Solchen, die
Musiker vom Fach sind, zu erlangen. In keiner an-
dern zugleich scheint andererseits das Verständniß so
nahe zu liegen und oft von Leuten besessen zu wer-
den, denen wir sonst nur einen niederen Grad von
Bildung zutrauen. Daher der seltsame Umstand, daß
wir die Musik von den Aesthetikern bald als die
höchste gepriesen, bald als die niederste aller Künste
herabgesetzt sehen. Im Allgemeinen stellen sich auf jene
Seite die Musiker vom Fach, die Dilettanten, die
in keiner andern Kunst so zahlreich sind und der
größte Theil der Laien; auf diese Seite der grö-
ßere Theil der Aesthetiker vom Fach. Die Erscheinung
ist zu auffallend, um nicht Aufmerksamkeit zu ver-
dienen. Eine tief durchgreifende Vorstellung von der
Natur der Musik muß Ursache daran sein und je
nachdem diese von Verschiedenen hoch, oder niedrig
angeschlagen wird, die Werthschätzung der Tonkunst
bestimmen.
Der Philosoph, der selbst nicht Tonkünstler ist,
kann in solchem Streit nicht vorsichtig genug auftre-
ten. Haben wir doch selbst Herbart, unter den
neuen großen Denkern den einzigen musikalisch nicht
blos Gebildeten, sondern Gelehrten, sich über Musik
stets nur mit Vorbehalt der Zurücknahme aussprechen
hören. An Hegel hat es uns stets eine anerken-
nenswerthe Bescheidenheit geschienen, daß er von der
Musik redend sein „geringes Bewandertsein“ darin
hervorhebt und „sich im Voraus entschuldigt, wenn
er sich nur auf allgemeinere Gesichtspunkte und ein-
zelne Bemerkungen beschränke,“ auch am Schluß
des Abschnitts über die Musik seine Betrachtungen
nur für aus der Musik „heraus gehört“ und die
allgemeinen Gesichtspunkte für „abstrahirt“ ausgibt.
In der That, wo selbst das „absolute Wesen“ so ge-
dämpft auftritt, darf das „nichtabsolute“, ohne Za-
gen seine Schüchternheit eingestehen.
Nur mit diesem Vorbehalt entschließen wir uns,
Dr. Hanslick’s uns sehr werthvoll dünkende Schrift
vom Standpunkt eines nicht musikalischen Beurtheilers
mit unsern Bemerkungen zu begleiten.
Der Verfasser, den Lesern dieser Blätter durch seine
geistvollen Musikkritiken längst bekannt, hat auch
Bruchstücke dieser Schrift in denselben bereits veröf-
fentlicht. Sie haben nicht verfehlt, Aufmerksamkeit zu
erregen. Man fand darin große Schärfe der Auffas-
sung, entschiedenen Kampf gegen liebgewordene Vor-
urtheile, insbesondere gegen eine allgemein verbreitete
Meinung, die das Wesen der Musik in den Ausdruck
von Gefühlen setzt. Diese Aufsätze hat der Verfasser
in seinem Schriftchen gesammelt, durch neue vermehrt
und ergänzt, so daß sie nun ein zusammenhängendes
Ganzes bilden, das die wichtigsten Fragen der musi-
kalischen Aesthetik bespricht, ohne Anspruch zu machen
eine Aesthetik der Tonkunst zu sein. Er nennt es be-
scheiden nur einen „Beitrag zur Revision der Aesthe-
tik der Tonkunst“, aber es ist kein Zweifel, daß,
wenn seine Ansichten die richtigen sind, die ganze
Aesthetik der Tonkunst sich umgestalten müßte.
Die Hauptfrage, die den Verfasser beschäftigt, ist
die nach Zweck und Inhalt der Musik. Er be-
stimmt beide negativ: „Gefühle sind weder Zweck noch
Inhalt der Musik.“ Das Schöne hat überhaupt kei-
nen Zweck, denn es ist bloße Form, welche wohl
mit beliebigem Inhalt erfüllt und dadurch zu den
verschiedensten praktischen Zwecken verwandt werden
kann, aber an sich keinen andern hat, als, wenn man
so sagen soll, sich selbst. Wenn aus seiner Betrach-
tung angenehme Gefühle für den Betrachter entstehen,
so gehe diese das Schöne als Solches nichts an. Ich kann
wohl dem Betrachter Schönes vorführen in der be-
stimmten Absicht, daß er an seiner Betrachtung Ver-
gnügen finden möge, aber diese Absicht hat mit der
Schönheit des Vorgeführten selbst nichts zu thun.
Das Schöne ist schön und bleibt schön, auch wenn
es keine Gefühle erzeugt, ja auch wenn es weder ge-
schaut noch betrachtet wird. Denn das Schöne be-
ruht auf sich gleich bleibenden Verhältnissen.
Wo gewisse Verhältnisse stattfinden, ist Schönheit,
wo die entgegengesetzten, Häßlichkeit, wo disparate,
weder jene noch diese vorhanden. Diese Verhält-
nisse sind unter allen Umständen dieselben. Ewig
werden Farbenzusammenstellungen wie: Roth und
Grün, Blau und Orange, Violett und Gelb gefallen;
solche dagegen wie: Roth und Blau, Gelb und
Orange u. s. w. mißfallen. Grundton und Terz wer-
den immer ein gefälliger, Grundton und Sekunde,
Grunton und Septime ein mißfälliges Verhältniß
darstellen, jene schön, diese häßlich genannt werden.
Diese Verhältnisse sind objectiv, wenn auch ihre
Erkenntnißquelle zunächst subjektiv die allge-
meine Wahrnehmung des unbedingten, d. i. weder
durch die Rücksicht der Nützlichkeit, noch der Annehm-
lichkeit, noch der Sittlichkeit, sondern einzig und allein
durch ihre Betrachtung hervorgerufenen Gefallens
oder Mißfallens ist. Ihr Stattfinden würde den Ge-
genstand, an dem sie stattfinden, zum schönen oder
häßlichen machen, auch wenn kein Beschauer vorhan-
den wäre; ihr Inbegriff bildet eine Welt von For-
men, die gleichviel ob wirklich oder unwirklich, mit
reelem oder Gedankeninhalt erfüllt oder nicht, ange-
schaut oder nicht, das Schöne an sich, das objek-
tive Schöne ausmachen.
Es thut nichts zur Sache, daß der Verfasser den
Akt der Betrachtung des objektiv Schönen mit Vi-
scher Anschauung, das Vermögen desselben
Phantasie nennt, da er doch nichts als die rein
intellektuelle Auffassung dieser Verhältnisse von Sei-
ten des Beschauers meint, durch welche das interes-
senlose ästhetische Urtheil des Beifalls oder Mißfal-
lens herbeigeführt wird. Gefährlich bleibt aber die
Benennung deßhalb, weil unter „Anschauung“ im
Hegelschen Sinn die „Wahrnehmung des Unendlichen
im Endlichen“, unter Phantasie das Vermögen dieser
Wahrnehmung verstanden, damit also zugleich auf
einen bestimmten und zwar den einzigen Inhalt
des Schönen hingedeutet wird, was die wichtige Er-
kenntniß, daß das Schöne bloße Form sei, wieder
aufhebt. Es ist dies das bedenkliche Dilemma, in
welches alle spekulative Aesthetik und namentlich der
scharfsinnige und geistreiche Vischer geräth, daß sie
einerseits das Schöne richtig in die Form setzt, an-
dererseits die Form nur schön heißt, wenn sie zu-
gleich einen bestimmten Inhalt nämlich das Un-
endliche, das Absolute, die Idee hat. Beides vereint
widerspricht sich. Das Schöne ist entweder blos
Form und dann ist der Inhalt ästhetisch (nicht
ethisch) gleichgiltig, oder das Schöne ist nur ein
bestimmter einziger Inhalt und dann ist es
stofflich, nicht formell, schön durch das was, nicht
durch die Art wie es ist, eine Behauptung, die doch
gerade Vischer aufs Lebhafteste ablehnt. Es ist dies
ein Hauptpunkt, auf welchem der natürliche ästhetische
Takt mit dem Prokrustesbett des Systems in Kon-
flikt kommt. Zum Glück trägt ersterer gewöhnlich,
wie auch bei unserm Verfasser, den Sieg davon.
Der Verf. kämpft kräftig gegen das Vorurtheil,
daß musikalische Schönheit in der Erzeugung von Ge-
fühlen bestehe. Die Musik, sagt er, flüstert, stürmt
und rauscht; „das Lieben und Zürnen aber trägt nur
unser eigenes Herz in sie hinein.“ (S. 13.) „Sie
stellt keine Gefühle dar, da die Bestimmtheit der
Gefühle von konkreten Vorstellungen und Begriffen
nicht getrennt werden kann, welche außerhalb des Ge-
staltungsbereiches der Musik liegen. Einen Kreis von
Ideen hingegen kann die Musik mit ihren eigensten
Mitteln reichlich darstellen. Dies sind unmittelbar alle
diejenigen, welchen auf hörbare Veränderungen der Zeit,
der Kraft, der Proportionen sich beziehen, also die
Idee des Anschwellenden, des Absterbenden, des Ei-
lens, Zögerns, des künstlich Verschlungenen, des ein-
fach Begleitenden u. dgl. m. (S. 14.) „Die Ideen,
welche der Komponist darstellt, sind vor Allem und
zuerst rein musikalische. Seiner Phantasie er-
scheint eine bestimmte schöne Melodie. Sie soll nichts
Anderes sein als sie selbst.“ Bis hieher sind wir mit
dem Verfasser vollkommen einverstanden. Die musika-
lischen Ideen sind Melodien, Tonfolgen, deren Theile
bestimmte Verhältnisse haben, die um ihrer selbst
willen gefallen. Ueberflüssig erscheint uns, daß, wie
der Verfasser fortfährt, diese reinen Tonverhältnisse
noch etwas Anderes als sich selbst zur Erscheinung
bringen, z. B. „bis zur Ahnung des Absoluten stei-
gen.“ Das Absolute ist kein Tonverhältniß und also
dünkt uns, auch nicht musikalisch. Soll es musikalisch
dargestellt werden, so kann dies schwer und nur da-
durch geschehen, daß Töne, Rhythmen gebraucht wer-
den, die durch Ideenassoziation den Begriff des
Erhabenen und so des Absoluten erwecken, als
mittelbar, nicht unmittelbar durch Töne. Die
Ideenassoziation kann freilich weit gehen und so
Rosenkranz im Rothgelb „anmuthige Würde,“
im Violett „philisterhafte Freundlichkeit,“ in diesem
Ton dies, in jenem Jenes erblicken. Der Verfasser
nennt dies richtig kein eigentliches „Ausdrücken“ oder
„Darstellen,“ sondern einen „physiologisch-psychologi-
schen Zusammenhang mit Bestimmtheiten dieser Ge-
fühle,“ der, wenn wir die Untersuchung fortsetzen
uns wieder auf gewisse Analogien im Rhythmus, im
obigen Beispiel der Schnelligkeit der Schwingungen
führt, die z. B. zwischen Roth als der Farbe mit der
größten Schwingungsanzahl und der raschen Bewe-
gung der Freude stattfindet. Wie tief der Verfasser
dies erkennt, zeigen die Beispiele S. 18 aus Beetho-
vens Ouverture zum Prometheus. Manchen Gefühls-
enthusiasten wird es wie kaltes Wasser überlaufen,
wenn er hört, daß er es hier statt mit himmelstür-
menden Gefühlen, blos mit Rhythmen, Symmetrieen
und korrespondirenden Tonfolgen zu thun hat. Der
Aesthetiker aber wird es dem Verfasser danken, daß
er einen Laienvorurtheil einmal als Musiker gründlich
zerstört. Er sagt mit Recht, wenn die Musik Gefühle
darstellen muß, „das ganze Gebiet der Figuralmusik
fiele dann weg. Müssen aber große historisch, wie
ästhetisch begründete Kunstgattungen ignorirt werden,
um einer Theorie Haltbarkeit zu erschleichen, dann
ist diese falsch. Ein Schiff muß untergehen, sobald es
auch nur Ein Leck hat.“ S. 19. Den Hauptgrund
dieser falschen Gefühlstheorie setzt der Verfasser in die
Nichtachtung der Instrumentalmusik. „Nur sie ist die
reine absolute Tonkunst; was sie nicht kann, von
dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es.“
Es versteht sich, daß, die menschliche Stimme, so
lange sie nicht Worte, blos Töne singt, hier
mit zu den Instrumenten müßte gerechnet werden.
Vocal- und Instrumentalmusik stehen einander nur
wie begleitende und selbstständige Musik gegenüber.
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Und nun bedenke man, daß selbst Goethe seinen
Meister sagen läßt: „Das Instrument sollte nur die
Stimme begleiten; denn Melodien, Gänge und Läufe
ohne Wort und Sinn schienen ihm Schmetterlingen
oder schönen bunten Vögeln ähnlich zu sein die in
der Luft vor unsern Augen herumschweben, die wir
allenfalls haschen und uns zueignen möchten, da sich
der Gesang dagegen, wie ein Genius gegen Himmel
hebt und das bessere sich in uns ihn zu begleiten an-
reizt.“ (S. W. XVIII. S. 204). Bedenken wir,
daß also ein Goethe selbst die begleitende Musik,
die dadurch, daß ihr Text Worte enthält, schon gar
nicht reine Musik mehr ist, als die eigentliche Musik
ansah, und man wird sich nicht wundern, wenn das
richtige Verlangen, das an die Worte gestellt wird,
bestimmte Vorstellungen und Begriffe zu erwecken, an
die Musik wenigstens in der Form bestimmter Ge-
fühle gestellt wird. Diese falsche Auffassung bekämpft
der Verfasser mit allem Nachdruck, den ein zäh ge-
wordenes Vorurtheil erfordert. Am wichtigsten wird
der Streit bei der Oper. „Das gleichmäßige Genügen
an die musikalischen und dramatischen Anforderungen
gilt mit Recht für das Ideal der Oper. Daß jedoch
das Wesen derselben eben dadurch ein steter Kampf
ist zwischen dem Prinzip der dramatischen Genauig-
keit und dem der musikalischen Schönheit, ein unauf-
hörliches Concediren des einen an das andere, dies
ist meines Wissens nie erschöpfend entwickelt worden.
Nicht die Unwahrheit, daß sämmtliche handelnde Per-
sonen singen, macht das Prinzip der Oper schwan-
kend und schwierig — solche Illusionen geht die Phan-
tasie mit großer Leichtigkeit ein — die unfreie Stel-
lung aber, welche Musik und Text zu einem fortwäh-
renden Ueberschreiten oder Nachgeben zwingt, macht,
daß die Oper wie ein konstitutioneller Staat auf
einem steten Kampfe zweier berechtigter Gewalten ruht.
Dieser Kampf, in dem der Künstler bald das eine,
bald das andere Prinzip muß siegen lassen, ist der
Punkt, aus welchem alle Unzulänglichkeiten der Oper
entspringen und alle Kunstregeln auszugehen haben,
welche eben für die Oper Entscheidendes sagen wollen.
In ihre Konsequenzen verfolgt, müssen das musika-
lische und dramatische Prinzip einander nothwendig
durchschneiden. Nur sind die beiden Linien lang
genug, um dem menschlichen Auge eine beträchtliche
Strecke hindurch parallel zu scheinen“. Das ist ein-
mal ein ehrliches Wort, das doppelt angenehm über-
rascht von einem Mann ausgesprochen, den Niemand
der Feindschaft gegen die neue deutsche Musik beschul-
digen wird. Der Verfasser nennt eine „spezifisch dra-
matische Tendenz“ wie die Richard Wagner’s offen
eine Verirrung. Die Oper, sagt er, „ist vorerst Musik,
nicht Drama“. Aus selbem Grund stellt er sich auch
in dem berühmten Gluckstreit nicht unbedingt auf
Glucks Seite. „Je konsequenter man das dramatische
Prinzip in der Oper rein halten will, ihr die Le-
bensluft der musikalischen Schönheit entziehend, desto
siecher schwindet sie dahin, wie ein Vogel unter
der Luftpumpe. Man muß nothwendig bis zum
rein gesprochenen Drama zurückkommen, womit man
wenigstens den Beweis hat, daß die Oper wirk-
lich unmöglich ist, wenn man nicht dem musika-
lischen Prinzip die Oberherrschaft in der Oper ein-
räumt.“ Uns scheint, der Verfasser hätte kürzer
noch sagen können: die Oper gehört gar nicht mehr
in die Aesthetik der Tonkunst. Es ist überhaupt ein
Fehler, der in der Verkennung der ersten ästhetischen
Prinzipien seinen Sitz hat, von jeder Kunst Alles
zu verlangen, was die andere besitzt. Die Forderung
einer dramatischen Musik entspringt aus dem Dasein
einer dramatischen Poesie. Mit demselben Grund
müßte es auch eine epische Musik geben. Die Liebe
zum Parallelismus in den Künsten, die daraus ent-
springt, weil man eigentlich nur eine Kunst in allen
finden will, der Hang zum Schematischen, der dahin
geführt hat, die Genre- mit der dramatischen, die histo-
rische mit der epischen, die Landschaftsmalerei mit der ly-
rischen Poesie zu vergleichen, diese Sucht zu verwischen,
was seiner Natur nach disparat ist, hat auch diese Kon-
fusion der Begriffe veranlaßt. Die wahre Wurzel des Irr-
thums sitzt in dem Streben, alles Schöne auf ein
Prinzip zurückführen zu wollen. Das Schöne liegt
aber in Verhältnissen, und diese sind nicht Eines,
sondern Viele. Für das Verhältniß der Töne gelten
andere Gesetze als für das der Farben, für diese wie-
der andere als für die Worte u. s. w. Was in Tönen
schön ist, kann gar nicht auf Farben angewendet wer-
den und umgekehrt. Die Begriffe: lyrisch, episch, dra-
matisch, die von der Poesie gelten, haben für reine
Tonverhältnisse gar keinen Sinn. Oder warum sollte
z. B. eine Tonart dramatischer sein als die andere?
Entweder also man erkläre die Oper für ein rein
musikalisches Kunstwerk und leiste dann auf ihre dra-
matische Natur, als der Musik gar nicht zugehörig,
geradezu Verzicht, oder man rette ihren dramatischen
Charakter, indem man aufhört sie als reines Ton-
werk zu betrachten. Ein Drittes gibt es nicht. Die
Oper ist eben nicht Werk einer einfachen Kunst,
sondern des Zusammenwirkens aller Künste. Poesie,
Musik, Tanz, bildende Kunst, alle wirken zusammen.
Jenachdem die Musik oder die Poesie vorwiegt, nen-
nen wir sie dramatisches Tonwerk oder musikalisches
Drama. Der Streit der Gluckisten und Piccinisten
ist nicht zu entscheiden, weil sein Objekt an sich gar
nicht besteht. Wo der Ausdruck „dramatisch“ von
Tonverhältnissen gar nicht gebraucht werden kann, hat
der Streit über die Bevorzugung der Worte oder der
Musik eben nur die Bedeutung eines Mehr oder Min-
der. Vom rein musikalischen Standpunkt handelt es
sich eben nur um Töne. Dès qu’on admet le chant,
il faut l’admettre le plus beau possible, zitirt der
Verfasser aus La Harpe und der Piccinianer hat
Recht. Erst vom Standpunkte der Oper als keines
rein musikalischen, sondern eines zusammengesetz-
ten Kunstwerkes handelt es sich darum, daß der mu-
sikalische Theil in Rhythmik und Tonart dem Text
nicht allzugrell widerspreche, daß ein Trinklied z. B.
nicht in langsamen Rhythmen und ein Trauergesang
nicht im Zweivierteltakt einherbrause. Dann tritt der
„Kampf“ ein, von dem der Verfasser spricht, weil
mehrere Künste zusammenwirken, deren jede an sich
gleich berechtigt ist. Keine ordnet sich freiwillig der
andern unter, sondern jede verlangt in ihrer Eigen-
thümlichkeit geduldet zu werden. Von der Oper ver-
langen, daß sie dramatisch sei, wie es das Drama ist,
heißt sie eben so gut aufheben, als wenn man vom
Drama verlangte, es solle musikalisch sein, wie es die
Oper ist. Mißverstandene Begriffe vom Drama der
Alten sind der historische, mißverstandene Begriffe von
der Einheit der Kunst der philosophische Quell dieser
Irrthümer. Wenn das Drama der Alten von Musik
begleitet war, so dürfen wir nicht vergessen, daß dies
eben nur Begleitung, daß eine selbstständige im Sinn
des Verfassers reine Instrumentalmusik den Alten so
gut wie unbekannt war. Sie auf das Maß der Alten
als bloße Begleitung beschränken, hieße ihre ganze
selbstständige Entwicklung negiren, die musikalische
Schönheit als rein vernichten, die Musik als einfache
Kunst für sich aufheben wollen. Wir brauchen blos
an Fr. Schlegels Alarkos, an die Opertragödien Z.
Werners und ähnliche Geburten der Romantik zu er-
innern. Die Einheit der Kunst sollte der Vielheit der
Künste ein Ende machen. Das in der Kunst sich selbst
anschauende Absolute kann sich nur auf einerlei Weise
anschauen, die Vielheit der Künste gehört nur dem
sinnlichen Scheine. Das Wesen der einen Kunst
muß in jeder der Künste zu finden sein, denn in
Allen ist es der eine Geist, der sich äußerlich dar-
stellt. Daraus mußte nothwendig die entsetzlichste Verwir-
rung entstehen. Die Musik mußte malerisch, die Malerei
musikalisch, die Plastik architektonisch, die Architektur
plastisch, die Poesie alles dies werden, weil die eine
Kunst, die Urmutter der Künste Alles sein mußte,
was jeder ihrer Brüder für sich ist. Der Gipfel ro-
mantischer Kunst war folgerichtig die Oper, das
Werk aller Künste, d. h. in ihrem Sinn der ganzen
und vollen Kunst. Diese Zeit ist längst zu Grabe
und doch spuckt sie noch immer fort in den übertrie-
benen Forderungen, die an die Oper gestellt werden.
Nur soll sie, was dort als Repräsentantin der einen
ganzen Kunst, jetzt blos als Werk der reinen Musik
leisten, d. h. zugleich musikalisch schön und drama-
tisch untadelhaft sein. Das Ungereimte dieser Forde-
rung hat der Verfasser gründlich nachgewiesen.
Wir fragen mit ihm: welcher Natur ist nun das
Schöne einer Tondichtung? und antworten mit ihm:
„Es ist ein spezifisch Musikalisches,“ die Ausführung
dieses Gedankens gibt der Verfasser mit solcher Klar-
heit und Einsicht, daß wir dem Leser diesen Abschnitt
der Schrift besonders auf das Angelegentlichste em-
pfehlen. So fremdartig es Vielen klingen wird, den
„tiefen Inhalt“ der Musik zuletzt in bloße „Töne
und ihre künstlerische Verbindung“ aufgelöst zu sehen,
so wahr ist es und so schlagend sind die Gründe und
Beispiele des geistreichen Verfassers. „Das Material,
aus dem der Tondichter schafft und dessen Reichthum
nicht verschwenderisch genug gedacht werden kann,
sind die gesammten Töne mit der in ihnen ruhenden
Möglichkeit zu verschiedener Melodie, Harmonie und
Rhythmisirung. Unausgeschöpft und unerschöpflich
waltet vor Allem die Melodie, als Grundgestalt mu-
sikalischer Schönheit; mit tausendfachem Verwandeln,
Umkehren, Verstärken bietet ihr die Harmonie immer
neue Grundlagen; beide vereint, bewegt der Rhyth-
mus, die Pulsader musikalischen Lebens, und färbt
der Reiz mannigfaltiger Klangfarben. Frägt es sich,
was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll,
so lautet die Antwort: „Musikalische Ideen!“
Vortrefflich! aber warum trübt der Verfasser diese
richtige Erkenntniß gleich wieder durch eine überflüs-
sige Konzession an eine falsche Aesthetik? „Die musi-
kalische Idee“, sagt er richtig, „ist selbstständiges
Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder
Mittel oder Material zur Darstellung von Gefühlen
und Gedanken, wenn sie gleich in hohem Grad jene
symbolische, die großen Weltgesetze wieder spiegelnde
Bedeutung besitzen kann, welche wir in jeder Kunst-
sphäre vorfinden“, d. h. welche eine gewisse Aesthetik
darin vorzufinden glaubt. Ueber die Sphärenmusik,
dünkt uns, ist unsere heutige Physik hinaus. Sie
spuckt höchstens noch in den Köpfen derselben Natur-
philosophen, von welchen auch jene Aesthetik herrührt.
Die musikalische Idee braucht keine „Weltgesetze wie-
derzuspiegeln“ um schön zu sein, mit der Metaphysik
hat sie nichts zu schaffen. Die sogenannte „Gedan-
kenmusik“ ist ein musikalisches Unding; die stete Forde-
rung, die Musik solle noch andere als musikalische
„Gedanken“ ausdrücken, baarste Nichtästhetik. Der
Vergleich mit der Arabeske, den der Verfasser S. 33
ausführt, ist darum der treffendste weil er den echten
Reiz, der in den mannigfaltigsten Tonverschlingun-
gen ruht, „schöne Formen ohne den Inhalt eines
bestimmten Affekts“ gleichsam plastisch vor Augen bringt.
„Wenn man die Fülle von Schätzen nicht zu erken-
nen verstand, die im rein Musikalischen lebt, so trägt
die Unterschätzung des Sinnlichen viel Schuld, wel-
cher wir in älteren Aesthetiken zu Gunsten der Moral
und des Gemüths, in Hegel zu Gunsten der „Idee“
begegnen. Jede Kunst geht vom Sinnlichen aus und
webt darin. Die „Gefühlstheorie“ verkennt dies, sie
übersieht das Hören gänzlich und geht unmittelbar
ans Fühlen“. (S. 34.)
Damit will der Verfasser, wie sich von selbst ver-
steht, den bloßen „Ohrenkitzel“ nicht für das Wesen
der musikalischen Schönheit ausgegeben haben. Viel-
mehr erklärt er das „Spezifisch-Musikalische“ eben
so wenig für blos „akustische Schönheit“ oder „pro-
portionale Dimension“, die er beide nur „untergeord-
net“ nennt, sondern „dadurch, daß wir auf musika-
lische Schönheit dringen, haben wir den geistigen Ge-
halt nicht ausgeschlossen, sondern ihn vielmehr be-
dingt.“ Es ist dies einer der Punkte, die am schwie-
rigsten klar zu machen sind, da der Verfasser selbst
sagt, das Reich der Musik „sei nicht von dieser Welt.“
Eben so wenig das einer andern Kunst, die Poesie
ausgenommen, denn stets gewohnt in Worten zu
denken, haben wir keinen Begriff davon, wie man in
Tönen, Farben oder geometrischen Maßen denken
solle. Wir fordern „Geist“ von der Musik wie von
einer andern Kunst und können doch unmöglich mei-
nen, daß darunter ein stofflicher Gedankeninhalt ver-
standen sein soll, weil wir sonst wieder auf das abge-
schmackte gänzlich irrige Vorurtheil zurückkommen würden
das den ästhetischen Werth eines Kunstwerkes von
seinem haec fabula docet abhängig macht. Der
„Geist,“ den wir fordern, kann in der Musik kein
malerischer, in der Malerei kein musikalischer, er kann
einzig und allein nur dem Bereich jeder einzelnen
Kunst in der er sich zeigt, angemessen sein, musikalisch
in der Musik, malerisch in der Malerei, er kann sich
in jener nur in Tonverhältnissen, in dieser in Far-
benverbindungen äußern. Was wir „Geist“ nennen,
und wenn wir das geistvolle vom leeren Kunstwerk
unterscheiden, ist also wesentlich Erfindung,
Sache des Künstlers, Auffindung neuer Motive und
Tonverbindungen in der Musik, als solche aber un-
berechenbar und außerhalb der Aesthetik gelegen, in
das reinpsychologische Gebiet gehörend. „Unerforsch-
lich“, sagt der Verfasser sehr wahr, „ist der Künstler,
erforschlich das Kunstwerk.“ Die Aesthetik hat es
nur mit diesem letzteren zu thun. An ihm zeigen
sich die Verhältnisse, die gefallen oder mißfallen, schön
oder häßlich sind; wie der Künstler dazugekommen,
gerade diese Verhältnisse zu erfinden und zu ver-
binden, ist sein Geheimniß, macht die Geschichte
des Kunstwerkes aus, ist biographisch-psychologischer
Natur und bleibt uns in den allermeisten Fällen,
in vielen dem Künstler selbst ein psychologisches Räthsel.
„Der wissenschaftlichen Untersuchung über die Wir-
kung eines Themas“, sagt der Verfasser, „liegen nur
jene musikalischen Faktoren unwandelbar und
objektiv vor, niemals die vermuthliche Stimmung,
welche den Komponisten dabei erfüllte. Die leiden-
schaftliche Einwirkung eines Themas liegt nicht in
dem vermeintlich übermäßigen Schmerz des Kompo-
nisten, sondern in dessen übermäßigen Intervallen,
nicht in dem Zittern seiner Seele, sondern im Tre-
molo der Pauken, nicht in seiner Sehnsucht, sondern
in der Chromatik.“ S. 38.
3
Daß man ja nicht befürchte, über dem streng ob-
jektiven Charakter des Musikalischen als reiner Ton-
verhältnisse gehe der subjektive Antheil der Persön-
lichkeit des Komponisten verloren. Im Gegentheil,
wo der Geist der Musik in der Erfindung, aber
nur in musikalischer Erfindung liegt, da hat die
Subjektivität des Künstlers in der Eigenthüm-
lichkeit seiner Erfindung mehr als hinreichenden
Spielraum. Aber „was die Halévy’sche Musik bizarr,
die Auber’sche graziös macht, was die Eigenthüm-
lichkeit bewirkt, an der wir sogleich Mendelsohn,
Spohr erkennen, dies Alles läßt sich auf rein
musikalische Bestimmungen zurückführen, ohne
Berufung auf das räthselhafte Gefühl. Warum die
häufigen Quintsextakkorde, die engen diatonischen
Themen bei Mendelssohn, die Chromatik und
Enharmonik bei Spohr, die kurzen zweitheiligen
Rhythmen bei Auber u. s. w. gerade diesen be-
stimmten unvermischbaren Eindruck erzeugen, dies
kann freilich weder die Psychologie noch die Physio-
logie beantworten. „Man muß sich eben daran gewöh-
nen, was der Laie so ungern thut, daß bei der Mu-
sik nicht erst „Uebersetzung eines bestimmten Inhalts
in Töne“ stattfinde, es ist eben Original — Ton-
schönes und nur Tonschönes, was uns vorliegt.
„Die Erforschung der Natur jedes einzelnen musi-
kalischen Elements, seines Zusammenhanges mit einem
bestimmten Eindruck (— nur der Thatsache, nicht
des letzten Grundes —) endlich die Zurückführung
dieser speziellen Beobachtungen auf allgemeine Ge-
setze: das wäre jene „philosophische Begründung der
Musik,“ welche so viele Autoren ersehnen, ohne uns
nebenbei mitzutheilen, was sie darunter eigentlich
verstehen. Die psychische und physische Einwirkung je-
des Akkords, jedes Rhythmus, jedes Intervalls wird
aber nimmermehr erklärt, indem man sagt: dieser
ist Roth, jener Grün, oder dieser Hoffnung, jener
Mißmuth, sondern nur durch Subsummirung der spe-
zifisch musikalischen Eigenschaften unter allgemeine
ästhetische Kategorien und dieser unter Ein oberstes
Prinzip. Wären dergestalt die einzelnen Faktoren in
ihrer Isolirung erklärt, so müßte weiter gezeigt wer-
den, wie sie einander in den verschiedensten Kombi-
nationen bestimmen und modifiziren“ . . . (S. 40.)
Eine solche musikalische Aesthetik auf dem Boden
der Erfahrung wird freilich lange noch auf sich war-
ten lassen. Welche bestimmten Tonverhältnisse unbe-
dingt gefallen und mißfallen anzugeben, ist allerdings
schwerer und erfordert mehr Zeit und Kenntniß, als
in allgemeinen Phrasen das Wesen der Musik in
das dumpfe Weben des Genius“ zu setzen oder sie
mit Hegel als die vorzugsweise „romantische“
Kunst zu bezeichnen, die „in ihrer Objektivität zu-
gleich subjektiv bleibt.“ Das Musikschöne an sich ist
weder „klassisch“ noch „romantisch,“ wie der Ver-
fasser sehr richtig bemerkt, „es gilt sowohl in der
einen wie in der andern Richtung, beherrscht Bach
so gut als Beethoven, Mozart so gut als
Schumann.“ Der Unterschied zwischen klassischer
und romantischer Musik ist vielmehr anderswo zu
suchen, gerade dort, wo auch der Unterschied zwischen
reiner und gemischter, ästhetischer und pathologischer
Schönheit, intellektueler Betrachtung und sinnlichem
Reizinteresse zur Sprache kommt.
Der keineswegs zufällige, aber rein historische
Umstand, daß die Musik erst im spätern Mittelalter
und in der neuern Zeit zur Vollendung kam, darf
die ästhetische Bestimmung ihres Begriffes nicht
trüben. Der Verfasser bemerkt trefflich, daß „ein sol-
ches Parallelisiren künstlerischer Spezialitäten (und
ganzer Kunstgattungen) mit bestimmten historischen
Zuständen ein kunstgeschichtlicher, keineswegs
ein rein ästhetischer Vorgang“ sei. „Mag der Hi-
storiker,“ sagt er, „eine künstlerische Erscheinung im
Ganzen und Großen auffassen, in Spontini den
„Ausdruck des französischen Kaiserreichs“, in Ros-
sini die „politische Restauration“ erblicken — der
Aesthetiker hat sich lediglich an die Werke die-
ser Männer zu halten, zu untersuchen, was daran
schön sei und warum?“ Wir empfehlen diese Stelle
unsern modernen Kritikern; sie werden daraus ler-
nen, daß die Anwendung jenes „kunsthistorischen“
statt des „ästhetischen“ Prinzips leicht zur „Karrika-
tur“ werden kann; daß man leicht in Gefahr geräth,
„den losesten Einfluß der Gleichzeitigkeit als eine innere
Nothwendigkeit darzustellen“ und „daß es rein auf
die schlagfertige Durchführung desselben Paradoxens
ankommt, daß es im Munde eines geistreichen Man-
nes eine Weisheit, in jenem des schlichten ein Un-
sinn erscheine.“
Referent hat obige Stelle mit wahrer Befriedigung
gelesen. Er hat selbst bei einer andern Gelegenheit,
(„Oesterr. Bl. für Lit. und Kunst, 1854, Nr. 6. Ueber
spek. Aesthetik und Kritik), der sich spekulativ nen-
nenden Kritik die ewige Wahrheit vorgehalten, daß
„historisches Begreifen“ und „ästhetisches Beurthei-
len“ verschiedene Dinge sind. Mit wahrer Freude
begegnet Referent S. 46 der Wiederholung sei-
nes damaligen Ausspruchs. „Heroismus“ nennt es
der scharfsinnige Verfasser „einer geistreich und pikant
repräsentirten Richtung entgegenzutreten und auszu-
sprechen, daß das „historische Begreifen“ und das
„ästhetische Beurtheilen verschiedene Dinge sind.“
Schlimm genug, daß es so weit gekommen ist, daß
dazu „Heroismus“ gehört! Man sollte denken, an
sich wäre nichts einfacher einzusehen. Hier wie überall,
wo es moderne Begriffsverwirrung gibt, trifft Hegel
die erste und schwerste Schuld. „Er hat in Bespre-
chung der Tonkunst oft irregeführt, indem er seinen
vorwiegend kunstgeschichtlichen Standpunkt
unmeßlich mit dem rein ästhetischen verwechselt und in
der Musik Bestimmtheiten nachweist, die sie niemals
hatte.“ (S. 46.) Dies Geständniß eines Musikers
überhebt uns jeder Bemerkung.
Wir eilen mit unserer Anzeige zum Schlusse. Der
Verfasser legt konsequent der Musik einen streng „ob-
jektiven Charakter“ bei und nennt die Thätigkeit des
Komponisten „plastisch“ wie die des bildenden Künst-
lers. Das Schwatzen von „subjektiver Herrlichkeit“
hat damit ein Ende. „In’s Extrem gesteigert, läßt
sich wohl eine Musik denken, die blos Musik, aber
keine, die blos Gefühl wäre“ S. 55. Dabei verkennt
er den ungeheuern Antheil nicht, den physiologische
Bedingungen am Eindruck der Musik haben. Eine
Stelle in Goethes Briefwechsel mit Zelter be-
weist, wie nervöse Aufregung übergroße Empfäng-
lichkeit für Musik erzeugt. „Derlei Beobachtungen“,
heißt es S. 60, „müssen uns aufmerksam machen, daß
in den musikalischen Wirkungen auf das Gefühl ein
fremdes, nicht rein ästhetisches Element mit im Spiele
sei. Eine rein ästhetische Wirkung wendet sich an die
volle Gesundheit des Nervenlebens und zählt auf kein
krankhaftes Mehr oder Weniger desselben.“
Der Verfasser hat die Bedingungen des subjektiven
Eindrucks der Musik mit großer Genauigkeit analy-
sirt, freilich nur um zu dem Resultat zu gelangen,
daß wir, wenn wir einmal alles eingebildete Wissen
von uns werfen, über die physiologischen Bedingun-
gen des Musikeindrucks bisher gar nichts wissen. Diese
negative Erkenntniß bewahrt uns wenigstens für
künftig vor groben Täuschungen. Daran knüpft sich
ohne Anstand die Unterscheidung der rein ästhetischen
von der pathologischen Wirkung der Tonkunst. Jene
ist rein künstlerisch, diese elementar, jene nimmt die
bestimmte Anschauung gerade dieses individuell beson-
deren Tonwerkes in sich auf; diese ist zufrieden, wenn
nur überhaupt Musik gemacht wird, gleichviel welche.“
Mit der Betrachtung des Verhältnisses der Musik
zur Natur und der wichtigeren Frage: Hat die Musik
einen Inhalt? beschließt der Verfasser die Reihe sei-
ner geistreichen und anregenden Erörterungen. In
der erstern fällt er den richtigen Ausspruch: Es gibt
kein Naturschönes für die Musik! Die Natur kennt
nur Klänge, keine Töne. In Bezug auf Letztere
unterscheidet er richtig zwischen Inhalt und Gegen-
stand. Den Ersteren hat die Musik, nemlich die Töne;
einen eigentlichen Gegenstand aber hat sie nicht. Wun-
derbarerweise sind es gerade die Musiker, die für den
Inhalt d. i. für einen bestimmten Gegenstand der
Musik streiten. „Der Gegenstand des Musikstücks ist
sein Thema. Ein solches läßt sich wohl dem ganzen
Tonwerk wie Inhalt der Form entgegenstellen,
ist aber selbst schon geformt. Einen musikalischen
Inhalt ohne alle Form gibt es nicht.“ Der Verfasser
zeigt trefflich, wie die Musik weil inhaltlos, darum
nicht gehaltlos sei. Ihr Gehalt liegt in der „be-
stimmten Tongestaltung als der freien Schöpfung des
Geistes aus geistfähigem begrifflosem Material.“
(S. 104.)
Gern möchten wir hier abschließen und dem Ver-
fasser für den Genuß, den uns sein scharfsinniges,
gedankenreiches und geistreich geschriebenes Buch ge-
spendet hat, herzlich danken, wenn uns der Schluß
nicht noch zu einer kleinen Rüge veranlaßte. Je ent-
schiedener die Schrift auf gesonderte Geltung des rein
Musikalisch-Schönen dringt, desto mehr hätte ihr Ver-
fasser auch jeden Schein vermeiden sollen, sich selbst zu
widersprechen. Warum sagt er doch schließlich: „dem
Hörer wirkt die Musik nicht blos und absolut durch ihre
eigenste Schönheit, sondern zugleich als tönendes
Abbild der großen Bewegungen im Weltall?“ Durch
tiefe und geheime Naturbeziehungen steigert sich die
Bedeutung der Töne hoch über sie selbst hinaus und
läßt uns in dem Werke menschlichen Talents immer
zugleich das Unendliche fühlen.“ Ja wohl sind diese
Naturbeziehungen „geheim“, denn sind sie denn über-
haupt? Welche Bewegungen im Weltall sollen denn
wiederklingen in der Musik? Etwa die der Himmels-
körper? Wäre die Musik eine tönende Astronomie?
Und hätte denn nicht die Musik in der That ein
Vorbild in der Natur, was doch vorher geleugnet
worden? Warum hebt der Verfasser den Hauptsatz
seiner Schrift: das Musikalisch-Schöne gefällt durch
sich selbst, diese goldene Wahrheit am Schluß dadurch
auf, daß es als „tönendes Abbild der Bewegungen
im Weltall“ gefallen soll? Mich dünkt, hier hat der
Verfasser sich unwillkürlich durch Reminiscenzen der-
selben Aesthetik überraschen lassen, die er sonst so
schlagend und siegreich bekämpft.
Doch genug der Fragen, wo wir fest überzeugt sind,
daß sie der Verfasser in unserem Sinne beantworten
würde. Wir scheiden von seinem Buch mit der innigen
Ueberzeugung, daß es eine Lücke ausfüllt, in der Literatur
der Aesthetik und wissen dem Verfasser nichts Besseres
zu wünschen, als daß es ihm bald vergönnt sein möge,
das Ideal der musikalischen Aesthetik, das er mit so
sichern Strichen zu zeichnen weiß, im Zusammenhang
auszuführen. Fügen wir noch hinzu, daß die Aus-
stattung seiner Schrift eben so empfehlend ist, als
sein Styl anmuthvoll und lebendig, so dürfen wir
zu den Lesern, Musikern und Laien getrost sagen:
Wir haben das Unsere gethan, thun Sie das Ihre!
Prag im Oktober 1854.
Professor Dr. Robert Zimmermann.