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Aesthetik.
Von großer Bedeutung, weil eine bedenkliche Lücke in der Wissenschaft
des Schönen ausfüllend, ist folgende Schrift:
Hanslick, Dr. Eduard, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur
Revision der Aesthetik der Tonkunst. Leipzig, 1854. R. Weigel. 2 Fr.
Als den Hauptgewinn dieser Schrift möchten wir vor Allem die scharfe,
gründliche Kritik der bisherigen Auffassung der Musik als der „Sprache des
Gefühls“ bezeichnen. Es ist wirklich fabelhaft, wenn man bedenkt, daß die
gesammte ästhetische Literatur über die Tonkunst, von dem alten Matheson an
bis auf die neuesten Aesthetiker dieses Gebiets (Vischer läßt, wie bekannt, seit
1854 auf die Fortsetzung seiner Aesthetik warten, die bis zum Abschnitte
„Musik“ vollendet ist), dieser Kunstgattung einen Charakter zuschreibt, der
ihr von vorneherein jede Bedeutung einer selbstständigen, von der Reflexion
auf die subjektive Empfindung des Menschen unabhängigen Kunst nimmt.
Diese Begriffsverwirrung räumt nun Hanslick mit einer Schärfe der Beweis-
führung und Klarheit der Darstellung so gründlich auf, daß er hiebei an
Lessing’s unsterbliche Herkulesarbeit erinnert, der die gleiche konfuse Vermen-
gung von Malerei und Poesie in seinem Laokoon in bekannter Weise beseitigt
hat. Mit unumstößlicher Sicherheit weist Hanslick nach, daß die Musik wie
jede andere Kunst ihre eigenen Gesetze, ihren eigenen, konkreten Inhalt besitzt,
während das Anklammern an die „Empfindungen“ in den bisherigen Erklä-
rungen nur beweist, daß man den eigentlichen, selbstständigen Inhalt der
Musik sich nicht klar und bestimmt ins Bewußtsein brachte. Allerdings hat
die Musik eine außerordentliche Wirkung auf das Gemüth des Menschen, aber
nicht nur die Musik, sondern jede Kunst, selbst die spröde Skulptur und noch
sprödere Architektur nicht ausgenommen. Diese Beziehung auf die menschliche
Empfindung ist aber etwas außerhalb der Musik Liegendes, ist nicht ihr Wesen
und Inhalt. Diese Wahrheit der bisherigen Begriffsverwirrung gegenüber
in so eindringlicher Weise aufgestellt zu haben, ist wohl das Hauptverdienst
des Schriftchens, da damit der Schwerpunkt für die Aesthetik der Musik ge-
funden ist.
So scharfsinnig die Aufstellung des Grundgedankens, so brillant und
geistvoll ist die Durchführung desselben, wobei Hanslick immer der charakteri-
stische Ausdruck, das passendste Bild zu Gebote steht; so z. B. wenn er als
einen Beweis seines Satzes anführt, „daß es dem gebildeten Musiker eine
ungleich deutlichere Vorstellung von dem Ausdruck eines ihm fremden Ton-
stücks gibt, daß z. B. zu viel verminderte Septakkorde und Tremolo darin
seien, als die poetischeste Schilderung der Gefühlskrisen, welche der Referent
dabei durchgemacht.“
Vortrefflich sind auch die Worte, welche Hanslick über die Annahme der
meisten Tonkunstgelehrten ausspricht, daß die Harmonie und die contrapunk-
tische Begleitung eine vorzügliche Bedeutung für den sogenannten geistigen
Gehalt einer Komposition besitzen sollen. „Man setzte die Melodie,“ sagt
Hanslick, „als Eingebung des Genies, als Trägerin der Sinnlichkeit und des
Gefühls (bei dieser Gelegenheit erhielten die Italiener ein gnädiges Lob), im
Gegensatz zur Melodie wurde die Harmonie als Trägerin des gediegenen
Gehalts aufgeführt, als erlernbar und Produkt des Nachdenkens. Es ist
seltsam, wie lange man sich mit einer so dürftigen Anschauungsweise zufrieden
stellen konnte. Beiden Behauptungen liegt ein Richtiges zu Grunde; doch
gelten sie weder in dieser Allgemeinheit noch kommen sie in solcher Isolirung
vor. Der Geist ist Eins und die musikalische Erfindung eines Künstlers eben-
falls. Melodie und Harmonie eines Themas entspringen zugleich in einer
Rüstung aus dem Haupt des Tondichters. Weder das Gesetz der Unterord-
nung noch des Gegensatzes trifft das Wesen des Verhältnisses der Harmonie
zur Melodie.“ (Wir möchten hier einschalten, daß auch die Poesie den ganz
gleichen Vorgang aufzuweisen hat. Man hat nicht einen sogenannten poeti-
schen Gedanken und sucht für diesen nachträglich das passende Versmaß, son-
dern das poetische Motiv entspringt eben im Verse, von dem dann hintendrein
die Aesthetiker die Zweckmäßigkeit und Uebereinstimmung desselben mit dem
Charakter des Gedichtes z. B. nachzuweisen bemüht sind. Die Poeten studiren
darüber nicht einen Augenblick nach. Fehlt aber diese Uebereinstimmung, so
kann der beste Gedanke oder die reinste Form das Gedicht nicht gut machen.
Beide sind aber eben so gut ursprünglich schon Eins, als das neugeborne Kind
Leib und Seele zu gleicher Zeit ist.) Doch, lassen wir Hanslick fortsprechen:
„Beide können hier gleichzeitige Entfaltungskraft ausüben, dort sich einander
freiwillig unterordnen, — in dem einen wie in dem andern Fall kann die
höchste geistige Schönheit erreicht werden. Ist’s etwa die (ganz fehlende)
Harmonie in den Hauptmotiven zu Beethoven’s Coriolan- und Mendelssohn’s
Hebriden-Ouvertüre, was ihnen den Ausdruck gedankenvollen Tiefsinns ver-
leiht? Wird man Rossini’s Thema „o Mathilde“ oder ein neapolitanisches
Volkslied mit mehr Geist erfüllen, wenn man einen basso continuo oder kom-
plizirte Akkordenfolgen an die Stellen des nothdürftigen Harmoniegeländes
setzt? Diese Melodie mußte mit dieser Harmonie zugleich erdacht werden,
mit diesem Rhythmus und dieser Klanggattung. Der geistige Gehalt kommt
nur dem Verein Aller zu und die Verstümmelung Eines Gliedes verletzt auch
den Ausdruck der übrigen. Das Vorherrschen der Melodie oder Harmonie
oder des Rhythmus kommt dem Ganzen zu gute, und hier allen Geist in den
Akkorden, dort alle Trivialität in deren Mangel zu finden, ist baare Schul-
meisterei. Die Camellie kommt duftlos zu Tage, die Lilie farblos, die Rose
prangt für beide Sinne — das läßt sich nicht übertragen und ist doch jede von
ihnen schön. — — Nur dies macht eine Musik gut oder schlecht, daß ein
Komponist ein geistsprühendes Thema einsetzt, der andere ein bornirtes, daß
der Erstere nach allen Beziehungen immer neu und bedeutend entwickelt, der
Letztere seines wo möglich immer schlechter macht, die Harmonie des einen
wechselvoll und originell sich entfaltet, während die zweite vor Armuth nicht
vom Flecke kommt, der Rhythmus hier ein lebenswarm hüpfender Puls ist,
dort ein Zapfenstreich. — — In der Tonkunst gibt’s keine Intention in dem
beliebten technischen Sinne. Was nicht zur Erscheinung kommt, ist in der
Musik überhaupt nicht da, was aber zur Erscheinung gekommen ist, hat auf-
gehört, bloße Intention zu sein. Der Ausspruch: „Er hat Intentionen“,
wird meist in lobender Absicht angewandt, — mir däucht er eher ein Tadel,
welcher in trocknes Deutsch übersetzt etwa lauten würde: Der Künstler möchte
wohl, jedoch kann er nicht!“
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Statt der geistigen Intention, der sogenannten Idee und des Gefühls
wird als der konkrete Inhalt eines Musikstücks die harmonisch und rhythmisch
bewegte Melodie und als Organ, aus welchem und für welches das Musika-
lisch-Schöne wie das Kunstschöne überhaupt entsteht, die Phantasie und eben-
falls nicht die Empfindung hingestellt. Ein besonderer Abschnitt ist der Zer-
gliederung des subjektiven Eindrucks der Musik bestimmt und dem Gefühle in
der Musik wie in den andern Künsten seine natürliche Stellung angewiesen
als eine Stimmung, aber nicht als der eigentlich schaffende Faktor, indem
nicht sowohl ein inneres Fühlen als vielmehr ein inneres Singen den musika-
lisch Begabten zur Erfindung eines Tonstücks treibt. Dieser Abschnitt (4)
enthält eine prächtige Kritik des sogenannten Gefühlsinhalts der Musik und
Hanslick wendet auf diese Gefühlswirkung der Musik mit treffenden Witz das
Urtheil eines der berühmtesten Naturforscher über die Goldberger’schen Ketten
an, der sagte: es sei nicht ausgemacht, ob ein elektrischer Strom gewisse
Krankheiten zu heilen vermöge, — das aber sei ausgemacht, daß die Gold-
berger’schen Ketten keinen elektrischen Strom zu erzeugen im Stande sind.
„Auf unsere Tondoktoren angewandt, heißt dies: Es ist möglich, daß be-
stimmte Gemüthszustände eine glückliche Krisis in leiblichen Krankheiten her-
beiführen, — allein es ist nicht möglich, durch Musik beliebige bestimmte
Gemüthsaffekte herbeizuführen.“
Vortrefflich ist auch Abschnitt 5, der über das ästhetische Anschauen der
Musik gegenüber dem pathologischen handelt, wobei Hanslick mit vollstem
Rechte hervorhebt, daß das Gefühlsschwelgen meist Sache jener Hörer ist,
welche für jede künstlerische Auffassung des Musikalisch-Schönen keine Aus-
bildung besitzen. Je bedeutender das ästhetische Moment im Hörer, desto mehr
nivellirt es das bloß elementarische. Daraus erklärt sich uns auch jenes Miß-
behagen, das wir beim Anblick solcher Leute empfinden, die beim Anhören
eines Tonwerks in ihrem eigenen Entzücken schwimmen, wie ein Stockfisch in
einer Buttersauce, und die in bewußtlosem Taumel einen wahren Kartätschen-
hagel von Superlativen losschießen, in dem es von: superb, himmlisch,
magnific, kolossal etc. etc. wimmelt. Nur zu oft ist es das rein Elementarische
der Musik, der bloße Klang, der unendlich oft mit der künstlerischen Schönheit
derselben verwechselt wird.
Anknüpfend an die durch und durch kernige Polemik gegen die Beurthei-
lung der Musik nach ihrer elementarischen Wirkung, bespricht Hanslick in Ab-
schnitt 6 das Verhältniß der Musik zur Natur und weist hier auf’s klarste
nach, daß Melodie und Harmonie, das geordnete Nacheinanderfolgen meß-
barer Töne, d. h. das, was die Musik zur Musik macht, in der Natur auch
nicht in den dürftigsten Anfängen gefunden wird, indem die successiven Schall-
erscheinungen in der Natur der verständlichen Proportion entbehren und sich
der Reduktion auf unsere Skala entziehen. Die Musik ist somit eine Schöpfung
des Menschengeistes, so gut als die Sprache, indem beide nicht in der äußern
Natur vorgebildet liegen, sondern unerschaffen sind und erlernt werden müssen.
Der Volksgesang ist so gut ein Produkt der Kultur als eine Symphonie.
„Die Erfahrung, daß selbst Naturalisten heutzutage mit den musikalischen
Verhältnissen unbewußt und leicht hanthiren wie mit angebornen Kräften, die
sich von selbst verstehen, stempelt die herrschenden Tongesetze keineswegs zu
Naturgesetzen; es ist dies bereits Folge der unendlich verbreiteten musikalischen
Kultur, weßhalb auch unsere kleinen Kinder schon besser singen als erwachsene
Wilde. Lage die Tonfolge der Musik in der Natur fertig vor, so sänge auch
jeder Mensch und immer rein.“ Und: „Die Natur gibt uns nicht den künst-
lerischen Stoff eines fertigen, vorgebildeten Tonsystems, sondern nur das
rohe Material der Körper, die wir der Musik dienstbar machen. Nicht die
Stimme der Thiere, sondern ihre Gedärme sind uns wichtig, und das Thier,
dem die Musik am meisten verdankt, ist nicht die Nachtigall, sondern das Schaf.“
Der Schlußabschnitt behandelt in gleich gediegener und geistvoller Weise
die Frage über die Begriffe „Inhalt und Form“ in der Musik, deren Resultat
allein darin bestehen konnte, daß Inhalt und Form in der Musik wie in den
Künsten überhaupt sich nicht trennen lassen. Der Tonkünstler übersetzt nicht
einen gedachten Stoff in Töne, indem die Töne selbst die unübersetzbare Ur-
sprache sind. Gerade beim Thema, das gewöhnlich als der Inhalt eines Ton-
werks bezeichnet wird, läßt sich Form und Inhalt gar nicht trennen. Das
Thema läßt sich nicht als quasi geistiger Inhalt in Begriffen aussprechen, son-
dern wenn man es kennen lernen will, muß man sich das Motiv selbst vor-
spielen lassen. Jede Melodie, die in einem Tonwerke ausgeführt werden
soll, erhält dadurch nicht erst Form, sondern ist schon von vorneherein ge-
formter Gedanke.
Wir glauben in den gegebenen Auszügen den Hauptinhalt dieser höchst
gediegenen Schrift angedeutet zu haben, wissen aber zugleich, daß die ganz
klare, vollständige Ausführung dieser eben so wahren und wissenschaftlich fest-
begründeten als originellen Gedanken nur von der Lektüre des trefflichen
Schriftchens selbst gewonnen werden kann. Wir hoffen aber, wenigstens so
viel daraus gebracht zu haben, um jeden Musikfreund (Aktiv- und Passiv-
Mitglieder) auf diese ausgezeichnete Arbeit aufmerksam gemacht zu haben.