Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4683. Wien, Samstag, den 8. September 1877
[1]Grillparzer und die Musik.
(Dritter und letzter Artikel.)
0003Ed. H. Wenden wir uns zu Grillparzer’s ästhetischer
0004Anschauung vom Wesen und Inhalt der Musik im All-
0005gemeinen. Sie fußte, um es kurz zu fassen, auf dem Princip
0006der eingeborenen, nur eigenem Gesetze folgenden Schönheit
0007des musikalischen Gedankens und seiner Entwicklung. Solche
0008Schönheit dürfe der geistigen Beseelung nicht ermangeln und
0009schließe das Charakteristische nicht aus; doch müsse die Musik
0010nicht einseitig auf Letzteres ausgehen und ihren Gehalt in
0011poetischer Bedeutsamkeit suchen. Was Grillparzer in der
0012modernen Richtung irrthümlich erschien und ihm antipathisch
0013war, ist eben die Bettelei der Tonkunst bei den Schwester-
0014künsten, das Anrufen eines fremden, nichtmusikalischen, blos
0015poetischen Interesses. „Die Stärke braucht, und nicht die
0016Schwächen!“ ruft er den modernen Componisten zu, „sonst
0017wird die Kunst ihr Höchstes nie. Geläng’s der Tonkunst je
0018zu sprechen — wär’ sie verpfuschte Poesie.“ Grillparzer
0019wollte die Grenzen der einzelnen Künste, Poesie, Malerei,
0020Musik, rein gehalten wissen und erklärt den oft gebrauchten
0021Satz: die Musik ist eine Poesie in Tönen, für ebenso un-
0022wahr, als es der entgegengesetzte sein würde: die Poesie ist
0023eine Musik in Worten. „Der Unterschied dieser beiden Künste
0024liegt nicht blos in ihren Mitteln, er liegt in den ersten
0025Gründen ihres Wesens.“ In den eingangs erwähnten un-
0026gedruckten Tagebuchblättern Grillparzer’s findet sich ein
0027längerer Artikel über Weber’s „Freischütz“, worin
0028Grillparzer ausführlicher als sonst seine Ideen über die Auf-
0029gabe der Musik und ihr Verhältniß zur Dichtung ausführt.
0030Ich theile den merkwürdigen Aufsatz hier (mit einigen noth-
0031wendig gewordenen Kürzungen) zum erstenmale mit:
0032„Der Freischütz.“ Oper von Maria Weber.
0033Der Tonsetzer gehört offenbar ein wenig in die Classe der-
0034jenigen, die den Unterschied zwischen Poesie und Musik,
0035zwischen Worten und Tönen verkennen. Die Musik hat keine
0036Worte, das heißt willkürliche Zeichen, die eine Bedeu-
0037tung erst durch das erhalten, was man damit bezeichnet.
0038Der Ton ist, nebstdem daß er ein Zeichen sein kann, auch
0039noch eine Sache. Eine Reihe von Tönen gefällt, sowie eine
0040gewisse Form in den plastischen Künsten, ohne daß man noch
0041eine bestimmte Vorstellung damit verbunden hätte; ein Miß-
0042ton mißfällt, wie das Häßliche in der Plastik, schon rein
0043physisch, ohne weitere Verstandesbeziehung. Wenn die Wir-
0044kung der Worte auf den Verstand und erst durch diesen auf
0045das Gefühl geschieht, indeß die Sinne dabei eine nur dienende
0046Rolle spielen, so wirkt die bildende und die Tonkunst
0047unmittelbar auf die Sinne, durch diese auf das Gefühl, und
0048der Verstand nimmt erst in letzter Instanz an dem Gesammt-
0049Eindrucke theil. Diese Betrachtung hat auch in der bildenden
0050Kunst die größten Kenner (worunter man blos Mengs,
0051Lessing und Goethe zu nennen braucht) dahin geführt, die
0052Schönheit der Form als unerläßliches, ja als höchstes Gesetz
0053für sie aufzustellen. Was von der bildenden Kunst gilt, gilt
0054in noch viel höherem Grade von der Musik. Ihre erste
0055unmittelbare Wirkung ist Sinn- und Nervenreiz . . .
0056Schreitet man in der Betrachtung der Töne und ihrer Ver-
0057bindungen weiter fort, so zeigt sich bald eine neue Seite,
0058welche die zu einer schönen Kunst nothwendige Verbindung
0059mit dem Verstande wirklich herstellt und eine Musik als
0060Kunst möglich macht. Nebstdem nämlich, daß die Töne an
0061sich gefallen oder mißfallen, lehrt uns auch das Bewußtsein,
0062daß durch sie besondere Gemüthszustände erweckt werden, zu
0063deren Bezeichnung sie denn auch gebraucht werden können.
0064Freude und Wehmuth, Sehnsucht und Liebe haben ihre Töne . . .
0065Doch darf man zweierlei nicht vergessen. Erstens: daß diese
0066Bezeichnung keine genau bestimmte, wie durch Be-
0067griffe und Worte ist; zweitens: daß die ursprüng-
0068liche, rein sinnliche Natur der Töne durch keine
0069später hinzukommende Erweiterung der Bedeutung ganz
0070aufgehoben werden kann . . . daß daher bei der ziem-
0071lich vagen Bezeichnungsfähigkeit der Musik der nur entfernt
0072wirkende Verstand nicht fähig ist, durch seine Billigung unan-
0073genehme Eindrücke auszugleichen, welche die Sinne mit über-
0074wiegender Gewalt empfangen haben. Was erstens die Be-
0075zeichnungsfähigkeit der Musik betrifft, so bin ich erbötig, bei
0076jeder beliebigen Opern-Arie Mozart’s, des unstreitig größten
0077aller Tonsetzer, die Worte durchhaus, ja sogar den Modus
0078der Empfindung zu ändern, ohne daß Jemand, der das
0079Musikstück nun zum erstenmal hört, daran ein Arges haben
0080und es weniger bewundern soll. Oder noch schlagender:
0081Man nehme die charakteristischeste Symphonie Beethoven’s
0082und lasse von zehn geistreichen, in der Poesie und Musik er-
0083fahrenen Männern einen passenden Text daruntersetzen und
0084erstaune dann, was für Verschiedenheiten sich da zeigen wer-
0085den. Ja vielmehr ist eben dies das unterscheidende Kenn-
0086zeichen der Musik vor allen Künsten, daß in ihr Symphonien,
0087Sonaten, Concerte möglich sind, Kunstwerke nämlich,
0088die, ohne etwas Genau-Bestimmtes zu bezeichnen, rein durch
0089ihre innere Construction und die sie begleitenden dunklen
0090Gefühle gefallen. Gerade diese dunklen Gefühle sind das
0091eigentliche Gebiet der Musik. Hierin muß ihr die Poesie
0092nachstehen . . . Alles, was höher geht und tiefer als
0093Worte gehen können, das gehört der Musik an, da ist sie
0094unerreicht. In allem Andern steht sie ihren Schwesterkünsten
0095nach . . . Es folgt daraus, daß die Musik vor Allem
0096streben soll, das zu erreichen, was ihr erreichbar ist . . . .
0097daß, so wie der Dichter ein Thor ist, der in seinen Versen
0098den Musiker im Klang erreichen will, ebenso der Musiker
0099ein Verrückter ist, der mit seinen Tönen dem Dichter an
0100Bestimmtheit des Ausdruckes es gleichthun will; daß
0101Mozart der größte Tonsetzer ist und Karl Maria
0102Weber — nicht der größte.“
0103Der Aufsatz bricht hier unvollendet ab. Ohne Zweifel
0104hätte Grillparzer in Fortsetzung desselben das glänzende
0105Talent Weber’s und dessen auch im Reinmusikalischen so
0106blühende reiche Erfindung anerkannt. Nur die herrschende
0107einseitige Ueberschätzung des charakteristischen Elements im
0108„Freischütz“ mag in Grillparzer die Opposition und damit
0109das Bedürfniß geweckt haben, sich über diese Erscheinung
0110theoretisch klar zu werden. Ich halte es für unmöglich, daß
0111ein Dichter wie Grillparzer, oder sagen wir ein Musiker wie
0112Grillparzer, gleichviel, sich dem Zauber des „Freischütz“
0113verschließen konnte. Weit begreiflicher ist, daß Weber’s
0114„Euryanthe“ ihm mißfiel und daß er in dieser Abneigung
0115mit Beethoven zusammentraf. (X. 21.) In „Euryanthe“
0116erblickte Grillparzer bereits jene Uebertreibung des charakte-
0117ristischen Ausdruckes, welche ihm als ein das gesunde Werk[2]
0118der Musik benagender Wurm erschien und dessen schließlichen
0119Sieg über das musikalisch Schöne er fürchtend voraussah.
0120„Unsinnig“ nennt es Grillparzer, „die Musik bei der Oper
0121zur bloßen Sklavin der Poesie zu machen“, und fährt weiter
0122fort: „Wäre die Musik in der Oper nur da, um das noch
0123einmal auszudrücken, was der Dichter schon ausgedrückt hat,
0124dann laßt mir die Töne weg . . . Wer deine Kraft kennt,
0125Melodie! die du, ohne der Worterklärung eines Begriffes
0126zu bedürfen, unmittelbar aus dem Himmel, durch die Brust
0127wieder zum Himmel zurückziehst; wer deine Kraft kennt,
0128wird die Musik nicht zur Nachtreterin der Poesie machen:
0129er mag der letzteren den Vorrang geben (und ich glaube, sie
0130verdient ihn auch, wie ihn das Mannesalter verdient vor
0131der Kindheit), aber er wird auch der ersteren ihr eigenes,
0132unabhängiges Reich zugestehen, beide wie Geschwister be-
0133trachten, und nicht wie Herrn und Knecht oder auch nur wie Vor-
0134mund und Mündel.“ Als Grundsatz will er festgehalten wissen:
0135„Keine Oper soll vom Gesichtspunkte der Poesie betrachtet
0136werden — von diesem aus ist jede dramatisch-musika-
0137lische Composition Unsinn — sondern vom Gesichtspunkte
0138der Musik.“ Grillparzer macht keine Ausnahme für seine
0139„Melusina“; er ist weit entfernt von der Prätension, die-
0140ses Operntextbuch für ein dramatisches Gedicht von
0141selbstständigem Werthe auszugeben, obwol es in sei-
0142ner Behandlung des Phantastischen wie in zahl-
0143reichen einzelnen Stellen den großen Dichter verräth.
*)
0158Noch in mehreren seiner ästhetischen Fragmente behandelt
0159Grillparzer dasselbe Thema, stets in gleichem Sinne und in
0160derselben klaren, scharf abgrenzenden Sprache. Ich muß es
0161mir versagen, noch mehr daraus anzuführen zur Charak-
0162teristik des Kunstphilosophen Grillparzer. Wir haben ihn
0163schließlich noch als Musik-Kritiker kennen zu lernen.
0164Für die Oeffentlichkeit hat er dieses Talent niemals aus-
0165geübt, aber seinen Reise-Tagebüchern vertraute Grillparzer
0166Bemerkungen über Musik-Productionen und Opernvorstel-
0167lungen an, welche sein feines, scharfes, von Anderer Mei-
0168nung stets unabhängiges Urtheil glänzend darthun. In
0169Italien gab es damals, wie jetzt, nichts Außerordent-
0170liches zu hören; Grillparzer’s Reise-Tagebuch beschränkt sich
0171auf die unbarmherzige Kritik einer einzigen elenden Opern-
0172vorstellung in Rom: Pacini’s „Isabella“. Desto beredter
0173schildert er den tiefen Eindruck, den die Kirchenmusik in der
0174Sixtina während der Charwoche auf ihn macht. Ergiebigeren
0175Musikstoff bietet ihm Paris. In der Opéra Comique hört
0176er Dalayrac’s einactige Oper „Die beiden Savoyarden“.
0177Diese haben, nach Grillparzer, „zu gleicher Zeit mit den
0178Haarzöpfen zu gefallen aufgehört. Zugleich die niederträch-
0179tigste Vorstellung. Die beiden Menschen spielten, als ob sie
0180aus Wien von Düport’s kleiner Oper verschrieben wären,
0181und sangen, wie die Dienstmägde bei der Wäsche. Die
0182Männer muß man aus den Billeteuren und Feuerwächtern
0183recrutirt haben. Von einem solchen Chor hat man keine
0184Idee. Sie trafen nie auf den Tactstreich zusammen und
0185thaten, als wenn in einer komischen Oper die Musik
0186ein Spaß wäre“. Man sieht, Grillparzer wäre als
0187Musik-Referent kaum sehr beliebt geworden bei Sän-
0188gern und Opern-Directoren. Günstiger spricht er schon
0189über die komische Oper desselben Abends, „Sarah“, von
0190Grisar. „Die Chöre gingen viel besser, jedoch die schwie-
0191rigeren Stellen ohne Genauigkeit. Das Orchester oft aus-
0192gezeichnet, immer gut. Vorzüglich Hörner und Violinen.“
0193Hier wie in allen musikalischen Berichten spricht Grillparzer
0194mit dem Interesse und der Sicherheit des Fachmannes. Er
0195geht stets auf musikalisches Detail ein und vergißt über den
0196Solosängern nie die Leistungen des Chors und Orchesters.
0197Eine zweite Eigenthümlichkeit, die Grillparzer’s Opern-
0198besprechungen auszeichnet, liegt darin, daß er, der Drama-
0199tiker, von dem Spieltalent der Sänger unbeirrt, stets ihren
0200Gesang in erster, ihren dramatischen Ausdruck erst in zweiter
0201Linie schätzt und beurtheilt. Der Musiker in ihm ist unbe-
0202stechlich, freilich oft auch unbarmherzig. In der Großen Oper
0203sind ihm namentlich die Männer „unangenehm“. Sie sind
0204ihm, „was man dramatische Sänger nennt, das heißt schlechte.
0205Sie verstehen sich ziemlich vortrefflich darauf, die Winkel-
0206poesie eines erbärmlichen Opernbuches geltend zu machen,
0207sind aber nicht im Stande, die musikalischen Intentionen
0208einer guten Composition ins Leben zu bringen. Aus einem
0209Chor herauszuschreien oder die Lichter auf finstere Violon-
0210Hintergründe aufzusetzen, dazu sind sie ganz die Leute; die
0211Cantilene mag aber besorgen, wer Lust hat“. Sogar der be-
0212rühmte Tenor Nourrit behagt ihm nicht; seine kurze
0213Charakteristik lautet: „Hohe Halsstimme, ohne eigentlichen
0214Klang, nur wirksam, wo er schreit.“ In den „Hugenotten“
0215„wirkt der Bassist Sardou allein musikalisch, alle Anderen
0216sind singende Comödianten“. Den Levasseur (Marcell)
0217lobt Grillparzer als vorzüglichen Darsteller. „Aber es klingt
0218bei Allen, als ob man ein Violinstück auf einer Bratsche
0219spielte — rauh, unangenehm, klanglos. Ich glaube, wenn
0220Einer falsch sänge, man würde es nicht sehr merken. Es sind
0221so Communtöne. Freundlicher urtheilt er über die Sängerinnen,
0222insbesondere die Falcon (Valentine), die er, mit Ausnahme
0223der Pasta, dem Besten an die Seite stellt. „Ihr Gesang thut
0224dem Spiel, ihr Spiel dem Gesang nirgends Eintrag.“
0225Entzückt und erstaunt ist Grillparzer eigentlich nur über
0226das Ausstattungswesen in der Großen Oper, Halévy’s
0227„Jüdin“ ist ihm als Composition „ohne Interesse“. „Aber,“
0228ruft er aus, „welche äußere Ausstattung! Die Decorationen
0229Wirklichkeiten, aber nein: Bilder. Bilder, von deren Wir-
0230kung man bei uns keine Vorstellung hat. Hier zum ersten-
0231male in meinem Leben habe ich ein theatralisches Arrange-
0232ment gesehen.“ Einen weit günstigeren Eindruck empfängt er
0233von Meyerbeer’s „Hugenotten“. Die Musik beginnt für ihn
0234eigentlich erst mit dem Duett im dritten Act (Valentine und
0235Marcell), von da an „werden die Situationen von der Musik
0236auf’s hinreißendste unterstützt“. In London entzückt ihn die
0237Malibran. Grillparzer hört sie in einer Oper von Balfe,
0238die er mit den zwei Worten „langweilig und bunt“ charak-
0239terisirt. Aber „die Malibran vortrefflicher als jemals,[3]
0240besonders in dem Walzer, der das Ganze höchst unschicklich
0241schließt, den sie aber mit einer Virtuosität sang, die Alles
0242hinter sich läßt. Dieser leichte Wechsel von hohen und tiefen
0243Tönen in dem schnellsten Zeitmaße, diese völlig ausgebildeten
0244Prelltriller, dieser vollendete Geschmack im Uebergehen zu der
0245wiederkehrenden Anfangsmelodie, dieses Aufjubeln, diese tiefe
0246Empfindung!“ In dem Londoner Tagebuche finden sich noch
0247Urtheile über die Grisi, Tamburini, Rubini, Ole Bull,
0248Moscheles — treffende Bemerkungen, die ein Musik-Kritiker
0249von Fach nicht ohne Brotneid lesen kann, die man aber in
0250dem Buche selbst nachschlagen möge. Ich muß meinem er-
0251schreckend angewachsenen Aufsatze ein Ziel setzen, umsomehr, als ich
0252schließlich noch das Interessanteste mitzutheilen habe: eine
0253Wiener Opernkritik, die der Leser nirgends nachschlagen
0254kann, weil sie nirgends gedruckt ist. Es enthalten nämlich
0255jene mehrfach erwähnten musikalischen Tageblätter Grill-
0256parzer’s einen Aufsatz: „Aufführung der Oper „Robert
0257der Teufel“ im Theater am Kärntnerthor.“ Darin wird
0258diese Hoftheater-Vorstellung mit der früheren Aufführung
0259derselben Oper im Josephstädter Theater verglichen. Mit
0260Hinweglassung einiger für uns unwesentlicher Stellen lautet
0261Grillparzer’s Kritik wie folgt: „Was nun vor Allem den
0262Hebel des Ganzen, die Rolle des Bertram, betrifft, so hat
0263mich Herr Staudigl doppelt überrascht. Einmal hinsicht-
0264lich des Spieles. Wenn ich mir Pöck’s classische Ruhe, feine
0265edle Haltung vor die Augen brachte, wie er, ohne die Linie
0266des Schönen zu verletzen, doch alle die schauerlichen Wir-
0267kungen seiner Rolle hervorbringt und sich dadurch zum leuch-
0268tenden Mittelpunkte des Ganzen machte, so mußte ich für
0269jeden Nachahmer verzweifeln. Herr Staudigl hat aber nicht
0270nachgeahmt. Die Art, wie er seine Rolle auffaßte, gehört
0271zwar einer niedern Region an; es ist die Art, wie das böse
0272Princip gewöhnlich dargestellt zu werden pflegt. Anfangs war
0273er sichtlich befangen und unscheinbar, später hob er sich aber
0274und gab der Beschwörungs-Arie ein Relief, das sie in
0275Pöck’s Darstellung nicht hatte. Die zweite Ueberraschung
0276oder vielmehr Täuschung war sein Gesang. Wenn Niemand
0277in DeutschlandStaudigl’s Sarastro oder Orovist erreichen
0278wird, so dürfte dafür in halb Europa kein Gegenbild zu
0279Pöck’s metallreicher, einschmeichelnder Seelenstimme gefunden
0280werden. Es gibt edle Naturen in der Kunstwelt wie in der
0281sittlichen. Man kann sie durch Bemühung theilweise über-
0282bieten, im Ganzen aber nie erreichen. Hier war Staudigl
0283von vornherein im Nachtheile, farb- und klanglos. . . . Er
0284schadete sich noch dadurch, daß er, um den Umfang seiner
0285Stimme geltend zu machen, tiefe Töne hineinzog, an denen
0286die Tiefe bemerklicher war, als der Ton. Das Duett im
0287dritten Act (Binder und Staudigl) sank beinahe bis zur Un-
0288bedeutendheit. Die Sänger wurden zwar hervorgerufen, sie
0289fanden aber wol in ihrer eigenen Brust minder günstige
0290Richter. . . . Breiting (Robert) vereinigt manches Gute
0291mit so viel Abenteuerlichem in Spiel und Gesang, daß man
0292sich in Verlegenheit gesetzt findet. Seine Stimme ist die
0293Stimme vier oder fünf verschiedener Menschen, von denen
0294der Eine übel singt, der Andere gut. Wenn es ihm gelingt,
0295mit zusammengefaßter Kehle diese gewaltigen Töne zu bändi-
0296gen, so geräth Manches recht vorzüglich . . . Der Chor
0297scheint sich in neuester Zeit vorzüglich die Stärke zum
0298Hauptaugenmerk gemacht zu haben, ohne zu bedenken, daß
0299nicht alle Zuhörer mit den Ohren der Menge hören. Was
0300das Nonnenballet betrifft, so sehen wir im Josephstädter
0301Theater Tänzer, die Alles können, nur nicht tanzen. Die
0302Idee des Ballets schien mir aber dort viel richtiger auf-
0303gefaßt. Alle Bewegungen haben dort eine Beziehung auf den
0304Zweck, Robert zur Ergreifung des Zweiges anzulocken. Im
0305Kärntnerthor-Theater aber erscheinen die Tänzerinnen, führen
0306Nummer für Nummer vier oder fünf Erste auf, wobei sie
0307die Beine von sich strecken und sich um den Gang der Hand-
0308lung nicht im mindesten bekümmern. Und all das so reizlos,
0309so unverführerisch, daß man glaubt, Robert ergreife nur den
0310Zweig, um ihrer los zu werden.“
0311Meine Aufgabe war, zu zeigen, was für ein herrlicher
0312Musiker in Grillparzer steckte. Daß die Lösung dieser Auf-
0313gabe eine leichte und lohnende gewesen, indem sie meistens
0314mit Grillparzer’s eigenen Worten geschehen mußte, wird mir
0315Mancher vielleicht vorwerfen. Je kleiner mein Verdienst,
0316desto größer war meine Freude bei dieser Arbeit, unter welche
0317ich Grillparzer’s goldenen Spruch setzen darf:
0318Glücklich der Mensch, der fremde Größe fühlt
0319Und sie durch Liebe macht zu seiner eigenen.
0320Denn groß zu sein ist Wenigen vergönnt.