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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4513. Wien, Dienstag, den 20. März 1877

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Oper und Concert.


0002Ed. H. Adelina Patti, die immer willkommene,
0003immer vollkommene, erschien uns seit Eröffnung dieser ita-
0004lienischen Saison in drei Gestalten: als Sonnambula,
0005Traviata und Semiramide. Ueber die wohlbekannten
0006zwei ersten haben wir nichts zu berichten, als daß sie sich
0007gleich geblieben sind, und ihr Erfolg beim Publicum ebenso.
0008Aufrichtig freute man sich am ersten Abend, daß kaum über-
0009standene schwere Kämpfe und Aufregungen, verschärft durch
0010alle Mühsal einer großen Reise, dieser anscheinend schwachen
0011und doch so widerstandsfähigen Constitution nichts anhaben
0012konnten. Die zauberhafte Klarheit und Frische ihrer Stimme
0013war durch keinen Hauch getrübt, die Energie des Spieles
0014nicht geknickt, höchstens daß man in dem Trinklied der
0015Traviata und dem Schlußrondo der Sonnambula nicht
0016ganz die triumphirende Fröhlichkeit von früher wiederfand.
0017In der „Sonnambula“ lauschten wir so entzückt der clas-
0018sischen Vollendung ihres einfachen, getragenen Gesanges, ja
0019des kleinsten, so fein ausgemeißelten Mordents, daß uns die
0020süße Langweiligkeit der Composition kaum störte. Den Tenor
0021Nicolini fanden wir entschieden besser als im vorigen
0022Jahre, die Stimme gekräftigt, den Vortrag ruhiger und maß-
0023voller. An warmer Empfindung hat es ihm bekanntlich nie ge-
0024mangelt. Verfehlt war in der „Nachtwandlerin“ nur die Besetzung
0025des galanten Grafen Rudolph durch den Bassisten Fiorini,
0026welcher aussah wie ein alter Kreisphysikus und auch so sang.
0027Wo nur die Grundgewalt eines markigen Basses erfordert
0028wird, wie von Oberpriestern und anderen nicht zur Eleganz
0029verpflichteten Honoratioren, da füllt Signor Fiorini seinen
0030Platz vollkommen aus. Der Bariton Signor Strozzi 
0031wurde als Padre Germont freundlich begrüßt; sein schönes
0032Organ und gefühlvoller Vortrag kommt der „Traviata“-
0033Vorstellung günstig zu statten. Als Traviata haben wir die
0034Patti am häufigsten gehört und besprochen; wir gehen daher
0035zur Semiramide über, die sie zum erstenmale hier sang.
0036Die Oper selbst war seit vierundzwanzig Jahren in Wien 
0037nicht gegeben. Vor fünfzehn Jahren hörte ich Rossini’s
0038Semiramis“ in Paris von den Schwestern Marchisio
0039Aber trotz des fieberhaften Interesses, das ich als Fremder
0040an der Pariser Oper nahm, und trotz des Furore der beiden
0041genannten Spieldosen-Zwillinge hielt ich die Langweile dieser
0042Musik nicht aus, sondern entfloh nach dem zweiten Act. Jetzt
0043in Wien ist mir die „Semiramide“ ganz ebenso erschienen,
0044abgestorben, fast wie eine Mumie, der man durch Blumen-
0045guirlanden, Goldflitter und duftende Essenzen den Schein
0046des Lebens antäuschen will. Ist es möglich, so fragen wir
0047uns, daß diese Arien und Duette, die uns fast komisch fremd-
0048artig, wie uralte Modekupfer ansehen, unserem Jahrhun-
0049dert angehöre daß sie zwei Jahre später geschrieben sind als
0050der „Freischütz“? Zunächst der Text: welch steife, halb langweilige,
0051halb unverständliche Staatsaction von lauter Marionetten!
0052Diese halb sagenhafte, halb geschichtliche Königin Semiramis,
0053mit all ihren purpur- und goldstrotzenden Feldherren, Ober-
0054priestern, Tänzerinnen und Kriegern, sie war die richtige Heldin
0055der alten Opera seria. Ein kaum vollständiges Verzeichniß führt
0056nicht weniger als sechsunddreißig verschiedene Opern Namens
0057„Semiramis“ auf. Am häufigsten wurde Metastasio’s Opern-
0058gedicht componirt, von Gluck, Sarti, Porpora, Traëtta etc.,
0059zuletzt noch von Meyerbeer. In besonderem Ansehen stand
0060eine zeitlang die französische „Semiramis“ von Catel (1802),
0061deren Ouvertüre noch zeitweilig in den Concertsälen umgeht.
0062Von allen hat sich nur Rossini’s „Semiramis“ erhalten,
0063wahrscheinlich die letzte Oper dieses Namens. Das Textbuch
0064ist unter dem Einfluß von Voltaire’s berühmter Tragödie 
0065geschrieben, und die verunglückte Erscheinung von Ninus’
0066Geist kann man unmöglich in der Oper sehen, ohne an
0067die einschneidende Kritik Lessing’s zu denken und seine
0068vernichtende Vergleichung der Voltaire’schen Geister-Erschei-
0069nung mit jener im „Hamlet“. „Shakspeare’s Gespenst,“
0070sagt Lessing, „kommt wirklich aus jener Welt, so dünkt uns,
0071aber Voltaire’s Geist ist auch nicht einmal zum Popanze
0072gut, Kinder damit zu schrecken. Er ist der bloße verkleidete
0073Comödiant, der nichts hat, nichts sagt, nichts thut, was es
0074wahrscheinlich machen könnte, er wäre das, wofür er sich
0075ausgibt. Am hellen Tage, mitten in der Versammlung der
0076Stände des Reiches, von einem Donnerschlag angekündigt,
0077tritt das Voltaire’sche Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo
0078hat Voltaire jemals gehört, daß Gespenster so dreist sind?“
0079Schließlich sagt er von dem Geist des Ninus in Voltaire’s 
0080Semiramis“: „Es erschrecken über seinen Geist Viele, aber
0081nicht viel. Semiramis ruft einmal: Himmel, ich sterbe!
0082und die Anderen machen nicht mehr Umstände mit ihm, als
0083man ungefähr mit einem weit entfernt geglaubten Freunde
0084machen würde, der auf einmal ins Zimmer tritt.“ In
0085Rossini’s Oper ist der Fehler dieser Hauptscene noch auf-
0086fallender, obgleich die Musik viel kräftigere, sinnenfälligere
0087Mittel besitzt, als das Drama, das Grauenhafte einer
0088Geister-Erscheinung und das Entsetzen einer großen Men-
0089schenmenge zu schildern. Aber nachdem der Geist des Ninus 
0090kaum erschienen ist, wenden ihm sämmtliche Hauptpersonen
0091den Rücken, stellen sich vor die Fußlampen und singen das
0092Publicum mit einem langsamen, süß zusammenklingenden
0093Ensemblesatz an. Der Geist wartet inzwischen geduldig, bis
0094sie fertig sind, sich wieder zu ihm kehren und abermals er-
0095schrecken, worauf er endlich einen weisen, aber unverständ-
0096lichen Orakelspruch von sich gibt. Die Musik zur „Semira-
0097mis“ erscheint uns heute undramatisch, weichlich, geputzt,
0098geistlos. Rossini’s Zeitgenossen erschien sie nur „zu deutsch 
0099und zu gelehrt“. „Schon in „Zelmira“ — schreibt der
0100Rossini-Schwärmer Stendhal — „hat Rossini sich vom Style
0101des Tancred so weit entfernt, etwa Mozart in sei-
0102nem Titus vom Don Juan.“ Diese beiden Genies
0103seien somit nach entgegengesetzter Richtung fortgeschritten,
0104Mozart würde vielleicht eines Tages als vollständiger Ita-
0105liener aufgehört haben, Rossini hingegen noch deutscher
0106als Beethoven. Die Deutschthümelei der „Zelmira“ sei aber
0107nichts im Vergleich zur „Semiramide“. „Hier,“ meint
0108unser Kritiker, „ist offenbar Rossini in einen geographischen
0109Irrthum verfallen: diese Oper, welche man in Venedig bei-
0110nahe ausgezischt hat (1823), wäre in Berlin oder Königs-
0111berg vielleicht bewundert worden.“ Der so tief beklagte Ueber-
0112gang Rossini’s zum „Deutschen und Gelehrten“ besteht darin,
0113daß er in „Semiramis“ neben reinen Bravour- und Colo-
0114ratur-Nummern auch Ensembles und Chöre von ernsterem
0115Charakter, breiter Entfaltung und einer sorgfältigeren Har-
0116monisirung anbrachte. Wir würdigen diese Nummern und
0117begreifen, wie sehr Musikstücke wie die erste Introduction,
0118die Scene der Geister-Erscheinung im zweiten Act, auch das
0119Schluß-Terzett, von der gewohnten liederlichen Wirthschaft
0120in Rossini’s früheren tragischen Opern abstachen. Rein [2]
0121musikalisch und für sich angehört, machen uns diese Num-
0122mern heute noch einen recht vortheilhaften Eindruck durch
0123melodischen Reiz, größere harmonische Fülle und schöne Ab-
0124rundung der Form. Tiefer, wie wir in einer tragischen Oper
0125ergriffen sein wollen, ergreifen sie uns nicht, und zwei bis
0126drei Prunkstücke reichen nicht hin, um eine durchaus un-
0127dramatische Musik lebensfähig zu machen. Diese unaufhör-
0128lichen Triller und Rouladen, diese kraftlosen Melodien, die
0129sich im Orchester seitenlang mit dem Accompagnement von
0130zwei Accorden begnügen, das fortwährende Steckenbleiben und
0131Nicht-Vorwärtswollen von Handlung und Musik, vor Allem
0132aber das ganz Gleichmäßige im Gesang aller handelnden Per-
0133sonen macht uns heutzutage die „Semiramide“ ungenießbar.
0134Ein Mangel an individuellem Leben, eine frostige Geziert-
0135heit und geistlose Feierlichkeit herrscht darin, die uns unge-
0136duldig macht, und selbst ungerecht gegen den Genius Ros-
0137sini’s
, welcher doch in der Opera buffa heute noch seinen
0138Farbenglanz bewahrt. Wir haben jüngst Bellini’sSon-
0139nambula“ eine sehr langweilige Oper genannt — sie steht
0140uns viel näher als „Semiramis“, obgleich diese von einem
0141genialeren Componisten herrührt. In der „Nachtwandlerin“
0142haben wir doch wirkliche Menschen, die in realen Verhält-
0143nissen leben, wahr empfinden und sich natürlich, wenn auch
0144mit mehr Wehmuth als Geist, ausdrücken. In den Personen
0145der „Semiramis“ glauben wir keinen menschlichen Herzschlag
0146zu vernehmen; es sind Automaten mit prächtigen Kehlköpfen,
0147darüber und darunter leerer Raum. Diese Personen —
0148Frauen, Männer, Krieger, Priester, Jünglinge, Greise — sie
0149Alle haben nur Einen Trieb, Eine Leidenschaft: ihre Kehlen-
0150geläufigkeit zu produciren. Von diesen geputzten Marionetten-
0151Opern, die noch in den höfischen Traditionen der alten
0152Opera seria wurzeln, zu der volksthümlichen Oper Bel-
0153lini’s
und Donizetti’s ist doch ein wichtiger, wohlthäti-
0154ger Fortschritt. Was Opern wie „Semiramis“ zu großen
0155Erfolgen verhalf und theilweise noch verhelfen mag, ist das
0156Talent und die Kunst der Sänger. Eine Reihe der berühm-
0157testen Gesangskünstlerinnen hat in der „Semiramis“ den
0158Gipfel des Ruhmes erstiegen. Auf die Pasta, welche
0159als Semiramis wahrscheinlich nie erreicht worden ist,
0160folgten die Grisi, Viardot, Cruvelli, Hen-
0161riette Sontag. Die Malibran sang in ihrem 
0162extravaganten Ehrgeiz abwechselnd die Semiramis und den
0163Arsace. Die erste Darstellerin des Arsace war die Mariani,
0164die beste und berühmteste die Pisaroni; Beide rivalisirten
0165an Stimme, Bravour und abschreckender Häßlichkeit. Es
0166folgten in dieser Altpartie noch mit besonderem Erfolge die
0167Brambilla und Alboni. Adelina Patti dürfte unter
0168den lebenden Sängerinnen die einzige sein, deren Gesangs-
0169kunst allen Rossini’schen Bravourpartien vollständig gewachsen
0170ist. Für die Heldengestalt der Semiramis fehlt ihr nur die
0171imposante Erscheinung, welche der Stimmfülle und dem ge-
0172waltigen dramatischen Talent der Pasta eine so wirksame
0173Ergänzung bot. Aber im Musikalischen lag nicht die Stärke
0174der Pasta, von der Rossini, im Scherz wol übertreibend,
0175zu sagen pflegte, „sie singt immer falsch“. Die Patti singt
0176gottlob niemals falsch und ist in allen Künsten des einfachen
0177und des virtuosen Gesanges vollendete Meisterin. Dramatisch
0178konnte sie gerade aus der Semiramis nicht viel machen; ihr
0179wie uns Allen schien die ganze Rolle, die ganze Oper einiger-
0180maßen gleichgiltig geworden. Es liegt nicht an ihr, daß die
0181Patti mit jeder beliebigen Nummer der „Traviata“ auf unser
0182Publicum größeren Eindruck macht, als mit der ganzen Semi-
0183ramis. Den Arsace gab Signora Trebelli, gegenwärtig die
0184anerkannteste Sängerin dieser Rolle. Sie hat als Arsace schon
0185im Jahre 1860 in Berlin, also früher noch in Italien, Furore
0186gemacht. Obgleich nicht mehr in voller Blüthe, ist die
0187Stimme der Trebelli doch kräftig und wohllautend, insbe-
0188sondere in den tieferen Lagen. Die Höhe klingt verhältniß-
0189mäßig schwach und fast sopranartig, hier verwendet die Tre-
0190belli sehr geschickt das Mezza voce. Ihre Passagen rollen
0191nicht mit der vollendeten Gleichheit und Leichtigkeit hin wie bei
0192der Patti; das Organ hat noch etwas von der natürlichen
0193Schwerflüssigkeit der Altstimme. Doch sind Ton und Vor-
0194trag edel und energisch, Haltung und Spiel behielten der
0195Rolle gemäß überall männliche Entschiedenheit. Ob auch
0196Innigkeit der Empfindung dieser Sängerin eigen sei, ist nach
0197dem Arsace nicht zu entscheiden. Von den Sängern
0198in „Semiramis“ stand keiner störend im Wege, aber auch
0199keiner auf der Höhe Rossini’scher Gesangskunst. Derlei Colo-
0200ratur-Kunststücke schreibt seit fünfzig Jahren kein Componist
0201mehr für Männerstimmen; kein Wunder, wenn diese Ge-
0202sangs-Virtuosen nachgerade aussterben.


0203Das Concert-Interesse drehte sich in verflossener Woche
0204ausschließlich um Liszt, den König der Pianisten. Ueber
0205seine großartige Theilnahme an dem Beethoven-Denkmal-
0206Concert, über seinen Triumph daselbst, kurz über alles Fac-
0207tische sind unsere Leser durch die dem Feuilleton voran-
0208eilenden Notizen vollständig unterrichtet. Es bleibt uns
0209nur ein nachträgliches Wort der Bewunderung für
0210den genialen Künstler. Bewunderungswürdig ist die
0211Kraft und Ausdauer des sechsundsechzigjährigen Mannes,
0212der eigentlich drei Concerte hinter einander gegeben hat,
0213denn die beiden öffentlichen Proben des Festconcerts waren
0214zum Erdrücken gut besucht und trugen den Wohlthätigkeits-
0215Anstalten ein hübsches Sümmchen. Hätte man noch eine
0216vierte, kleinste Vorprobe arrangirt, in welcher Liszt gar nicht
0217zu hören, sondern nur bequem zu sehen war — auch dafür
0218wären die Karten wahrscheinlich reißend abgegangen. Welch
0219hohes Glück, solche Gewalt des Anziehens und Fesselns auf
0220die Menschen zu üben, von der Knabenzeit bis ins Greisen-
0221alter, ununterbrochen, unwiderstehlich! In dem Beethoven-
0222Concert spielte Liszt das Es-dur-Concert und die Phan-
0223tasie mit Chor (Op. 80), beides mit der ihm eigenen
0224Noblesse und geistreichen Feinheit, am schönsten die zarten,
0225gesangvollen Stellen. Er hat das Publicum entzückt und
0226das schöne Vorhaben, Beethoven ein Denkmal in Wien 
0227zu errichten, in großartiger Weise gefördert. Wir sind ihm
0228Dank dafür und nur Dank schuldig. Aber sind wir nicht
0229auch unseren Lesern etwas schuldig? Nicht die volle unge-
0230schminkte Wahrheit? Dürfen wir wirklich mit denselben
0231Worten, mit demselben rückhaltlosen Lob, wie nach Liszt’s
0232letztem Auftreten im Januar 1874, Liszt als Vir-
0233tuosen den unverändert Jugendlichen nennen? Ein
0234leises, ganz bescheidenes Anklopfen des Alters kann
0235doch nicht völlig ausbleiben — es wäre ein Wunder,
0236und an Wunder glaubt doch heute selbst ein Abbé nicht.
0237Gerade seine nächsten Freunde wollten nicht mehr ganz die
0238alte Kraft des Anschlags, die Ausdauer und kühne Sicher-
0239heit im Vortrag von Bravourstellen an Liszt wiederfinden.
0240Für mein Theil möchte ich nur zugestehen, daß Liszt vor
0241drei Jahren seine Ungarische Rhapsodie und Schubert’s „Wan-
0242derer-Phantasie“ jedenfalls viel feuriger und glänzender ge-
0243spielt hat, als jetzt die beiden Beethoven’schen Stücke. Die [3]
0244Jungen mögen darob nicht allzusehr jubeln, sie werden den
0245Alten doch nicht erreichen. Obgleich die ganze Aufmerksamkeit
0246des Publicums in dem Beethoven-Concert sich auf Liszt 
0247concentrirte, wurden doch die vorzüglichen Gesangsleistungen
0248der Damen Wilt und Gomperz-Bettelheim auf das
0249lauteste anerkannt.


0250Sonntag den 18. März gab der Wiener Männer-
0251gesang-Verein
sein zweites Concert im großen Musik-
0252vereinssaale. Mit lobenswerthem Tact widmete er die erste
0253Nummer der Erinnerung an den jüngstverstorbenen Compo-
0254nisten Julius Otto, welcher zur Zeit des größten Lieder-
0255tafel-Aufschwungs zu den fleißigsten und beliebtesten Förderern
0256dieser Vereine gehörte. Von bekannten Chören hörten wir
0257Schubert’s „Geisterchor“ und „Ständchen“, dann Engels-
0258berg’s
fein empfundenes „Frühlingsbild“. Einige wirksame,
0259gefällige Novitäten einheimischer Componisten: „Werner’s
0260Lied“ und „Maienzeit“ von Herbeck, „Marie vom Ober-
0261lande“ von Gericke und „Russisches Volkslied“ von
0262E. Kremser, fanden lebhaften Beifall. Das bedeu-
0263tendste Stück darunter, Herbeck’sMaienzeit“, das
0264insbesondere durch sinnigen Wechsel zwischen Vocal-
0265Quartett und Chor wirkt, mußte wiederholt werden.
0266Der Violin-Virtuose Sauret excellirte wieder mit seinen
0267Zauberkunststücken in einer unsäglich abgeschmackten Compo-
0268sition von Paganini. Bewunderungswürdig waren da
0269seine rapiden Octavenscalen und das mehrstimmige Flageolet-
0270spiel in der zweiten Variation. Aufrichtig gestanden, hat uns
0271noch kein Violin-Virtuose mit so außerordentlicher Technik —
0272so kühl gelassen. Frau Caroline Gomperz-Bettelheim 
0273zierte das Concert mit zwei Glanz- und Lieblingsnummern
0274ihres Lieder-Repertoires: „Am Grabe Anselmo’s“, von
0275Schubert, und „Sonntags am Rhein“, von Schumann.
0276Wiederholt gerufen, gab sie noch ein drittes Lied zu, und
0277zwar Liszt’s: „Es muß was Wunderbares sein.“ Mit
0278feinem Tact wußte die Sängerin den Applaus von sich ab-
0279und alle Blicke auf den gefeierten Componisten hinzulenken,
0280der sich aus seiner Loge dankend verbeugte. So sind wir
0281denn unversehens wieder auf Liszt zurückgekommen, den
0282jüngsten, ältesten und jedenfalls glänzendsten Stern unserer
0283Concertsaison.