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Blätter für literarische Unterhaltung. Nr. 15. 12. April 1855.

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Zur musikalischen Literatur.


Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der
Aesthetik der Tonkunst. Von Eduard Hanslick. Leipzig,
R. Weigel. 1854. Gr. 8. 15 Ngr.


Die Relativität der Musik hat von jeher den Leuten viel
Kopfzerbrechens gemacht; die Unfaßbarkeit des Materials einer-
seits und die Unfähigkeit zur begrifflichen Bestimmtheit anderer-
seits haben in der Tonkunst einem bloßen Symbolisiren und
traumdeuterischen Construiren Thür und Thor geöffnet, und
die Anforderungen an die Wirkung und Möglichkeit des durch
Töne Darzustellenden sind über alle Beschreibung widersprechend
und von keiner Norm gebändigt. Ein Theil der Componisten
will z. B. dem Mangel an Concretion unter die Arme greifen
und sagt: man muß beim Produciren immer eine bestimmte
Situation vor Augen haben, die man in Tönen abschildern
soll; oder anders ausgedrückt: man muß von einem außer der
Tonkunst Liegenden ausgehen und die Erscheinungswelt zum
Ausgang seines Schaffens machen. Andere wieder verdammen
dieses Verfahren als materialistisch und grobsinnlich; sie flüch-
ten sich in die Welt der Ahnungen und Träume, huldigen
einer transcendenten und spiritualistischen Richtung und hüllen
sich in einen Schleier von Gemüthsmysticismus und grauem
Weltschmerz. Eine dritte Partei erhebt das blos äußerlich Ge-
fällige und sinnlich Reizende aufs Schild und verlacht alle Be-
strebungen, die nicht auf den reinen Effect hinzielen.


Das Verhältniß des Genießenden gegenüber dem musikali-
schen Kunstwerk gestaltet sich nun natürlich ebenso vielfältig zer-
splittert und zerspalten: ein Theil der Hörer hat nur Sinn für
das Descriptive; er freut sich kindisch über das wohlnachgeahmte
Rauschen der Meereswogen, das Flöten der Nachtigall und
überhaupt über die gelungene Schilderung dieses oder jenes
Naturereignisses, das ihm im Programm verheißen worden.
Wieder eine Masse zermartert sich mit Hineintragungen in das
Gehörte und mit geistreichen Hypothesen über Das, was wol
der Componist im Allgemeinen und Besondern hat ausdrücken
wollen, und so geht es fort in unendlichen Schattirungen
und Begriffsverwirrungen. Das eigentliche Musikalisch-Schöne
ist bei diesem geistigen und materiellen Experimentiren immer
am schlechtesten weggekommen; man hat über die Verkörpe-
rungs- und Veranschaulichungsfrage der Schönheit diese letztere
selbst fast immer vernachlässigt, und unsere Aesthetiken decla-
miren zwar viel über die Schönheit an sich, aber die musika-3

lische Schönheit wird mehr oder weniger mit der Schönheit in
den andern Künsten zusammengeworfen. Zwar gibt es nur
eine Schönheit und unter deren Joch müssen sich alle Künste
beugen; aber es gibt auch Schönheiten, die durch das Material
jeder einzelnen Kunst bedingt sind und deren Zusammenfluß
und Vereinigung, je nach den Gesetzen der jeder Kunst eignenden
speciellen Darstellbarkeit, der Ausgangs- und Zielpunkt für den
schönen Inhalt sein muß. Der Verfasser des obengenannten
Werks zieht nun gegen die bisjetzt gang und gäbe gewesene
Ansicht zu Felde: daß neben dem Zweck und der Bestimmung
die musikalische Kunst auch ihren Inhalt in der Darstellung
„schöner Gefühle“ suchen müsse. Er setzt sehr scharfsinnig aus-
einander, daß die ältern Schriftsteller über Musik den Unter-
schied zwischen Gefühl und Empfindung nicht festgehalten und
beide Begriffe in einem fort verwechselt haben; dann weist er
nach, daß nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als die
Thätigkeit des reinen Schauens, das Organ sei, mit dem das
Schöne aufgenommen werde. Unter Anderm sagt er in dieser
Beziehung: „Aus der Phantasie des Künstlers entsteigt das
Tonstück für die Phantasie des Hörers. Freilich ist die Phan-
tasie gegenüber dem Schönen nicht blos ein Schauen, sondern
ein Schauen mit Verstand, d. i. Vorstellen und Urtheilen,
letzteres natürlich mit solcher Schnelligkeit, daß die einzelnen
Vorgänge uns gar nicht zum Bewußtsein kommen und die
Täuschung entsteht, es geschehe unmittelbar, was doch in Wahr-
heit von vielfach vermittelnden Geistesprocessen abhängt.“ Ueber
die Haltlosigkeit der bloßen Gefühlsbasis bei musikalischen Kunst-
werken ist wol folgende Stelle hervorzuheben: „Jede Zeit und
Gesittung bringt ein verschiedenes Hören, ein verschiedenes
Fühlen mit sich. Die Musik bleibt dieselbe; allein es wechselt
ihre Wirkung mit dem wechselnden Standpunkt conventioneller
Befangenheit.“


Im zweiten Capitel leugnet der Verfasser geradezu, daß
die Tonkunst Gefühle oder Affecte aus eigenstem Vermögen
darstellen könne, indem „die Bestimmtheit der Gefühle von
concreten Vorstellungen und Begriffen nicht getrennt werden
kann, welche letztere außer dem Gestaltungsbereich der Musik
liegen“. „Die Musik kann von den Gefühlen nur das Dy-
namische darstellen. Sie vermag die Bewegung eines psychischen
Vorgangs nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach,
steigernd, fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine 
Eigenschaft, ein Moment des Gefühls, nicht dieses selbst.“ Es
ist dieses Capitel überhaupt jener in unserer Einleitung ange-
führten Partei von somnambülen Musikern sehr zum Studium
anzuempfehlen; vielleicht lernen sie daraus, daß die subjective
Verhimmelung und zugespitzteste Empfindelei beileibe nicht End-
zweck der Musik sei; ebenso können die Materialisten und ewig
nach Concretion Strebenden daraus ersehen, daß sie über ein
bloßes Symbolisiren doch nicht hinauskommen und ewig der
Relativität wieder in die Hände fallen müssen. Das bisherige
negative Verfahren vertauscht nun der Verfasser im dritten
Capitel mit einem positiven und stellt die Natur des Musika-
lisch-Schönen als ein specifisch Musikalisches hin. Er versteht
darunter ein Schönes, das, „unbedürftig und unabhängig eines
von außen her kommenden Inhalts, einzig in den Tönen und
ihrer künstlerischen Verbindung liegt“. Es ist dieses Capitel
wol der Cardinalpunkt des ganzen Buchs und am meisten ge-
eignet, darüber aufzuklären, was die musikalische Kunst eigent-
lich bieten soll und kann, und widerlegt am siegendsten und
methodischsten die verrotteten Vorurtheile und nebulosen An-
sichten, die in den musikalischen Ansichten noch ihr Wesen
treiben. Hier finden Die ihre schärfste Züchtigung, die hinter
jeder etwas ungewöhnlichen Accordverbindung oder Melodie-
wendung gleich die sublimsten Motive in der Seele des Com-
positeurs wittern, die jede Scurrilität und Unform mit geist-
reichen Wendungen vertheidigen und plausibel machen, und die,
weil sie nicht richtig musikalisch hören können, zu allerhand
außermusikalischen Hülfsmitteln greifen, um nur ihre dialektische
Escamotage nicht aufgeben zu müssen.



Einige Stellen über das rein Musikalisch-Schöne mögen hier
noch Platz finden. „Wenn man die Fülle von Schönheit nicht zu
erkennen verstand, die im rein Musikalischen lebt, so trägt die Un-
terschätzung des Sinnlichen viel Schuld, welcher wir in ältern
Aesthetiken zu Gunsten der Moral und des Gemüths, in Hegel zu
Gunsten der «Idee» begegnen. Jede Kunst geht vom Sinnlichen
aus und webt darin. Die «Gefühlstheorie» verkennt dies, sie
übersieht das Hören gänzlich und geht unmittelbar ans Fühlen.
Die Musik schaffe für das Herz, meinen sie, das Ohr aber sei
ein triviales Ding; — ja, was sie eben Ohr nennen; — für
das «Labyrinth» oder die «Eustachische Trompete» dichtet kein
Beethoven. Aber die Phantasie, die auf Gehörempfindungen
organisirt ist und welcher der Sinn etwas ganz Anderes be-
deutet als ein bloßer Trichter an der Oberfläche der Erschei-
nungen, sie genießt in bewußter Sinnlichkeit die klingenden
Figuren, die sich aufbauenden Töne und lebt frei unmittelbar
in deren Anschauung.“ — „Ein bestimmter musikalischer Ge-
danke ist ohne weiteres durch sich geistvoll, der andere gemein.
Mit voller Richtigkeit bezeichnen wir ein musikalisches Thema
als großartig, graziös, innig, geistlos, trivial u. s. w.; all
diese Ausdrücke bezeichnen aber den musikalischen Charakter der
Stelle.“ — „Was unterscheidet eine Beethoven’sche Symphonie
von einer Verdi’schen Musik? Etwa, daß die eine höhere Ge-
fühle oder dieselben Gefühle richtiger darstellt? Nein, sondern
daß sie schönere Tonformen bildet.“


Von den noch übrigen vier Capiteln wollen wir blos noch
die Ueberschriften geben, da es nicht in der Absicht dieser kurzen
Besprechung liegen kann, dem Verfasser in alle Abzweigungen
seiner Abhandlungen Schritt für Schritt zu folgen; zudem sind
diese vier letzten Capitel gleichsam nur ausgeführtere Erläute-
rungen der drei erstern und kommen nach verschiedenen Ab-
schweifungen in verschiedene Gebiete doch immer wieder auf
das specifisch Musikalische und auf das Verwerfen der Ge-
fühlsästhetik zurück. Die Ueberschriften lauten also: „Analyse
des subjectiven Eindrucks der Musik“; „Das ästhetische Auf-
nehmen der Musik, gegenüber dem pathologischen“; „Die Be-
ziehungen der Tonkunst zur Natur“; „Die Begriffe Inhalt und
Form in der Musik“.


Zum Schluß können wir nicht anders, als den lebhaften
Wunsch ausdrücken: das vorliegende Buch möge von Vie-
len, Musikern und Kunstfreunden, recht aufmerksam gelesen
werden, damit doch endlich einmal die vage Begriffslosigkeit
und das Umhertappen im Nebel bei der Beurtheilung musika-
lischer Kunstwerke aufhöre. Vom Verfasser scheiden wir mit
der dankbarsten Anerkennung und Hochachtung für Das, was
er ausgesprochen, und für die Art, wie er es ausgesprochen
hat, und hoffen, daß er es nicht bei dem bloßen „Zutragen
einiger Grundsteine“ — wie er in seiner Vorrede sagt — be-
wenden lassen, sondern daß er bis zur Vollendung des musika-
lisch-ästhetischen Neubaus nicht aufhören wird, Hand und
Auge dem Werke fortwährend zu schenken.