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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4633. Wien, Freitag, den 20. Juli 1877

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Vom Salzburger Musikfest. II.

Salzburg, 18. Juli.


0003Ed. H. „O Salzburg, wunderschöne Stadt, wenn’s ein-
0004mal ausgeregnet hat!“ So sagt ein altes Studentenlied mit
0005einer wahrhaft tiefsinnigen Verschmelzung von Spott und
0006Bewunderung. Diesmal hat’s aber nicht ausgeregnet, will
0007noch lange nicht ausgeregnet haben, und von der „wunder-
0008schönen Stadt“ sehen wir so gut wie nichts vor lauter
0009Regenschirmen. Unter Regenschirmen zogen vorgestern die
0010Wiener Musiker vom Bahnhof in die Stadt, unter Regen-
0011schirmen wimmelte gestern Abends ganz Salzburg zum Con-
0012tersaale, und — was vielleicht das Betrübsamste ist — die
0013für heute Früh vom Festcomité vorbereitete Massenwallfahrt
0014auf den Capuzinerberg ist durch den emsig strömenden
0015Regen arg verdüstert worden. Auf den Capuzinerberg hat
0016man nämlich das kleine Gartenhäuschen verpflanzt, das bis
0017vor wenigen Jahren im mittleren Hofe des Starhemberg’schen
0018Freihauses in Wien stand und von Mozart als ein ruhiges
0019Asyl beim Componiren der „Zauberflöte“ mit Vorliebe be-
0020nützt worden war. Für meine Person bin ich zwar kein
0021Freund von dergleichen Loretto-Wundern, ebensowenig wie von
0022der Ausgrabung und Uebertragung der Gebeine berühmter
0023Verstorbener, indeß bescheide ich mich gern mit meinem viel-
0024leicht übertriebenen Zartgefühl für den Genius loci und störe
0025Niemandem die Freude, sich Mozart hoch oben auf dem
0026Capuzinerberge an der „Zauberflöte“ componirend zu denken.
0027Aber schade ist’s um den köstlichen Spaziergang hinauf und
0028um die kleine Festlichkeit, die unter Mitwirkung der Salz-
0029burger Liedertafel, mit Fahnen und Blumen und vielen fröh-
0030lichen Menschen so hübsch sich entfaltet hätte — bei heiterem
0031Himmel.


0032Gestern Abends hatten wir das erste Festconcert. Der
0033große, zum Vortheil der Akustik nicht sehr hohe „Collegien-
0034saal“ — die „Aula“ der ehemaligen Universität Salzburg —
0035war für das Musikfest bequem hergerichtet und durch das
0036milde Licht unzähliger Wachskerzen zugleich geschmückt und
0037erhellt. Den an zwölfhundert Menschen fassenden Saal fan-
0038den wir zwar nicht vollständig, aber doch von einer zahl-
0039reichen, distinguirten Versammlung besetzt. Die erste Sitz-
0040reihe nehmen die Erzherzoge Franz Karl und Ludwig Victor
0041nebst der Aristokratie und den obersten Würdenträgern der
0042Stadt ein. Otto Dessoff, der Dirigent des Musik-
0043festes, wird mit anhaltenden stürmischen Applaus begrüßt.
0044Cherubini’s Ouvertüre zu „Anakreon“ macht den An-
0045fang, ein Stück von vornehmer Langweiligkeit, dessen feine
0046Details mehr für das Stammpublicum eines Abonnements-
0047Concertes, als für ein großes Musikfest passen. Wir hätten
0048das Concert lieber durch die Ouvertüre zur „Zauberflöte“
0049eingeleitet gesehen. Ueberdies wäre ohne diese Eine Nummer
0050das ganze Programm aller drei Tage ein rein deutsches ge-
0051blieben. Im Ganzen verdient die Zusammenstellung des
0052Programms bezüglich der darin vertretenen Meister alles
0053Lob; es enthält von Mozart, wie es sich hier gebührt, drei
0054größere Stücke und je eines von Händel, Bach, Gluck,
0055Haydn, Beethoven, Weber, Spohr, Mendelssohn, Schumann,
0056Wagner, Brahms, Volkmann und Goldmark. Schubert
0057wird am dritten Tage durch mehrere Lieder vertreten.


0058Von den Orchesterstücken des ersten Abends erhielten
0059den lebhaftesten Beifall das Scherzo aus Mendelssohn’s
0060Sommernachtstraum“ und die C-moll-Symphonie von Beet-
0061hoven. Man fühlte, daß der nunmehr großherzoglich badische
0062Hofcapellmeister Dessoff diesem Orchester kein Fremder, son-
0063dern mit demselben Ein Herz und Eine Seele sei. Ohne das
0064jahrelange glückliche Zusammenwirken Dessoff’s und des
0065philharmonischen Orchesters in Wien wären so exacte, aus-
0066gefeilte Aufführungen nach einer einzigen Probe nicht denk-
0067bar gewesen. Ja, wie zwei langgetrennte Freunde sich dann
0068doppelt freudig umarmen, so schienen Dessoff und das Wie-
0069ner Orchester sich heute noch frischer und schwungvoller der
0070Musik hinzugeben. Von Mozart’s Concert für Violine und
0071Viola hätte wol der schöne erste Satz, den wir in Wien so
0072oft und so vortrefflich (von Hellmesberger mit Joachim und
0073Laub) gehört, hingereicht; die beiden folgenden Sätze brin-
0074gen wenig Neues von Bedeutung hinzu. Die Herren Grün
0075und Krancevic spielten das Concert mit lobens-
0076werther, etwas schulmeisterischer Tüchtigkeit. Stürmischen
0077Beifall ernteten die Gesangsvorträge von Frau Caroline
0078Bettelheim-Gomperz, deren Stimme frischer und
0079kräftiger klang, als im vorigen Winter, und des Herrn
0080Joseph Staudigl. Herr Staudigl, jetzt badischer Hofopern-
0081sänger, den wir vor zwei Jahren in einer Production des
0082Wiener Conservatoriums zuletzt gehört, hat uns mit dem
0083Vortrag der Spohr’schen Arie: „Liebe ist die holde Blüthe“
0084auf das angenehmste überrascht. Seine warme und kräftige
0085Stimme, mehr dem Baß- als dem Bariton-Charakter zunei-
0086gend, klingt männlicher, reifer, sein Vortrag, namentlich die
0087Coloratur, fließt viel gleichmäßiger und weicher dahin.
0088Staudigl ist heute schon ein vortrefflicher Sänger von be-
0089neidenswerthen Mitteln und macht mit dem jungen Beck
0090und dem jungen Erl das Kleeblatt österreichischer Sänger
0091voll, auf welche — eine seltene Ausnahme — Stimme und
0092Talent des Vaters sich vererbt haben.


0093Nächst den Künstlern gebührt der aufrichtigste Dank
0094dem Veranstalter des Musikfestes, nämlich der „Inter-
0095nationalen Mozart-Stiftung
“ in Salzburg. Wir
0096sind so oft befragt worden über die Tendenz und die Lei-
0097stungen dieses Institutes, über das wir selbst genügende Aus-
0098kunft nicht geben konnten, daß wir eine hier soeben erschienene
0099authentische Festschrift: „Das Salzburger Musikfest“, von
0100R. v. Freisauff, sehr willkommen heißen. Wahrscheinlich ver-
0101stehen wir auch nach der Lectüre dieser Schrift die Sache
0102noch nicht völlig, denn wir können die etwas schwankende
0103Basis und die hoch in den Lüften hängenden Ziele der
0104„Internationalen Mozart-Stiftung“ nicht recht mit der selbst-
0105zufriedenen Stimmung ihrer Festschrift zusammenreimen.
0106Den Verein gründeten vor acht Jahren fünfzehn ehrenwerthe
0107Männer *) in Salzburg und bezeichneten als dessen Auf-
0113gaben: „1. Gründung einer Mozart-Stiftung zur Hilfe[2]
0114spendung in jeder Richtung für Tondichter und
0115Tonkünstler aller Zonen und Stämme in der
0116Weise der bestehenden Schiller-Stiftung. 2. Die
0117Gründung einer Hochschule für Musik in Salzburg
0118und von Stipendien für Kunstjünger. 3. Erbauung eines
0119Mozarthauses für Concert-Aufführungen und zur Unter-
0120bringung einer musikalischen Universal-Bibliothek etc.“
0121Gleich der erste Punkt setzt durch seine Großartigkeit in Er-
0122staunen: „Hilfespendung für Tonkünstler aller Zonen und
0123aller Stämme!“ Das klingt ja, als wenn der Graf Monte-
0124Christo spräche. Jedenfalls muß man annehmen, daß Je-
0125mand, der weit über sein Vaterland hinaus allen Bedräng-
0126ten aufzuhelfen beabsichtigt, im eigenen Hause wohlbestallt,
0127das heißt, daß Musik und Musiker in Salzburg im
0128blühendsten Zustande seien. Aber ganz im Gegentheil. In
0129Salzburg besteht seit nahezu vierzig Jahren ein tüchtiger
0130Musikverein sammt Musikschule unter dem Namen Mozar-
0131teum
. Wie die Festschrift selbst constatirt, ist „das Mozar-
0132teum ausgiebiger Unterstützung bedürftig und sind seine pecu-
0133niären Verhältnisse leider unzureichend, um künstlerisch hoch-
0134gebildete Kräfte dauernd an das Institut zu fesseln“. Das
0135Mozarteum ist außer Stande, seinen Mitgliedern „jenes Maß
0136von materieller Anerkennung zuzugestehen, das den Lei-
0137stungen jedes Einzelnen auch nur an-
0138nähernd gleichkäme
“. Wie stimmt nun dieser
0139traurige Zustand der Musik im eigenen Lande zu den
0140„internationalen“ Utopien der neuen Salzburger Mozart-
0141Stiftung? Die Gründer der letzteren gingen ur-
0142sprünglich allerdings von der richtigen Absicht aus,
0143die pecuniären Verhältnisse des Mozarteums zu ver-
0144bessern und eine Vereinigung mit diesem anzustreben.
0145Sie ließen sich aber durch locale und persönliche Bedenken,
0146insbesondere durch das Abhängigkeits-Verhältniß des Mo-
0147zarteums vom erzbischöflichen Consistorium wieder von jenem
0148guten Vorsatz abbringen, so daß die „Internationale Mozart-
0149Stiftung“ dem älteren heimischen Musik-Institut, dem
0150Mozarteum, jetzt nicht blos indifferent, sondern feindlich
0151gegenübersteht. Weder der Director noch die Lehrer und
0152Musiker des Mozarteums wurden zu dem Musikfest beige-
0153zogen, ja die Wiener Musiker sahen sich zu ihrem Erstaunen
0154von einem Festcomité empfangen, das zwar die Liebenswür-
0155digkeit selbst, aber in keinerlei Berührung mit den Salzbur-
0156ger Fachmusikern, also den eigenen Kunstgenossen, war. Als
0157Fremde können wir uns über rein locale Zerwürfnisse kein
0158Urtheil anmaßen; aber die Ueberzeugung steht in uns uner-
0159schütterlich fest: diese Zerwürfnisse müssen aufhören, diese
0160Hemmungen müssen überwunden werden, soll die „Inter-
0161nationale Mozart-Stiftung“ sich nicht um das Vertrauen
0162der Kunstwelt bringen. Ein kosmopolitischer Welterlöser, der
0163mit seinem nächsten Nachbar und Zunftkameraden in Hader
0164lebt, macht uns leicht mißtrauisch. Ein Seitenstück zur
0165Schiller-Stiftung will dieser Mozart-Verein sein?
0166Ja, glauben denn die fünfzehn Salzburger Herren
0167wirklich, daß unsere Schiller-Stiftung noch existirte,
0168wenn sie nicht blos deutsche, sondern auch fran-
0169zösische, italienische, russische Dichter unterstützen wollte?
0170Und hätte ganz Deutschland sein Geld geschickt zu dieser
0171Schiller-Stiftung, wenn der Aufruf dazu statt von den ersten
0172Dichtern und Schriftstellern Deutschlands von fünfzehn in
0173der Literatur ganz unbekannten Männern — und wären es
0174die ehrenwerthesten — ausgegangen wäre? Die uns vor-
0175liegende Festschrift beklagt sich darüber, daß von zwei-
0176tausend
Gesangvereinen, die zur Förderung der „Inter-
0177nationalen Mozart-Stiftung“ eingeladen wurden, nur zwölf
0178deren Mitglieder geworden sind. „Wenn alle Vereine der
0179Monarchie der Stiftung nur mit einem Jahresbeitrag von
0180zehn Gulden beigetreten wären, würde diese heute schon über
0181ein Vermögen von Hunderttausenden verfügen können!“ Das
0182kann sehr bedauerlich sein, aber begreiflich, meinen wir, ist es
0183auch. Ganz anders hätte sich die Theilnahme wahrscheinlich
0184gestaltet, wenn Heinrich Esser, der damals noch in Salz-
0185burg lebte, und Joachim, der als Besitzer einer Salzbur-
0186ger Villa seinen Sommer dort zubringt, ihre Unterschrift
0187unter den Aufruf gesetzt hätten. Aber leider wollte die „Inter-
0188nationale Mozart-Stiftung“ gerade die Fachmusiker, also die-
0189jenigen Männer ausgeschlossen haben, deren Name und Bürg-
0190schaft in der Musikwelt den Ausschlag gibt. Jedes
0191solide neue Kunstunternehmen muß zunächst an das
0192Bestehende, Gegebene anknüpfen und die vorhandenen
0193bewährten Anfänge weiterführen, nicht sie unterdrücken.
0194Gebt dem armen Collegen lieber einen Thaler, als „diesen
0195Kuß der ganzen Welt“! Die „Internationale Mozart-Stiftung“
0196muß unseres Erachtens um jeden Preis ihre nächste Thätig-
0197keit auf die Hebung und Consolidirung der Musikzustände
0198der Stadt Salzburg und des Landes Salzburg wenden,
0199sie muß mit der Unterstützung ihrer Landsleute beginnen,
0200bevor sie etwa einen herabgekommenen russischen Hornisten
0201neu kleidet oder talentvolle Negerknaben auf der Ocarina
0202unterrichten läßt. Und am Wohlthun im eigenen Lande wird
0203sie kein Bischof und kein Erzbischof hindern. Ein Mißverstehen
0204aller gegebenen Verhältnisse ist es ferner, wenn die Herren
0205von der Mozart-Stiftung eine „musikalische Hochschule
0206in Salzburg errichten wollen. Wenn sie Millionen zur Ver-
0207fügung hätten, sie könnten das nicht; denn nur in Residen-
0208zen wie Wien oder Berlin, nur wo eine große Oper, regel-
0209mäßige Orchester-Concerte, ein lebhafter Musikverlag, reiche
0210musikalische und wissenschaftliche Bibliotheken bestehen, kann
0211eine musikalische Hochschule blühen und wirken — in einer
0212Provinzialstadt wie Salzburg niemals. Auch an den Bau
0213eines neuen Concertsaals, Errichtung einer musikalischen „Uni-
0214versal-Bibliothek“ (!) u. dgl. braucht Salzburg noch lange
0215nicht zu denken. Solche Phantasien sollte die „Internationale
0216Mozart-Stiftung“, herzhaft aus ihrem Programme streichen,
0217damit sie nicht in den Verdacht komme, sich für allmächtig
0218zu halten. Scheint sie doch selbst von finanzieller Allmacht
0219oder Macht noch entfernt zu sein, sonst hätte sie gewiß den
0220beim Musikfest mitwirkenden fremden Künstlern ein Honorar
0221zugestanden. Sie Alle aber, vom Dirigenten Dessoff an bis
0222zum Paukenschläger, haben ohne einen Heller Entgelt das
0223ganze Musikfest ausgeführt, dessen Anregung allerdings
0224ein von uns gerne gewürdigtes Verdienst der Mozart-Stiftung
0225bleibt. Die hier vorgebrachten Bedenken entspringen keiner
0226Art von Tadelsucht, sondern lediglich dem ehrlichen Wunsche,
0227es möge die Mozart-Stiftung, deren Protectoren so hoch-
0228stehend wie ihre Gründer hochgeachtet sind, nicht aus miß-
0229verstandenem Idealismus einem Größenwahne zusteuern,
0230welcher zu den bedrängten Musikzuständen des eigenen Lan-
0231des übel stimmt und außer Land früher oder später seine
0232Ohnmacht verrathen muß.

Fußnoten
  • *)*) Ihre Namen sind: Johann Engl, Franz Gessele, Math.
    Gschnitzer, Dr. Harrer, Dr. Hirschfeld, Johann Horner,
    C. Kautetzky, Ignaz Kholler, R. v. Mertens, Adolph
    Rosian, H. Schläger, Franz Schöberl, C. Spängler, Baron
    Sterneck, Hanns Wörnhardt.