Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 4769. Wien, Dienstag, den 4. December 1877

[1]

Neue Bücher über Musik und Musiker.


0002Ed. H. Das seinem Ende zueilende Jahr zählt in
0003Bezug auf die musikalische Literatur in Deutschland nicht zu
0004den fruchtbarsten; indessen ganz ohne Erntesegen hat es uns
0005nicht gelassen. Daß die Fluth der Bayreuth-Broschüren, die
0006im vorigen Jahr Alles unter Wagner zu setzen drohte, sich
0007endlich verlaufen hat, wird Niemand beklagen. Es war hohe
0008Zeit, daß der musikalische Mensch auch wieder einmal von
0009was Anderem zu hören bekomme, als von den Leitmotiven
0010des Wotan und der Brunhilde.


0011Da stoßen wir gleich auf eine unscheinbare Broschüre,
0012die über einen vermeintlich längst erschöpften Gegenstand
0013Neues und Interessantes vorbringt. Wir meinen A. W.
0014Thayer’s neuesten „Kritischen Beitrag zur
0015Beethoven-Literatur
“. (Berlin, bei Weber.) „Er-
0016schöpft“ scheint die Kenntniß von Beethoven’s Lebensumstän-
0017den, natürlich nur in dem Sinne, daß heute kaum mehr zu
0018hoffen war, es werde nach so langem Zeitverlauf noch so
0019vieles Lückenhafte ergänzt, so vieles Irrthümliche berichtigt
0020werden können. In dieser Kunst kritischen Sichtens und
0021Durchforschens aller auf Beethoven bezüglichen That-
0022sachen hat aber Thayer seine Meisterschaft neuerdings er-
0023probt. Die neuen Aufschlüsse, die er diesmal, gleichsam als
0024Präludium zu dem dritten Band seiner Beethoven-Biographie,
0025mittheilt, betreffen Beethoven’s Verhältniß zu zwei von allen
0026Biographen sehr übel mitgenommenen Männern: Johann
0027Mälzl und Johann van Beethoven. Für
0028Beide wird Thayer’s Schrift zu einer Art „Rettung“,
0029wohlgemerkt, nicht auf Grund geistreicher Paradoxen,
0030sondern genauer, gewissenhafter Prüfung. Johann Mälzl,
0031der geniale Mechaniker und Erfinder des Metronoms, stand
0032anfangs in intimem Freundschaftsverhältniß zu Beethoven,
0033der mit ihm eine Concertreise nach England plante. Für
0034diese Concerte war die hauptsächlich auf England berechnete
0035Schlachtsymphonie“, welche Beethoven auf Mälzl’s An-
0036regung für dessen „Panharmonium“ componirt hatte, be-
0037stimmt. Die Reise unterblieb, da Beiden das nöthige Geld
0038fehlte: Mälzl überließ uneigennützig sein Eigenthum, die 
0039Partitur der „Schlacht bei Vittoria“, dem Componisten,
0040der sie instrumentirte und mit ungeheurem Erfolg aufführte.
0041Mälzl hat für die Aufopferung seiner Partitur und für
0042seine Mühe, die beiden ersten Concerte zu Stande zu bringen,
0043nie einen Kreuzer bekommen. Die traurige Thatsache steht
0044fest, daß Beethoven nach dem unerwarteten großen Erfolge
0045der „Schlachtsymphonie“ den Reiseplan ganz aufgab, sich
0046gänzlich von Mälzl lossagte und die folgenden Aufführungen
0047dieses Werkes nun zu seinem eigenen Vortheil veranstaltete.
0048Thayer constatirt, daß das allgemeine Vorurtheil gegen
0049Mälzl nur von Schindler herrühre, unterstützt von einer
0050sehr unrichtigen, im Zorne geschriebenen Angabe Beethoven’s,
0051zu dessen ungeheuren Erfolgen in den Jahren 1814 bis 1815 
0052doch niemand Anderer als Mälzl den Grund gelegt hatte.
0053— Noch bedeutsamer sind Thayer’s Aufklärungen über Beet-
0054hoven’s älteren Bruder Johann, den Apotheker in Linz 
0055und späteren Gutsbesitzer in Gneixendorf. Thayer, der an-
0056fangs unter dem Eindrucke des Schindler’schen Buches gegen
0057Johann van Beethoven selbst sehr voreingenommen gewesen,
0058gesteht, sein Urtheil auf Grund genauerer Nachforschungen sehr
0059zu Gunsten dieses Vielverleumdeten geändert zu haben. Be-
0060kanntlich nennt Schindler (und das ganze Heer seiner Nach-
0061schreiber) den Bruder Johann nur „das böse Princip“ in
0062Beethoven’s Leben. Thayer thut nun dar, daß nach allen
0063Quellen in einem Zeitraume von vierzehn vollen Jahren
0064(vom März 1808 bis 1822) niemals und nirgends Johann 
0065als handelnde Person in das Leben Ludwig’s eingegriffen,
0066wol aber in einem entscheidenden Falle Ludwig in das Leben
0067Johann’s. Letzterer hatte in Linz als Haushälterin ein
0068Mädchen bei sich, das aus einem früheren Liebesverhältnisse
0069ein uneheliches Kind besaß. Beethoven war irrthümlich be-
0070nachrichtigt worden, sein Bruder Johann wolle diese Haushälterin
0071heiraten — er eilt von Teplitz im October 1812 nach Linz,
0072um eine solche Verbindung zu verhindern. Johann empfing
0073ihn auf das herzlichste und räumte ihm das schönste Zimmer
0074seiner Wohnung ein. Obwol der Gast seines Bruders, wen-
0075dete sich Beethoven unermüdlich an den Bischof und die
0076Civilbehörden, damit das Mädchen gewaltsam entfernt werde.
0077Es gelang ihm, vom Polizei-Director ein Decret auszuwir-
0078ken, kraft dessen das Mädchen verhaftet und „per Schub“
0079nach Wien geschickt werden solle. Johann, wüthend darüber, 
0080machte nun eiligst Therese Obermayer zu seiner Frau, und
0081diese konnte man doch nicht mehr fortschicken! Tags darauf
0082verließ Beethoven Linz, in dem bitteren Bewußtsein, durch seinen
0083Mangel an Geduld und Mäßigung dieses unerwünschte Resul-
0084tat selbst herbeigeführt zu haben. Die heftigen Vorwürfe, welche
0085alle Beethoven-Biographen (als Echos von Schindler) gegen
0086Johann wegen dessen Verhalten in Beethoven’s letzten
0087Lebensjahren erheben, werden von Thayer durch Thatsachen,
0088glaubwürdige Zeugenaussagen und eigenhändige Briefe Beet-
0089hoven’s widerlegt. Niemals hat sich Johann unberufen in
0090Ludwigs Geschäftsangelegenheiten gemischt oder gar ihn be-
0091herrschen und ausbeuten wollen. Auch die angebliche Herz-
0092losigkeit, mit der Johann seinen Bruder in Gneixendorf be-
0093handelt und sogar dessen Todeskrankheit mitverursacht haben
0094soll, wird von Thayer als eine arge Uebertreibung und Ent-
0095stellung dargethan. Wir können selbstverständlich hier in das
0096Detail dieser Untersuchungen nicht eingehen und müssen uns
0097begnügen, auf die Bedeutung von Thayer’s neuester Schrift 
0098hinzuweisen. Sie ist nicht blos wichtig durch ihre positiven
0099Resultate, sondern zugleich als Strafgericht gegen all die
0100sentimentalen Novellisten und leichtfertigen Biographen,
0101welche Schuld tragen, daß manche der schreiendsten Irr-
0102thümer über Beethoven, von Geschlecht zu Geschlecht fort-
0103erbend, jetzt nach vierzig Jahren als unumstößliche Wahr-
0104heiten gelten. Daß Ludwig Nohl, der Vielschreiber, von
0105Thayer aufs schärfste mitgenommen wird, bedarf keiner aus-
0106drücklichen Versicherung.


0107Wenden wir uns von der strengen Geschichtsforschung
0108zur ästhetischen Betrachtung der Musik. Unter den jüngsten
0109Publicationen dieses Faches ragen zwei hervor durch die
0110Vorzüge ihres Inhalts und den Namen ihrer Autoren:
0111Ferdinand Hiller und Louis Ehlert. Wer hätte nicht
0112oft und gerne gelauscht, wenn Hiller, sei es was immer,
0113aus dem Tonleben der Gegenwart“ erzählte? Wo fände
0114sich eine solche Fülle anziehenden Stoffes mit gleichem Er-
0115zählertalent vereinigt? Obwol noch in den rüstigsten Jahren
0116— er ist 1811, im selben Jahre mit Liszt, geboren —
0117hat Hiller doch noch Goethe gekannt, Beethoven besucht,
0118Franz Schubert am Clavier belauscht; er zählte Heine, Ros-
0119sini, Chopin, Mendelssohn, Schumann zu seinen intimen
0120Freunden. Zu solchem Glück des Erlebens fügte ihm das [2]
0121Geschick die Gabe, das Erlebte warm und anschaulich zu
0122schildern. In seinem neuesten Buche entfaltet sich Hiller’s
0123ganze liebenswürdige Persönlichkeit wie eine Blume; es heißt:
0124Briefe an eine Ungenannte“ (Köln bei Dumont-
0125Schauberg). Ein geheimnißvoller Schleier ruht auf diesen
0126Briefen — weder Ort noch Zeit ihrer Abfassung sind an-
0127gedeutet, noch viel weniger Name und Stand der Adressatin.
0128Einzelne Anhaltspunkte verrathen dennoch, daß die Briefe
0129aus Köln und in jüngster Zeit (das Bayreuther Festspiel
0130wird erwähnt) geschrieben sind. Aber die Dame, an welche
0131Hiller so schwärmerisch schreibt, die hochgesinnte, geist-
0132volle „Ungenannte“ — wer mag sie sein? Wer, wie
0133ich, persönliches Interesse an dem Verfasser nimmt,
0134nicht blos literarisches, darf da wol ein bischen
0135neugierig sein. Aber auf eine leise Anfrage durch
0136zweite Hand erhielt ich von Hiller blos ein Blättchen mit
0137einigen Noten und seiner Unterschrift — nichts weiter. Die
0138notirte Melodie klang mir bekannt, ohne daß ich gleich den
0139Sinn erfaßte, bis mir endlich einfiel, das sei ja der Anfang
0140von Mendelssohn’s Lied: „Heiß’ mich nicht reden, heiß’ mich
0141schweigen!“ Also richtig, ein Geheimniß in strengster Form.
0142Jedenfalls muß die Dame einen tiefen, fast bezaubernden
0143Eindruck auf Hiller gemacht haben, und nicht seine Briefe
0144wieder auf sie — „Heiß’ mich nicht reden!“ Zum Glück hat
0145sie ihn reden heißen und nicht schweigen, wofür wir der
0146hohen Dame hiemit den Dank aller nunmehr Mitlesenden
0147aussprechen. Hiller ist fürwahr ein Briefsteller, wie ihn Gott 
0148und die Ungenannte verlangen. Das Talent der Causerie im
0149vornehmsten Sinne des Wortes besitzt Hiller in hohem
0150Maße; Frankreich ist hierin sein Adoptiv-Vaterland; ihm ver-
0151dankt Hiller die graziöse Form und Technik, seiner deutschen Heimat
0152den Inhalt. Mit leiser, sicherer Hand streift er die schwierig-
0153sten Fragen der musikalischen Psychologie, immer anregend,
0154erfreuend, belehrend; weder den Gegenstand noch den Leser
0155erschöpfend. Mehr als in einem früheren Werke Hiller’s
0156haben wir hier den ganzen Menschen. Es pocht ein jugend-
0157liches Herz verrätherisch durch diese Briefe; sollten sie
0158wirklich ganz vollständig abgedruckt sein, ganz und
0159gar getreu? „Heiß’ mich nicht reden“ . . . Es steht
0160vielleicht nicht Alles in dem gedruckten Buch, und
0161dennoch — aufrichtig gestanden — etwas zu viel. Ich meine 
0162alles dasjenige, was lediglich persönliche Huldigung ist, alle
0163Lobeserhebungen einer Person, die wir doch nicht kennen,
0164alle intimen Hindeutungen auf eine Beziehung, die dem
0165Leser ja absichtlich verschleiert, also unverständlich und gleich-
0166giltig ist. Wir wollen doch nur dasjenige lesen, was — ur-
0167sprünglich blos für Einen gedacht und geschrieben — doch
0168für Alle gedacht und geschrieben sein könnte. Was soll der
0169fernstehende Leser mit rein persönlichen Schwärmereien an-
0170fangen, wie die in Nr. 1, 2, 3, 33, 50 der Briefsammlung!
0171Ja selbst die wiederholte Anrede: „Verehrte Frau“, „Verehr-
0172teste Freundin“, welche in diesem dünnen Bande über hundert-
0173mal mitten im Context vorkommt, stört uns im Fluß der
0174Lectüre. In einer zweiten Auflage, die nicht lange ausbleiben
0175kann, wünschten wir diese ganze lyrische Harfenstimme aus
0176der Partitur gestrichen zu sehen. Mit dieser Bemerkung ist
0177das einzige leichte Bedenken abgethan, das sich mir bei der
0178genußreichen Lectüre der Hiller’schen Briefe aufdrängte; ich
0179kann oder ich könnte nun mit vollem Behagen auf den rei-
0180chen Inhalt des Buches selbst übergehen. Nach den drei
0181ersten nur präludirenden Briefen kommt Hiller auf die
0182Pflege und den Einfluß der Musik überhaupt zu sprechen,
0183auf die historische Entwicklung der Tonkunst, auf Instru-
0184mental- und Vocalmusik, auf das Componiren und Diri-
0185giren, auf Popularität, Talent, Nachruhm musikalischer Kri-
0186tik, auf den Kölner Carneval und sogar ein wenig auf Po-
0187litik; dazwischen erzählt er uns die anziehendsten Dinge von
0188Heine, Börne, Rossini, Chopin, Robert und
0189ClaraSchumann und Anderen. Ich werde mich hüten,
0190mehr davon zu verrathen — gehe ein Jeder hin und lese selber!


0191Louis Ehlert, der vor zwanzig Jahren gleichfalls mit
0192Briefen an eine Dame seine Schriftsteller-Laufbahn eröffnet
0193hatte, bringt uns in einem elegant ausgestatteten Bande eine
0194Auswahl geistvoller Essays „Aus der Tonwelt“ (Ber-
0195lin bei E. Bock). Wenn wir neidisch auf die musikalische
0196Productivität früherer Epochen zurückblicken, so können wir
0197Epigonen uns wenigstens eines kleinen Fortschrittes freuen;
0198es ist gewiß zu keiner Zeit so reichlich und so gut über Musik
0199geschrieben worden, wie heute. Man sehe nur die Bücher
0200von F. Hiller, Ehlert, Gumprecht und Anderen. In
0201Hiller schlägt der Künstler und Poet, der liebenswürdige
0202Mensch vor, in Ehlert der scharfe Kritiker. Dieselbe Ueber-
0203zeugung wird man bei Hiller mit einem gewissen wohl-
0204wollenden Humor ausgesprochen finden, während sie bei Ehlert 
0205scharf und unerbittlich klingt, wie eine frei angeschlagene
0206Dissonanz. Ehlert ist stets von leidenschaftlichem Ernste er-
0207füllt; in seinem Eifer, für seine Urtheile den aller-
0208prägnantesten Ausdruck zu finden, verfällt er mit-
0209unter ins Sonderbare und stylistisch Gezwungene. Aber
0210das beengt uns nicht, wo die Gedanken geistreich und
0211eigenthümlich sind und so augenscheinlich der tiefsten Ueber-
0212zeugung des Verfassers entquillen. Diese Vereinigung von
0213scharfem, eigenthümlichem Denken und herzhafter Aufrichtig-
0214keit macht uns Ehlert’s Kritiken sehr werth, auch wo sie
0215uns nicht völlig zu bekehren vermögen. Ehlert ist entschiedener
0216Wagnerianer, ein Entzückter und doch kein Verrückter. Be-
0217geistert für das, was ihm an Wagner groß und schön er-
0218scheint, leugnet er doch dessen Unfehlbarkeit. Er beschönigt
0219nicht Wagner’s Schwächen und geht namentlich mit dessen
0220Dichtungen streng ins Gericht. Ehlert wird es vielleicht zu
0221danken sein, wenn sich allmälig eine Partei der „vernünfti-
0222gen Wagnerianer“ bildet, wovon bis heute nur äußerst selten
0223vereinzelte Exemplare vorkommen. Schon die Gerechtigkeit und
0224liebevolle Hingebung, mit welcher Ehlert in einem eigenen
0225Artikel Mendelssohn feiert, trennt ihn von der herr-
0226schenden Majorität der durchaus unduldsamen und vor Allem
0227Mendelssohn- und Meyerbeerfeindlichen Wagnerianer. Außer-
0228dem sind die Essays über Chopin und Robert Schu-
0229mann
ob ihrer feinen, geistreichen Beobachtungen besonders
0230hervorzuheben. Fünf von den in Ehlert’s Buch enthaltenen
0231Essays beschäftigen sich mit Richard Wagner. Das Be-
0232streben, gerecht und unbefangen zu sein, muß ich Ehlert’s Be-
0233richten aus Bayreuth nachrühmen, wenn mir auch für mein
0234Theil das Glaubensbekenntniß F. Hiller’s über Wagner’s
0235Nibelungen“ sympathischer ist. „Wer weiß,“ schreibt Hiller 
0236an seine Ungenannte, „ob Sie nicht eines Tages doch nach
0237Bayreuth wandern werden, verehrte Freundin, wenn auch
0238nur aus der gerechtfertigtesten Neugierde. Was mich betrifft,
0239so ist meine tiefinnerste Abneigung gegen eine derartige Dich-
0240tung so unüberwindlich, daß ich, wenn der liebe Gott in
0241eigener Person zu mir käme, um mich eines Besseren zu be-
0242lehren, zu ihm sagen würde: „Allen Respect, lieber Papa
0243— aber diesmal bist du im Irrthum.“