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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4464. Wien, Dienstag, den 30. Januar 1877

[1]

Musik.

(Hofoperntheater. — Concert von R. Heuberger. — Komische Oper: „Der Geist des Wojwoden.“)


0004Ed. H. Christine Nilsson hat Wien verlassen,
0005nachdem sie binnen wenigen Abenden sich fest und redlich in
0006Aller Herzen eingesungen. Wir geben nicht allzu viel auf das
0007blumen- und lorbeerbelastete Beifallsspectakel einer „Bene-
0008fice-Vorstellung“ — dergleichen läßt sich machen, und
0009Lorbeerkränze sind auch für unwürdige Häupter zu kaufen —
0010aber ein durch lange Theaterpraxis geschärfter Sinn unter-
0011scheidet leicht den gefühlten Enthusiasmus vom arrangirten
0012und weiß recht gut, was sich nicht machen läßt. Ein Her-
0013zenszug von Dankbarkeit und Liebe klang durch die Rufe,
0014duftete aus den Blumen, mit welchen die Wiener Abschied
0015nahmen von der schwedischen Sängerin. Man war sich deut-
0016lich bewußt, daß die Nilsson einen tieferen und edleren Ein-
0017druck hinterlasse, als den eines oberflächlichen Amusements,
0018einen Eindruck, der dem Einzelnen eine Bereicherung für das
0019Leben der Allgemeinheit, eine Veredlung des Geschmackes be-
0020deute. Wie selten begegnen uns solche reine, adelige Naturen,
0021von denen wir sagen müssen, daß sie allenfalls in Einzel-
0022heiten zu überbieten, im Ganzen aber nicht zu übertreffen,
0023nicht nachzumachen sind. Unsere Berichte haben etwas aus-
0024führlicher bei dem Spiele der Nilsson verweilt, pflegt doch
0025das allgemeine Interesse zuerst zu fragen: Wie hat ein
0026fremder Künstler diese Rolle, wie jene aufgefaßt
0027und in den Hauptmomenten ausgeführt? Trotzdem ist die
0028charakterisirende Kunst, mit welcher sie die verschiedenen Rol-
0029len trennt, uns nicht so wesentlich und werthvoll wie das
0030Gemeinsame derselben; dramatisch: die Grazie und seelen-
0031volle Bescheidenheit des Spiels, musikalisch: die vollendete
0032Schönheit des Gesanges. Mag sie Gretchen oder Ophelia
0033sein, bewegt von Freude oder von Leid, stets ist es ein wun-
0034dervolles Singen, das von ihren Lippen strömt. Das feinste
0035Gehör, wie wir es ja auch bei den schwedischen Quartett-
0036sängerinnen bewundert, hat sie als Pathengeschenk ihrer Hei-
0037mat mitbekommen. Jenny Lind klagte manchmal, daß
0038deutsche Sängerinnen so viel mit dem Herzen und dem Kopfe
0039singen und so wenig mit dem Ohr. Die Intonation der
0040Nilsson ist immer so entzückend rein, daß wir eine gute
0041Violinspielerin in ihr vermuthen würden, wenn wir nicht zu-
0042fällig wüßten, daß sie es wirklich ist. Wie ihrem Tonansatz,
0043so lauschen wir auch immer ihrer Aussprache, im Fran-
0044zösischen wie im Italienischen ein Muster von Correctheit
0045und Deutlichkeit. Ihr musikalischer Schönheitssinn bewahrt
0046sie vor dem sinn- und geschmacklosen Beben der Stimme,
0047vor dem Verrücken der Tactverhältnisse, vor dem krampfhaf-
0048ten Hinaufschrauben oder Herausstechen einzelner Töne und
0049ähnlicher Contrebande, welche selbst berühmte Sänge-
0050rinnen als angeblich „dramatisch“ ihrem Vortrag ein-
0051schmuggeln. Diesen rein künstlerischen, unaffectirten Ge-
0052sang der Nilsson in seinem vollen Werth so rückhalt-
0053los gewürdigt zu haben, gereicht unserm ein wenig an
0054materielle Effecte gewöhnten Publicum zum Verdienste.
0055Als lebendiges Beispiel für alle singenden Menschenkinder,
0056die überhaupt hörend zu lernen verstehen, ist die Nilsson
0057unschätzbar. Ein Narr macht Hunderte verrückt, aber Ein
0058Weiser erhält auch Hunderte bei Verstand. Und diese Eine
0059große Eigenschaft hat Christine Nilsson mit Adelina
0060Patti gemein: Beide sind wahre Conservatorien, sind Er-
0061halter und Fortpflanzer des schönen Gesanges. Mit Pa-
0062rallelen zwischen der Patti und der Nilsson verschonen wir
0063den Leser; die Vergleiche mit Sonne und Mond, mit Süd
0064und Nord, mit Rose und Lilie kann der Genügsame so
0065leicht sich selber machen und noch weiter ausspinnen bis auf
0066Champagner und Bordeaux, Strauß und Lanner u. s. f.
0067Jede von ihnen wirkt eigenthümlich und von der Andern so
0068verschieden, wie ihre ganze Persönlichkeit, ihr Blick, ihr Ton
0069verschieden ist, aber Eines sind sie Beide: Königinnen des
0070Gesanges. Durch Pracht und Mannichfalt der Farben und
0071das Brillantfeuerwerk ihrer Bravour ist die Patti im Vor-
0072theil — im holden Ausdruck inniger Empfindungen die Nilsson.
0073Dabei denke man sich Letztere ja nicht als die Sängerin des
0074blassen Mondlichts und der zerfließenden Sentimentalität. Ihre
0075Gestalten haben im Gegentheil eine sehr bestimmte Zeichnung,
0076ihr musikalischer Vortrag fein und scharf gezogene Contouren.
0077Nur erscheint Alles eigenthümlich hell und klar, wie das
0078reine, durch kein Prisma gebrochene Licht. Sie hat vielleicht
0079nicht die energische Persönlichkeit für eine durchaus heroisch
0080angelegte Rolle, aber bedeutende Kraft in einzelnen Momenten;
0081da sehen wir Blicke und Armbewegungen von wahrhaft nieder-
0082zwingender Gewalt. Geistige Ueberlegenheit und scharfer
0083Kunstverstand sprechen aus jeder ihrer Rollen. Jenes eigen-
0084thümliche, ungebrochen helle Licht, das, gleichmäßig über ihrer
0085Gestalt ruhend, den Zauber und die Gefahr derselben bildet,
0086fließt nicht aus einem Mangel ihrer Kunst, sondern aus der
0087Individualität ihrer Stimme und ihrer Erscheinung. Zu aus-
0088geprägt und vollendet erscheint die Nilsson in den ihr ganz
0089homogenen Rollen (Ophelia, Gretchen), um eine sehr viel-
0090seitige Darstellerin sein zu können. Von Sängern und Sän-
0091gerinnen ist eine Vielseitigkeit und Verwandlungskunst, wie
0092sie großen Schauspielern eigen, überhaupt nicht gefordert
0093und innerhalb der so viel enger gezogenen Grenzen des Ge-
0094sanges kaum erreichbar. Wenn ein Schröder, Ludwig
0095Devrient, Seydelmann, La Roche abwechselnd
0096tragische und derbkomische Rollen gleich ausgezeichnet spielten,
0097so hat die Oper große Charakteristiker von gleicher Viel-
0098seitigkeit höchstens ausnahmsweise und annähernd er-
0099lebt. Bei Opernsängern bleibt in allen Rollen doch
0100die eigene Persönlichkeit weit mehr vorwaltend. Bei
0101Frau Nilsson ist sie das, wie wir gesehen, ganz entschieden.
0102Dabei bleibt es erfreulich, ja oft erstaunlich, wie sie jedem
0103darzustellenden Charakter in seine innersten Motive nachzu-
0104gehen weiß, sich von jedem Zuge Rechenschaft legt und Fremd-
0105artiges nur innerhalb der Grenzen des Richtigen sich assi-
0106milirt. Zu solchem ihr Fremdartigen gehört Mignon.
0107Blond, kräftig und groß gewachsen hat Goethe seine Mignon
0108sich nicht gedacht, und wir denken sie uns auch nicht so.
0109Allein viel mehr noch als bei Gounod’s Gretchen müssen
0110wir bei der Mignon des Ambroise Thomas von der
0111Goethe’schen Urgestalt absehen. Nur im ersten Act der Oper
0112trägt Mignon wirklich die Züge des Goethe’schen Originals.
0113Die Nilsson konnte uns zwar unser Bild von Mignon nicht
0114verkörpern, sie setzte aber bald ein anderes, eigenes an dessen [2]
0115Stelle, an das wir glauben mußten. „Eigen, eigen — aber
0116schön!“ wie Rafael in Oehlenschläger’s Drama von der
0117Madonna des Correggio sagt. Die Mignon der Nilsson hat
0118unter den Zigeunern den Adel ihrer Geburt, die edlen For-
0119men ihrer ersten Erziehung nicht eingebüßt, ja sie hat (wie
0120ihr Lied „Kennst du das Land“ und die Gebetscene im
0121dritten Acte motiviren) Erinnerungen an ihre schöne Kindheit
0122bewahrt. Der ungeberdige wilde Trotz Mignon’s in
0123der ersten Scene wird bei der Nilsson zu einer
0124fast stolzen Opposition; aufrechten Hauptes, furchtlos
0125sogar den ängstlich abwehrenden Lothario beschwichtigend, stellt
0126sie sich dem rohen Principal gegenüber, als wollte sie sagen:
0127Du kannst mich tödten, aber ich tanze nicht! Ueberaus ein-
0128fach und schön sang sie den ganzen ersten Act. Im zweiten
0129umgab sie die aus so disparaten Elementen zusammengesetzte
0130„Styrienne“ mit einem Schimmer von Grazie, welcher das
0131Ganze zugleich erklärte und verklärte. Die colorirten Stellen,
0132insbesondere die absteigenden Scalen, perlten so unvergleich-
0133lich, daß wir, wie bei der Schmuck-Arie Gretchens, fast be-
0134dauerten, ihre Gesangs-Virtuosität nicht häufiger zu verneh-
0135men. Aber die Nilsson singt keine Verzierung, die der Com-
0136ponist nicht hingeschrieben, und selbst die vorgezeichneten so
0137bescheiden als möglich. Für die Eifersucht gegen Philinen (im
0138zweiten Act) fand Frau Nilsson den überzeugendsten Aus-
0139druck und belebte die Scene durch einige ihr allein ange-
0140hörige sehr glückliche Details. Der dritte Act, in Handlung
0141und Musik ein kläglicher Abfall nach den beiden ersten,
0142wurde von Frau Nilsson mit dem „tragischen Ausgange“
0143gespielt. Der einzige Sonnenblick, der tröstlich in das Lamento
0144dieses dritten Actes fällt, das schließliche Erscheinen Phi-
0145linens mit Friedrich und Laërtes und der fröhliche Chor
0146der Landleute, ist damit ohne Erbarmen gelöscht. Dieser
0147ursprünglich aus Furcht vor den goethefesten Deutschen
0148nachcomponirte Schluß mit Mignon’s Tod oder Ohnmacht
0149(man weiß es nicht recht) wurde von den allzeit pathetischen
0150Italienern mit Freuden adoptirt und hat seither den
0151versöhnenden Originalschluß der Opéra comique fast überall
0152verdrängt. Der neue „tragische“ Abschluß wird hoffentlich
0153bei uns nicht beibehalten werden, er ist nur langweiliger und
0154geistloser als der ursprüngliche „gute Ausgang“. Die
0155Nilsson sang diesen dritten Act wie ein Engel; aber gegen
0156die Dummheit singen Engel selbst vergebens.


0157Für die Abschiedsvorstellung der Nilsson war ein Pot-
0158pourri zusammengestellt worden: der dritte Act (Garten-
0159scene) aus „Faust“, der dritte aus Rossini’s „Othello“, der
0160vierte aus den „Hugenotten“, dazwischen als recht willkom-
0161mene heitere Abwechslung zwei der beliebtesten Ballet-Diver-
0162tissements. Trotz der großen Anstrengung dieses Abends
0163blieb Frau Nilsson bis zur letzten Note frisch und kräftig
0164bei Stimme und spielte das große Duett Valentinens mit
0165Raoul noch schöner und ausdrucksvoller als das erstemal.
0166Sie wurde darin von Herrn Müller, unserem besten
0167Raoul, vortrefflich unterstützt. Als Faust fand Herr
0168Walter, als Othello Herr Labatt reichlichen Beifall.


0169Mitten unter concertirenden Geigern und Pianisten
0170tauchte diesmal ein concertirender Tondichter auf: Herr
0171Richard Heuberger, Chormeister des Akademischen
0172Gesangvereins. Es gibt für einen Kritiker, der seit vielen
0173Jahren der musikalischen Production den Puls fühlt, nichts
0174Angenehmeres, als wenn einmal wieder ein Symptom be-
0175schleunigter Lebensthätigkeit sich zeigt. Ist es doch keine
0176Phrase, sondern bittere Wahrheit, daß wir an schöpferischen
0177Talenten in der Musik heutzutage arm sind, die alte Garde
0178sich lichtet, der Nachwuchs immer spärlicher wird. Da be-
0179grüßt man denn mit Freude, oft mit allzu vorschneller
0180Freude, jeden halbwegs talentvollen Jünger, dessen glückliche
0181Anfänge Gutes und Neues theils bringen, theils verheißen.
0182Dies ist der Fall mit dem brünetten, schlanken Sohn der
0183Steiermark, Richard Heuberger. Er ist begabt und auf
0184dem rechten Wege, verdient also aufrichtige Ermunterung.
0185Viel hat er noch zu lernen; aber wenigstens steckt er nicht
0186in Manieren und Fehlern, die er erst verlernen müßte. Am
0187wenigsten befriedigte uns sein Clavier-Quintett, dem es nicht
0188an hübschen Einfällen und Anfängen fehlt, wol aber an
0189Selbstständigkeit der Erfindung, an Stetigkeit und zusammen-
0190haltender Kraft der Ausführung. Ueberdies dehnt der
0191Componist alle Sätze viel zu weit aus: er redet
0192noch lange, nachdem er schon Alles gesagt hat. Viel
0193rückhaltloser können wir seine Vocal-Compositionen, Chöre
0194und Lieder, loben. Zwei Frauenchöre („Mitternacht“ und
0195Herbstlied“) verrathen poetische Auffassung und echt musi-
0196kalischen Sinn für wohlklingenden stimmgemäßen Vocalsatz.
0197Noch eindringlicher wirkte ein größerer gemischter Chor,
0198Sommermorgen“. Einen frischen Burschenton schlägt der
0199Männerchor „Lied fahrender Schüler“ an. Von warmer
0200Empfindung, wenn auch nicht überall von kräftiger Eigenart
0201sind mehrere Lieder von Heuberger, welche eine stimmbegabte
0202junge Sängerin, Fräulein Widl, sehr beifällig vortrug.
0203Vor zwei Dingen möchten wir, auf Grund der genannten
0204Gesänge, den Componisten warnen: vor allzu großer Länge und
0205vor rhythmischer Monotonie. Wo vollends beide Fehler zu-
0206sammentreffen, erscheint jeder in doppelter Vergrößerung.
0207Herr Heuberger erntete reichlichen Beifall. Er hat nunmehr
0208ein ihm wohlwollend entgegenkommendes Publicum gefunden
0209und, was noch seltener ist, einen rührigen Verleger, der be-
0210reits eine Reihe Heuberger’scher Compositionen in schöner
0211Ausstattung publicirt hat: Buchholz in Wien.


0212Schließlich sind wir auch in der durch ihre Seltenheit
0213doppelt erfreulichen Lage, einen neuen, sehr begabten Operetten-
0214Componisten und einen echten Erfolg unserer Komischen Oper
0215signalisiren zu können. Die gestern daselbst zur ersten Auf-
0216führung gelangte Novität heißt „Der Geist des Woj-
0217woden
“, Text nach dem Polnischen von Anton Langer,
0218Musik von Louis Großman. Es herrscht in dieser komischen
0219Oper eine durchaus frische, gesunde, melodiöse Erfindung,
0220die, weit entfernt von naturalistischer Unbeholfenheit, eine
0221tüchtige musikalische Bildung und vollendete technische Ge-
0222wandtheit verräth. „Der Geist des Wojwoden“ hat in
0223Warschau über vierzig Wiederholungen erlebt und dürfte auch
0224hier ein Zugstück werden. Zugleich ist es die beste Vor-
0225stellung, welche wir in der Komischen Oper unter deren ge-
0226genwärtiger Direction gesehen. Sobald wir wieder über den
0227Anfang eines Feuilletons und nicht, wie heute, blos über den
0228Schluß desselben zu verfügen haben, wollen wir den Geist
0229des Wojwoden zu etwas längerer Unterhaltung nochmals
0230heraufbeschwören.