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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4486. Wien, Mittwoch, den 21. Februar 1877

[1]

Musik.

(Hofoperntheater. Carl-Theater. Philharmonie-Concert. Mosenthal.)


0003Ed. H. Vermag eine Sängerin mehr, als einzelne
0004Kunststückchen zu produciren, versteht sie einen Charakter auf-
0005zufassen und durchzuführen, haben wir mit Einem Worte
0006eine wirkliche dramatische Künstlerin vor uns, dann be-
0007grüßen wir jede neue Rolle von ihr wie ein kleines Fest.
0008Als ein solches Fest war uns von der Direction des Hof-
0009operntheaters „Robert der Teufel“ versprochen mit Frau
0010Nilsson als Alice — oder besser: Frau Nilsson als
0011Alice mit „Robert der Teufel“. Letzterer zählt nicht mehr zu
0012den dringenden Bedürfnissen, obwol heute noch immer keine
0013einzige Bühne ohne ihn existiren kann — Alice aber, viel-
0014leicht die sympathischeste Gestalt Meyerbeer’s, konnte unter
0015den Händen der Nilsson eine Art Neuschöpfung werden.
0016Man hat uns diese vorenthalten und nur den dritten Act
0017aus „Robert“, mit drei anderen Opern-Fragmenten zusam-
0018men, als Potpourri gegeben. Wäre dies nach einer vorher-
0019gegangenen vollständigen Aufführung des „Robert“ geschehen,
0020allenfalls in der Abschieds-Benefice-Vorstellung, nach deren
0021üblicher oder übler Methode — sei’s darum! So aber
0022empfand der bessere Theil des Publicums das Bunterlei dieses
0023Potpourris nicht als eine doppelte Gabe, sondern als
0024eine halbe, nicht als einen Ersatz für die ver-
0025sprochene Oper, sondern als eine Verkürzung. Das
0026wollten und mußten wir sagen, schon deßhalb, weil
0027diese auf die oberflächlichste Zerstreuung abzielenden „ge-
0028mischten Vorstellungen“ in der Oper sich neuester Zeit auf-
0029fallend vermehren. Das vorzügliche Gelingen, welches gerade
0030die Aufführung des „Robert“-Fragments krönte, ließ die
0031Verstümmlung der Oper doppelt bedauern. Frau Nilsson
0032ist für die holde Gestalt des normännischen Landmädchens
0033wie geschaffen. Für die Naivetät und Treuherzigkeit Alicens,
0034für deren angstvolles Erbeben, endlich für ihr siegreiches
0035Gottvertrauen fand sie die rechten Accente, Mienen und Be-
0036wegungen — Alles wahr und schön. Den Strophen: „En
0037quittant la Normandie“ möchten wir den Preis zuerkennen,
0038der Vortrag konnte nicht schlichter sein und nicht reizender.
0039Ueberaus schön gespielt war das große Duett mit Bertram:
0040den Höhepunkt der Scene, das Umklammern des Kreuzes,
0041gab sie mit dem ganzen sittlichen Adel einer reinen Seele,
0042aber nicht mit dem durchschlagenden Effect, den andere Dar-
0043stellerinnen hier erreichen. Sie ringen so lange als möglich
0044in verzweifelter Abwehr gegen Bertram und schwingen sich
0045erst im letzten Moment, wie in plötzlicher Eingebung, auf
0046den Sockel des Kreuzes empor, um da ihr Fortissimo gegen
0047den Bösen zu schleudern. Christine Nilsson geht von der rich-
0048tigen Auffassung aus, daß Alice, die ja von allem Anfang
0049das Kreuz gesehen und vor demselben gekniet hat, nicht so
0050gänzlich auf diese Zuflucht vergessen konnte. Sie erreicht
0051deßhalb schon viel früher das Kreuz, umfaßt es mit dem
0052linken Arm und steht, den rechten gegen Bertram aus-
0053streckend, einige Minuten mit stolzem Muthe oben, ehe sie
0054mit jener Kraftstelle abschließt. Der Effect verliert das
0055Plötzliche, Ueberraschende und damit einen Theil der „sen-
0056sationellen“ Wirkung. Hier wie in manchen anderen Momenten
0057der Nilsson mag man vielleicht musikalisch oder dramatisch
0058verschiedener Meinung sein; an Einzelheiten möge man bei
0059ihr nicht mäkeln, sondern nehme sie, wie sie ist, ganz, rück-
0060haltlos. Sie ist, was ja so selten auf der Opernbühne, eine
0061lebendige, in sich klare und gefestigte Individualität, ein
0062wirklicher Mensch, in dem Alles lebt und harmonisch zusam-
0063menstimmt. An dem großen Eindruck, den das Duett Alicens
0064mit Bertram hervorrief, hat Herr Rokitansky ein
0065wesentliches Verdienst; vortrefflich, wie er jüngst als Marcell
0066italienisch gesungen, sang er diesmal den Bertram französisch;
0067wir haben ihn in deutschen Vorstellungen niemals so feurig
0068singen und so deutlich aussprechen gehört. Herr Rokitansky
0069theilte mit der Nilsson die Ehren des Abends; auch Herrn Mül-
0070ler’s
wohlthuend schöne Cantilene fand verdiente Anerkennung.
0071Auf den dritten Act „Robert“ folgte der dritte von Ros-
0072sini’s
Othello“. Schon in der letzten „gemischten Vorstel-
0073lung“ hat diese Desdemona-Scene, in welcher die Nilsson
0074von Herrn Labatt als Othello gut secundirt wird, verhältniß-
0075mäßig schwach gewirkt. Die edle, ausdrucksvolle Leistung
0076unserer Künstlerin trägt nicht Schuld daran die Musik selbst
0077ist uns entfremdet. Der sinnliche Reiz der Rossini’schen Me-
0078lodie welkte längst dahin, und die dramatische Gewalt der
0079Composition erscheint uns für die Tragik dieser Scene viel
0080zu schwach. Sehr lange, und selbst im Lager von Rossini’s
0081Feinden, hat dieser Schlußact des „Othello“ für ein dra-
0082matisches Meisterwerk gegolten; wir gönnen ihm heute sol-
0083chen Ehrentitel höchstens im Vergleich zu den eines tragi-
0084schen Stoffes ganz unwürdigen ersten zwei Acten. Er selbst
0085ist, offen gestanden, herzlich langweilig. Die langen mono-
0086tonen Recitative der Emilia und Desdemona, bevor Letztere
0087zu ihrem „Weidenliede“ kommt, sind eine Geduldprobe. Diese
0088berühmte Melodie: „Assisa a piè d’ un salice“ — wie süß,
0089aber wie hartnäckig! Einmal gesungen erfreut sie, aber
0090vier Strophen, ein langes Harfenvorspiel und nach jeder
0091Strophe ein umständliches, altmodisch gekräuseltes Ritornell —
0092das wirkt einschläfernd. Der lange Monolog des eintretenden
0093Othello gehört abermals zu den starken Geduldproben, be-
0094sonders wenn diese Recitative durchwegs langsam, mit orato-
0095rienmäßigem Nachdruck gesungen werden. Endlich hört er auf
0096zu reden und packt Desdemona — das Duett nimmt einen
0097Anlauf zum Pathetischen, fällt aber gleich, im Orchester, in
0098echt Rossini’schen Buffostyl. Die Accuratesse, mit der Othello,
0099nachdem er Desdemona kaum erstochen, augenblicklich auch
0100schon selbst todt hinfällt, gehört zu dem Erheiterndsten, was
0101man in einer Tragödie sehen kann. Nach Desdemona’s
0102Tod wurde das Drachenfest in Peking (aus dem Ballet
0103Brahma“) getanzt, und über diese bunte chinesische Brücke
0104gelangten wir wieder zu Ophelia’s Tod. Der vierte Act
0105der Oper „Hamlet“ eignet sich noch am besten zu vereinzelter
0106Darstellung, er rundet sich zu einem anmuthigen, poetisch
0107ausklingenden Ganzen, in welchem Tanz und Gesang, Dich-
0108tung und Scenerie harmonisch ineinanderfließen. Es ist der
0109erste Sonnenstrahl nach dem erdrückenden Düster der drei
0110ersten Acte. Wir verlieren nicht viel an diesen ersten drei
0111Acten, und dennoch — die herrliche Leistung der Nilsson
0112muß durch diese Isolirung doch etwas von ihrer überzeugen-
0113den Kraft und Wahrheit einbüßen. Und wäre es nur, weil
0114wir diese Ophelia eben erst in zwei anderen Rollen und zwei [2]
0115anderen Costümen gesehen. An sich gehört diese Leistung zu
0116dem Entzückendsten, was die heutige Oper bietet. Christine
0117Nilsson ist nicht nur die beste, sie ist die einzige Ophelia, so
0118wie Adelina Patti die einzige Rosina ist.


0119Im Carl-Theater ging eine neue dreiactige Operette von
0120Offenbach: „Margot, die reiche Bäckerin“, in Scene.
0121Ein altes Pariser Volkslied: „La boulangère a des écus“
0122gab den Herren Meilhac und Halévy den Anstoß zu diesem
0123Libretto, das den Refrain jenes Volkslieds gleichsam drama-
0124tisch auseinanderlegt und fortsetzt. Eine ziemlich lose Ge-
0125schichte ist mit der Verschwörung von Cinq-Mars in Ver-
0126bindung gebracht; dieser historische Hintergrund und das ganze
0127Costüm geben der „Reichen Bäckerin“ vielfache Aehnlichkeit
0128mit „Madame Angot“. Die resolute Bäckerin ist eine gelun-
0129gene Figur, vom Librettisten wie vom Compositeur charakte-
0130ristisch gezeichnet und von Fräulein Link vortrefflich reprä-
0131sentirt. Außerdem sind als komische Würze zwei stets zugleich er-
0132scheinende Polizei-Agenten hinzugethan, welche, von Blasel und
0133Matras köstlich gespielt, beinahe zu Hauptrollen emporwachsen.
0134Herr Eppich, der überall Tüchtige und Eifrige, spielt und
0135singt die Rolle des Friseurs Bernadille sehr gut und muß
0136seine Couplets wiederholen. Diese Couplets (mit dem Refrain
0137„c’est comme ça“) sind in ihrer leichten, ungezwungenen
0138Komik echter Offenbach aus der besten Zeit. Auch sonst
0139könnten wir unschwer ein halb Dutzend recht gefälliger, melo-
0140diöser, pikanter Nummern namhaft machen, an denen man
0141das Cachet Offenbach’s sofort erkennt. Nur zu sehr, denn
0142bei einer so unablässigen, angestrengten Production, wie die
0143Offenbach’s, der jährlich seine drei Novitäten auf die Bühne
0144bringt, kann es nicht ausbleiben, daß er sich wiederhole und
0145immer häufiger zu bereits „bewährten“ Melodien, Rhythmen
0146und musikalischen Spässen zurückgreife. Die musikalischen
0147Ideen eines Componisten brauchen auch wie das Wild eine
0148gewisse „Schonzeit“; unausgesetzt gejagt und ausgenützt, muß
0149jede Erfindungskraft vorzeitig zu Grunde gehen. Für Offen-
0150bach gibt es seit 25 Jahren keine solche „Schonzeit“, und so
0151sehr seine neuesten Operetten gegen die älteren zurückstehen,
0152man muß immer wieder staunen, daß ihm doch noch ein
0153solches Reserve-Sümmchen von Melodie und Humor ge-
0154blieben ist.


0155Das sechste Philharmonie-Concert fand am
0156vorigen Sonntag unter Hanns Richter’s Leitung statt und
0157enthielt die „Egmont“-Ouvertüre und D-dur-Symphonie
0158von Beethoven, drei „deutsche Tänze“ von W. Bargiel
0159und das Violin-Concert von Max Bruch. Eine erste Auf-
0160führung war nicht unter den Programmnummern; es bleibt
0161somit nur die blendende Virtuosität des Herrn Sarasate
0162zu erwähnen, welcher mit dem Vortrag des Bruch’schen Con-
0163certes einen Sturm von Beifall erregte. Es ließe sich trotz-
0164dem etwas mehr sagen von dieser oder jener Nummer des
0165Philharmonischen Concertes; ich gestehe willig, nur mit halbem
0166Ohr gehört zu haben. Und wie mir, so erging es vielen,
0167wol den meisten Anwesenden, die unwillkürlich immer wieder
0168zur Directions-Loge hinaufblickten, wo zum erstenmale ein
0169wohlbekannter Platz leerstand — der Platz Mosenthal’s.
0170Als einer der liebenswürdigsten, wohlwollendsten Menschen
0171hat Mosenthal Freundschaft und Zuneigung in so reicher
0172Fülle genossen, daß wir ihn nunmehr auch zu den Glücklich-
0173sten zählen dürfen, die mit und neben uns gelebt. Die viel-
0174seitige Thätigkeit Mosenthal’s streifte bekanntlich auch die
0175Musik. Wir verlieren in ihm den gewandtesten und frucht-
0176barsten deutschen Operndichter und einen der tüchtigsten Direc-
0177toren unserer „Gesellschaft der Musikfreunde“. Wenn man
0178Mosenthal als Libretto-Dichter hie und da den „deutschen
0179Scribe“ nannte, so war das Lob jedenfalls zu hoch gegrif-
0180fen: weder qualitativ noch quantitativ erreicht er den fran-
0181zösischen Librettisten, der neben zahlreichen anderen Theater-
0182stücken achtundzwanzig große Opern und fündundneunzig
0183komische Opern geliefert hat, worunter Muster-Libretto, wie
0184die „Weiße Frau“, „Stumme von Portici“ und viele an-
0185dere. Freilich hatte unser Mosenthal auch nicht das Glück,
0186Mitarbeiter wie Boieldieu, Meyerbeer, Halévy,
0187Auber zu finden, die seine Textbücher zu höchsten Ehren
0188gehoben hätten. Das vorzüglichste Libretto, das Mosenthal
0189geschrieben, sind „Die lustigen Weiber von Windsor“, die
0190mit Otto Nicolai’s Musik eine Zierde des deutschen Reper-
0191toires bilden. Die komische Oper der Deutschen hat diesem
0192Libretto wenig an die Seite zu stellen. Auch unter den zahl-
0193reichen folgenden Textbüchern von Mosenthal findet sich
0194manches Gute; die meistens übermäßige Einfachheit der
0195Handlung unterscheidet ihn auch wieder von Scribe, dem
0196Meister des verwickelten Intriguenspiels. Eines jedoch hatte
0197Mosenthal mit Scribe gemein: was er schrieb, war musi-
0198kalisch
. Mosenthal hatte ebensowenig Musik gelernt, als
0199Scribe; keiner von Beiden spielte ein Instrument; aber das
0200musikalische Talent steckte in ihnen. Mosenthal’s klangvolle
0201Verse kamen dem Componisten auf halbem Wege entgegen,
0202der geschickte Aufbau seiner großen Ensembles und Finales
0203reizte zu effectvoller musikalischer Erfindung. Ich erinnere an
0204seine „Judith“, „Königin von Saba“, „Folkunger“ — im
0205heiteren Fache an die „Lustigen Weiber“ und „Das goldene
0206Kreuz“. So viel man ihnen auch ausstellen mochte, das
0207Eine sollte man nie vergessen, daß Mosenthal der ein-
0208zige namhafte Bühnendichter in Deutschland war, der über-
0209haupt Operntexte schrieb. Er und immer nur er hat auf diesem
0210unentbehrlichen und trotzdem in Deutschland so verödeten Gebiete
0211producirt, fruchtbar und erfolgreich producirt. Den „Nähr-
0212vater der deutschen Opern-Componisten“ haben wir jüngst
0213Mosenthal scherzhaft genannt; seine Pflegkinder werden die
0214Wahrheit dieses Wortes jetzt einsehen und — hungern. Aber
0215nicht blos sein poetisches, auch sein administratives Talent
0216kam vielfach der Musik zu statten; sein Auftreten war oft
0217entscheidend in der Direction der Gesellschaft der Musik-
0218freunde, der er mit dem idealen Eifer des Liebhabers ange-
0219hörte. Hier waren Mosenthal’s Ansichten und Vorschläge
0220durchaus nicht ideologische Schwärmereien eines Poeten, viel-
0221mehr praktisch und sachgemäß, stets erfüllt vom „bon sens“,
0222den er auch in lebhaft hinfließender Rede wohl zu vertheidi-
0223gen wußte. Es gab seit Jahren kaum eine für Wien wich-
0224tige musikalische Angelegenheit, welche ich nicht mit Mosen-
0225thal mit Nutzen und Vergnügen durchgesprochen hätte. Mit
0226Niemandem verkehrte es sich leichter und angenehmer. Alle
0227Pflegestätten geselliger Bildung und edler Kunstliebe in
0228Wien werden Mosenthal schmerzlich vermissen. Er wird uns
0229Allen lange abgehen, überall abgehen, der immer liebens-
0230würdig heitere, herzliche, erfrischende Mensch! Die Welt geht
0231unbekümmert ihren Gang weiter, das wissen wir, und ver-
0232kündet, daß Niemand unersetzlich sei. Schade nur, daß das
0233Gegentheil wahr ist: kein Mensch, der uns wohlthat und den
0234wir liebten, kann ersetzt werden. Es kommen nur immer andere.