[VII]
V2.1Die vorliegende sechste Auflage dieser zuerst im
J. 1854 erschienenen Schrift unterscheidet sich von der fünften
(1876) nicht durch wesentliche Umgestaltung, sondern nur durch mancherlei
erklärende und erweiternde Beisätze. Ich möchte sie am liebsten mit denselben Worten
einleiten, welche der treffliche Fr. Th.
Vischer
so eben dem Wiederabdruck einer älteren Abhandlung („der Traum“) vorausschickt.
1
„Ich nehme,“
sagt Vischer,
„diese Studie in die gegenwärtige Sammlung auf, ohne sie gegen Angriffe,
die sie erfahren hat zu schützen. Auch verbessernden Ueber
[VIII] arbeitens
habe ich mich enthalten, ausgenommen kleine unwichtige Nachhülfen. Ich würde
jetzt manches vielleicht anders sagen, mehr auseinandersetzen, gedeckter,
beschirmter hinstellen; wem gefällt eine Arbeit ganz, wenn er sie nach Jahren
wieder liest? Allein man weiß auch, wie leicht mit nachbesserndem Eingreifen
mehr verderbt als besser gemacht wird.“
V2.2Wollte ich hier in Polemik eingehen, auf alle
Kritiken antwortend, welche meine Schrift hervorgerufen hat, so würde dieses Büchlein
zu einem erschreckend starken Band anschwellen. Meine Ueberzeugungen sind dieselben
geblieben, desgleichen die Positionen der schroff sich gegenüberstehenden
Musikparteien der Gegenwart. 2 Der Leser wird
mir daher wohl auch die Wiederholung einiger Bemerkungen gestatten, mit welchen ich
das Erscheinen der dritten Auflage begleitet
habe. Der Mängel dieser Abhandlung bin ich mir sehr
[IX] lebhaft bewußt.
Demungeachtet hat das weit über Erwarten günstige Schicksal der früheren Auflagen
und
der mich hocherfreuende Antheil, mit welchem Männer wie
Vischer
, D. Fr.
Strauß
,
Lotze
,
Lazarus
, M.
Hauptmann
,
Ambros
, Otto Jahn
, Ferd.
Hiller
,
Helmholtz
, in neuester Zeit H.
Ehrlich
und besonders H. A.
Köstlin
davon Act nahmen, mich überzeugt, daß meine Ideen, auch in der etwas scharfen
und rhapsodischen Weise ihres ursprünglichen Auftretens auf gutes Erdreich gefallen
sind. Eine merkwürdige Uebereinstimmung mit diesen Anschauungen fand ich, auf’s
freudigste überrascht, in den erst vor 10 Jahren, nach dem Tode des Dichters,
erschienenen kleinen Aufsätzen und Aphorismen über Musik von
Grillparzer
. Einige der werthvollsten dieser Aussprüche habe ich in dieser neuen Auflage
zu citiren mir nicht versagen können; ausführlicher ist davon in meinem Essai: „
Grillparzer und die
Musik
“ gehandelt. 3
V2.3Leidenschaftliche Gegner haben mir mitunter eine
vollständige Polemik gegen Alles, was Gefühl heißt, aufgedichtet, während jeder
unbefangene und aufmerksame Leser doch unschwer
[X] erkennt, daß
ich nur gegen die falsche Einmischung der Gefühle in die Wissenschaft
protestire, also gegen jene ästhetischen Schwärmer kämpfe, die mit der Prätension,
den Musiker zu belehren, nur ihre klingenden Opiumträume auslegen. Ich theile
vollkommen die Ansicht, daß der letzte Werth des Schönen immer auf unmittelbarer
Evidenz des Gefühls beruhen wird. Aber ebenso fest halte ich an der Ueberzeugung,
daß
man aus all’ den üblichen Appellationen an das Gefühl nicht ein einziges
musikalisches Gesetz ableiten kann.
V2.4Diese Ueberzeugung bildet den einen, den
negativen Hauptsatz dieser Untersuchung. Er wendet sich zuerst und
vornehmlich gegen die allgemein verbreitete Ansicht, die Musik habe „Gefühle
darzustellen.“ Es ist nicht einzusehen, wie man daraus die „Forderung einer absoluten
Gefühllosigkeit der Musik“ herleiten will. Die Rose duftet, aber ihr „Inhalt“ ist
doch nicht „die Darstellung des Duftes“; der Wald verbreitet schattige Kühle, allein
er stellt doch nicht „das Gefühl schattiger Kühle dar.“ Es
ist kein müßiges Wortgefecht, wenn ausdrücklich gegen den Begriff „darstellen“
vorgegangen wird, denn aus ihm sind die größten Irrthümer der musi
[XI]
kalischen Aesthetik entsprungen. Etwas „darstellen“ involvirt immer die Vorstellung
von zwei getrennten, verschiedenen Dingen, deren eines erst ausdrücklich durch einen
besonderen Act auf das andere bezogen wird.
V2.5 Emanuel Geibel hat durch ein glückliches Bild dies Verhältniß anschaulicher und erfreulicher ausgedrückt, als philosophische Analyse es vermochte, und zwar in dem Distichon: 4 „Warum glückt es dir nie, Musik mit Worten zu schildern? / Weil sie, ein rein Element, Bild und Gedanken verschmäht. / Selbst das Gefühl ist nur wie ein sanft durchscheinender Flußgrund, / Drauf ihr klingender Strom schwellend und sinkend entrollt.“ / Wenn dies schöne Sinngedicht obendrein unter dem nachhallenden Eindruck dieser Schrift entstand, wie ich zu vermuthen Anlaß habe, so muß sich meine, von poetischen Gemüthern zumeist verketzerte Anschauung doch auch mit wahrer Poesie leidlich vertragen.
V2.6Jenem negativen Hauptsatz steht
correspondirend der positive gegenüber: die Schönheit eines Tonstücks
ist specifisch musikalisch, d. h. den Tonverbindungen ohne Bezug auf
einen
[XII] fremden, außermusikalischen Gedankenkreis innewohnend. Es lag in der redlichen
Absicht des Verfassers, das „Musikalisch-Schöne“ als Lebensfrage unserer Kunst und
oberste Norm ihrer Aesthetik vollständig zu beleuchten. Wenn trotzdem das polemische,
negirende Element in der Ausführung ein Uebergewicht erlangt, so wird man dieses in
Erwägung der besondern Zeitumstände hoffentlich entschuldigen. Als ich diese
Abhandlung schrieb, waren die Wortführer der Zukunftsmusik eben am lautesten bei
Stimme und mußten wohl Leute von meinem Glaubensbekenntniß zur Reaction reizen. Als
ich die zweite
Auflage veranstaltete, waren eben
Lisztʼs Programm-Symphonien hinzugekommen, welche vollständiger, als
es bisher gelungen ist, die selbstständige Bedeutung der Musik abdanken, und diese
dem Hörer nur mehr als gestaltentreibendes Mittel eingeben. Seither besitzen wir nun
auch Richard Wagnerʼs „Tristan,“
„Nibelungenring“ und seine Lehre von
der
„unendlichen Melodie,“
d. h. die zum Princip erhobene Formlosigkeit, den gesungenen und gegeigten
Opiumrausch, für dessen Cultus ja in Baireuth ein eigener Tempel eröffnet worden ist.
V2.7Man möge es mir zu Gute halten, wenn
[XIII] ich angesichts
solcher Zeichen keine Neigung fühlte, den polemischen Theil meiner Schrift zu kürzen
oder abzuschwächen, sondern im Gegentheil noch dringender auf das Eine und
Unvergängliche in der Tonkunst, auf die musikalische Schönheit hinwies,
wie sie unsre großen Meister verkörperten und echt musikalische Erfinder auch in
aller Zukunft pflegen werden.
Ed. H.
[1]
1.1Die bisherige Behandlungsweise der musikalischen Aesthetik leidet fast durchaus an dem empfindlichen Mißgriff, daß sie sich nicht sowohl mit der Ergründung dessen, was in der Musik schön ist, als vielmehr mit der Schilderung der Gefühle abgiebt, die sich unser dabei bemächtigen. Diese Untersuchungen entsprechen vollständig dem Standpunkt jener älteren ästhetischen Systeme, welche das Schöne nur in Bezug auf die dadurch wachgerufenen Empfindungen betrachteten und bekanntlich auch die Philosophie des Schönen als eine Tochter der Empfindung (αίσϑησιϛ) aus der Taufe hoben.
1.2An und für sich unphilosophisch, bekommen solche
Aesthetiken in ihrer Anwendung auf die
[2] ätherischeste
der Künste geradezu etwas Sentimentales, das, so erquickend als möglich für schöne
Seelen, dem Lernbegierigen äußerst wenig Aufklärung bietet. Wer über das Wesen der
Tonkunst Belehrung sucht, der wünscht eben aus der dunklen Herrschaft des Gefühls
herauszukommen, und nicht – wie ihm in den meisten Handbüchern geschieht –
fortwährend auf das Gefühl verwiesen zu werden.
1.3Der Drang nach einer möglichst objectiven Erkenntniß der Dinge, wie er in unserer Zeit alle Gebiete des Wissens bewegt, muß nothwendig auch an die Erforschung des Schönen rühren. Diese wird ihm nur dadurch genügen können, daß sie mit einer Methode bricht, welche vom subjectiven Gefühl ausgeht, um nach einem poetischen Spaziergang über die ganze Peripherie des Gegenstandes wieder zum Gefühl zurückzukehren. Sie wird, will sie nicht ganz illusorisch werden, sich der naturwissenschaftlichen Methode wenigstens soweit nähern müssen, daß sie versucht, den Dingen selbst an den Leib zu rücken, und zu forschen, was in diesen, losgelöst von den tausendfältig wechselnden Eindrücken, das Bleibende, Objective sei.
1.4Die Poesie und die bildenden Künste sind in ihrer ästhetischen Erforschung und Begründung dem gleichen Erwerb der Tonkunst weit voraus.
[3]
1.5Ihre Gelehrten haben größtentheils den Wahn abgelegt, es könne die Aesthetik einer bestimmten Kunst durch bloßes Anpassen des allgemeinen, metaphysischen Schönheitsbegriffs (der doch in jeder Kunst eine Reihe neuer Unterschiede eingeht) gewonnen werden. Die knechtische Abhängigkeit der Special-Aesthetiken unter dem obersten metaphysischen Princip einer allgemeinen Aesthetik weicht immer mehr der Ueberzeugung, daß jede Kunst in ihren eigenen technischen Bestimmungen gekannt, aus sich selbst heraus begriffen sein will. Das „System“ macht allmälig der „Forschung“ Platz und diese hält fest an dem Grundsatz, daß die Schönheitsgesetze jeder Kunst untrennbar sind von den Eigenthümlichkeiten ihres Materials, ihrer Technik. 5
[4]
1.6Sodann pflegen die Aesthetiken der redenden und der bildenden Künste sowie ihre praktischen Ausläufer, die Kunstkritiken, bereits die Regel festzuhalten, daß in ästhetischen Untersuchungen vorerst das schöne Object und nicht das empfindende Subject zu erforschen ist.
1.8Die Tonkunst allein scheint diesen
sachlichen Standpunkt noch immer nicht erringen zu können. Sie scheidet streng ihre
theoretisch-grammatikalischen Regeln von den ästhetischen Untersuchungen und liebt
es, erstere so trocken verständig, letztere so lyrisch-sentimental als möglich zu
halten. Sich ihren Inhalt als eine selbstständige Art des Schönen klar und scharf
gegenüber zu stellen, war der musikalischen Aesthetik bisher eine unerschwingliche
Anstrengung. Statt dessen treiben da die „Empfindungen“ den alten Spuk bei hellichtem
Tage fort. Das musikalisch Schöne wird nach wie vor nur von Seite seines subjectiven
Eindrucks angesehen, und in Büchern, Kritiken und
[5] Gesprächen
täglich bekräftigt, daß die Affecte die einzige ästhetische Grundlage
der Tonkunst und allein berechtigt seien, die Grenzen des Urtheils über dieselbe
abzustecken.
1.9Die Musik – so wird uns gelehrt – kann nicht durch Begriffe den Verstand unterhalten, wie die Dichtkunst, ebensowenig durch sichtbare Formen das Auge, wie die bildenden Künste, also muß sie den Beruf haben, auf die Gefühle des Menschen zu wirken. „Die Musik hat es mit den Gefühlen zu thun.“ Dieses „zu thun haben“ ist einer der charakteristischen Ausdrücke der bisherigen musikalischen Aesthetik. Worin der Zusammenhang der Musik mit den Gefühlen, bestimmter Musikstücke mit bestimmten Gefühlen bestehe, nach welchen Naturgesetzen er wirke, nach welchen Kunstgesetzen er zu gestalten sei, darüber ließen uns diejenigen vollkommen im Dunkeln, die eben damit „zu thun“ hatten. Erst wenn man sein Auge ein wenig an dieses Dunkel gewöhnt hat, gelangt man dahin, zu entdecken, daß in der herrschenden musikalischen Anschauung die Gefühle eine doppelte Rolle spielen.
1.10Für’s Erste wird als Zweck und Bestimmung der Musik aufgestellt, sie solle Gefühle oder „schöne Gefühle“ erwecken. Für’s Zweite bezeichnet man die Gefühle als den Inhalt, welchen die Tonkunst in ihren Werken darstellt.
[6]
1.11Beide Sätze haben das Aehnliche, daß der eine genau so falsch ist, wie der andere.
1.12Die Widerlegung des ersteren, die meisten musikalischen Handbücher einleitenden Satzes darf uns nicht lange aufhalten. Das Schöne hat überhaupt keinen Zweck, denn es ist bloße Form, welche zwar nach dem Inhalt, mit dem sie erfüllt wird, zu den verschiedensten Zwecken verwandt werden kann, aber selbst keinen andern hat, als sich selbst. Wenn aus der Betrachtung des Schönen angenehme Gefühle für den Betrachter entstehen, so gehen diese das Schöne als solches nichts an. Ich kann wohl dem Betrachter Schönes vorführen in der bestimmten Absicht, daß er daran Vergnügen finde, allein diese Absicht hat mit der Schönheit des Vorgeführten selbst nichts zu schaffen. Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird; also zwar nur für das Wohlgefallen eines anschauenden Subjects, aber nicht durch dasselbe.
1.13Von einem Zweck kann also in diesem Sinn auch bei der Musik nicht gesprochen werden, und die Thatsache, daß diese Kunst in einem lebhaften Zusammenhang mit unseren Gefühlen steht, rechtfertigt keineswegs die Behauptung, es liege in diesem Zusammenhange ihre ästhetische Bedeutung.
[7]
1.14Um dieses Verhältniß näher zu untersuchen, müssen wir vorerst die Begriffe „Gefühl“ und „Empfindung“ (– gegen deren Verwechselung im gewöhnlichen Sprachgebrauch nichts einzuwenden ist –) hier streng unterscheiden.
1.15 Empfindung ist das Wahrnehmen einer bestimmten Sinnesqualität: eines Tons, einer Farbe. Gefühl das Bewußtwerden einer Förderung oder Hemmung unsres Seelenzustandes, also eines Wohlseins oder Mißbehagens. Wenn ich den Geruch oder Geschmack eines Dinges, dessen Form, Farbe oder Ton mit meinen Sinnen einfach wahrnehme (percipire), so empfinde ich diese Qualitäten; wenn Wehmuth, Hoffnung, Frohsinn oder Haß mich bemerkbar über den gewöhnlichen Seelenzustand emporheben oder unter denselben herabdrücken, so fühle ich. 6
1.16Das Schöne trifft zuerst unsere Sinne. Dieser Weg
ist ihm nicht eigenthümlich, es theilt ihn mit allem überhaupt Erscheinenden. Die
Empfindung ist Anfang und Bedingung des ästhetischen Gefallens und bildet erst die
Basis des Gefühls, welches stets ein Verhältniß
[8] und oft die
complicirtesten Verhältnisse voraussetzt. Empfindungen zu erregen bedarf
es nicht der Kunst; ein einzelner Ton, eine einzelne Farbe kann das. Wie gesagt
werden beide Ausdrücke willkürlich vertauscht, meistens aber in älteren Werken
„Empfindung“ genannt, was wir als „Gefühl“ bezeichnen. Unsere
Gefühle also, meinen jene Schriftsteller, solle die Musik erregen und
uns abwechselnd mit Andacht, Liebe, Jubel, Wehmuth erfüllen.
1.17Solche Bestimmung hat aber in Wahrheit weder diese noch eine andere Kunst. Die Kunst hat vorerst ein Schönes darzustellen. Das Organ, womit das Schöne aufgenommen wird, ist nicht das Gefühl,7 sondern die Phantasie, als die Thätigkeit des reinen Schauens.
1.18Merkwürdig ist es, wie die Musiker und älteren
Aesthetiker sich nur in dem Contrast von „Gefühl“ und „Verstand“ bewegen, als läge
nicht die Hauptsache gerade inmitten dieses an
[9] geblichen
Dilemmas. Aus der Phantasie des Künstlers entsteigt das Tonstück für die Phantasie
des Hörers. Freilich ist die Phantasie gegenüber dem Schönen nicht blos ein
Schauen, sondern ein Schauen mit Verstand, d. i.
Vorstellen und Urtheilen, letzteres natürlich mit solcher Schnelligkeit, daß die
einzelnen Vorgänge uns gar nicht zum Bewußtsein kommen, und die Täuschung entsteht,
es geschehe unmittelbar, was doch in Wahrheit von vielfach vermittelnden
Geistesprocessen abhängt. Das Wort „Anschauung,“ längst von den Gesichtsvorstellungen
auf alle Sinneserscheinungen übertragen, entspricht überdies trefflich dem Acte des
aufmerksamen Hörens, welches ja in einem successiven Betrachten der Tonformen
besteht. Die Phantasie ist dabei keineswegs ein abgeschlossenes Gebiet: so wie sie
ihren Lebensfunken aus den Sinnesempfindungen zog, sendet sie wiederum ihre Radien
schnell an die Thätigkeit des Verstandes und des Gefühls aus. Dies sind für die echte
Auffassung des Schönen jedoch nur Grenzgebiete.
1.19In reiner Anschauung genießt der Hörer das
erklingende Tonstück, jedes stoffliche Interesse muß ihm fern liegen. Ein solches
ist
aber die Tendenz, Affecte in sich erregen zu lassen. Ausschließliche Bethätigung des
Verstandes durch das Schöne verhält sich logisch anstatt
ästhetisch,
[10] eine
vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist noch bedenklicher, nämlich
geradezu pathologisch.
1.20Alles das, von der allgemeinen Aesthetik längst entwickelt, gilt gleichmäßig für das Schöne aller Künste. Behandelt man also die Musik als Kunst, so muß man die Phantasie und nicht das Gefühl als die ästhetische Instanz derselben erkennen. Der bescheidene Vordersatz scheint uns darum räthlich, weil bei dem wichtigen Nachdruck, welcher unermüdlich auf die durch Musik zu erzielende Sänftigung der menschlichen Leidenschaften gelegt wird, man in der That oft nicht weiß, ob von der Tonkunst als von einer polizeilichen, einer pädagogischen oder medicinischen Maßregel die Rede ist.
1.21Die Musiker sind aber weniger in dem Irrthume befangen, alle Künste gleichmäßig den Gefühlen vindiciren zu wollen, als sie darin vielmehr etwas specifisch der Tonkunst Eigenthümliches sehen. Die Macht und Tendenz, beliebige Affecte im Hörer zu erwecken, sei es eben, was die Musik vor den übrigen Künsten charakterisire. 8
[11]
1.22Allein so wenig wir diese Wirkung als die Aufgabe
der Künste überhaupt anerkannten, so wenig können wir in ihr das specifische Wesen
der Musik erblicken. Einmal festgehalten, daß die Phantasie
das eigentliche Organ des Schönen ist, wird eine secundäre Wirkung auf das Gefühl
in
jeder Kunst vorkommen. Bewegt uns nicht ein großes Geschichtsbild mit
der Kraft eines Erlebnisses? Stimmen uns Raphaels Madonnen nicht zur Andacht, Poussins
Landschaften nicht zu sehnsüchtiger Wanderlust? Bleibt etwa der Anblick des Straßburger Doms
ohne Wirkung auf unser Gemüth? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Sie gilt
ebenso von der Poesie, ja von mancher außerästhetischen Thätigkeit, z. B. religiöser
Erbauung, Eloquenz, u. a. Wir sehen, daß die übrigen Künste ebenfalls stark genug
auf
das Gefühl einwirken. Den angeblichen principiellen Unterschied derselben von der
Musik müßte man daher auf ein Mehr oder Weniger dieser Wirkung basiren. Ganz
unwissenschaftlich an sich, hätte dieser Ausweg obendrein die Entscheidung, ob man
stärker und tiefer fühle bei einer Mozartʼschen Symphonie oder bei einem
[12] Trauerspiele
Shakespeareʼs, bei einem Gedicht von Uhland oder einem Hummelʼschen
Rondo, füglich Jedermann selbst zu überlassen. Meint man aber, die Musik wirke
„unmittelbar“ auf das Gefühl, die andern Künste erst durch die Vermittlung von
Begriffen, so fehlt man nur mit andern Worten, weil, wie wir gesehen, die Gefühle
auch von dem Musikalisch-Schönen nur in zweiter Linie beschäftigt werden sollen,
unmittelbar nur die Phantasie. Unzählige Mal wird in musikalischen
Abhandlungen die Analogie herbeigerufen, die zweifellos zwischen der Musik und der
Baukunst besteht. Ist aber je einem vernünftigen Architekten
beigefallen, die Baukunst habe den Zweck, Gefühle zu erregen, oder es
seien diese der Inhalt derselben?
1.23
Jedes wahre Kunstwerk wird sich in irgend eine Beziehung zu unserm
Fühlen setzen, keines in eine ausschließliche. Man sagt also gar nichts
für das ästhetische Princip der Musik Entscheidendes, wenn man sie nur ganz allgemein
durch ihre Wirkung auf das Gefühl charakterisirt. Ebenso wenig etwa, als man das
Wesen des Wein’s ergründet, indem man sich betrinkt. Es wird einzig auf die
specifische Art ankommen, wie solche Affecte durch Musik
hervorgerufen werden. Statt also an der sekundären und unbestimmten Gefühlswirkung
musikalischer
[13] Erscheinungen
zu kleben, gilt es in das Innere der Werke zu dringen und die specifische Kraft ihres
Eindrucks aus den Gesetzen ihres eigenen Organismus zu erklären. Ein Maler oder ein
Poet überredet sich kaum mehr, Rechenschaft von dem Schönen seiner Kunst abgelegt
zu
haben, wenn er untersuchte, welche „Gefühle“ seine Landschaft oder sein Drama
hervorruft: er wird der zwingenden Macht nachspüren, warum das Werk
gefällt und weshalb gerade in dieser und keiner andern Weise. Daß diese Untersuchung,
wie wir später sehen werden, in der Tonkunst viel schwieriger ist, als in den andern
Künsten, ja daß das Erforschliche in ihr nur bis zu einer gewissen Tiefe hinabreicht,
berechtigt ihre Kritiker noch lange nicht, Gefühlsaffection und musikalische
Schönheit unmittelbar zu vermengen, statt sie in wissenschaftlicher Methode möglichst
getrennt darzustellen.
1.27Kann überhaupt das Gefühl keine Basis für
ästhetische Gesetze sein, so ist obendrein gegen die Sicherheit des musikalischen
Fühlens Wesentliches zu bemerken. Wir meinen hier nicht bloß die conventionelle
Befangenheit, die es ermöglicht, daß unser Fühlen und Vorstellen oft durch Texte,
Ueberschriften und andere bloß accidentielle Ideenassociationen, besonders in
Kirchen-, Kriegs- und Theatercompositionen eine Richtung erhält, welche
[14] wir fälschlich
dem Charakter der Musik an sich zuzuschreiben geneigt sind. Vielmehr ist überhaupt
der Zusammenhang eines Tonstückes mit der dadurch hervorgerufenen Gefühlsbewegung
kein unbedingt causaler, sondern es wechselt diese Stimmung mit dem wechselnden
Standpunkt unserer musikalischen Erfahrungen und Eindrücke. Wir begreifen heute oft
kaum, wie unsere Großeltern diese Tonreihe für einen adäquaten Ausdruck
gerade dieses Affekts ansehen konnten. Dafür ist z. B. die
außerordentliche Verschiedenheit ein Beweis, mit der viele Mozartsche, Beethovensche
und Webersche
Compositionen zur Zeit ihrer Neuheit im Gegensatz zu heute auf die Herzen der Hörer
wirkten. Wie viele Werke von Mozart erklärte man zu ihrer Zeit für das
leidenschaftlichste, feurigste und kühnste, was überhaupt an musikalischen
Stimmungsbildern möglich schien. Der Behaglichkeit und dem reinen Wohlsein, welches
aus Haydns
Symphonien ausströme, stellte man die Ausbrüche heftiger Leidenschaft, ernstester
Kämpfe, bitterer, schneidender Schmerzen in Mozarts 9 Musik gegenüber. Zwanzig bis
[15] dreißig Jahre
später entschied man genau so zwischen Beethoven und Mozart. Die Stelle Mozarts als
Repräsentanten der heftigen, hinreißenden Leidenschaft nahm Beethoven ein, und Mozart war zu
der olympischen Classicität Haydns avancirt. Aehnliche Wandlungen seiner
Anschauung erfährt jeder aufmerksame Musiker im Laufe eines längeren Lebens an sich
selbst. Durch diese Verschiedenheit der Gefühlswirkung ist jedoch die
musikalische Schätzung vieler einst so aufregend wirkender Werke, der
ästhetische Genuß, den ihre Originalität und Schönheit uns heute noch
bereitet, an und für sich nicht alterirt. Der Zusammenhang musikalischer Werke mit
gewissen Stimmungen besteht also nicht immer, überall, nothwendig, als ein absolut
Zwingendes, er ist vielmehr unvergleichlich wandelbarer als in jeder andern
Kunst.
1.29So besitzt denn die Wirkung der Musik auf das Gefühl weder die Nothwendigkeit, noch die Ausschließlichkeit, noch die Stetigkeit, welche eine Erscheinung aufweisen müßte, um ein ästhetisches Princip begründen zu können.
1.30Die starken Gefühle selbst, welche die Musik aus
ihrem Schlummer wachsingt, und all die
[16] süßen wie
schmerzlichen Stimmungen, in die sie uns Halbträumende einlullt: wir möchten sie
nicht durchaus unterschätzen. Zu den schönsten, heilsamsten Mysterien gehört es ja,
daß die Kunst solche Bewegungen ohne irdischen Anlaß, recht von Gottes Gnaden hervorzurufen vermag. Nur gegen die
unwissenschaftliche Verwerthung dieser Thatsachen für ästhetische
Principien legen wir Verwahrung ein. Lust und Trauer können durch Musik in
hohem Grade erweckt werden; das ist richtig. Nicht in noch höherem vielleicht durch
den Gewinnst des großen Treffers, oder die Todeskrankheit eines Freundes? So lange
man Anstand nimmt, deshalb ein Lotterieloos den Symphonien, oder ein ärztliches
Bülletin den Ouvertüren beizuzählen, so lange darf man auch factisch erzeugte Affecte
nicht als eine ästhetische Specialität der Tonkunst oder eines bestimmten Tonstücks
behandeln. Es wird einzig auf die specifische Art ankommen, wie solche
Affecte durch Musik hervorgerufen werden. Wir werden im IV. und V. Kapitel den Einwirkungen der Musik auf
das Gefühl die aufmerksamste Betrachtung widmen, und die positiven
Seiten dieses merkwürdigen Verhältnisses untersuchen. Hier, am Eingang unsrer
Schrift, konnte die negative Seite, als Protest gegen ein unwissenschaftliches
Princip, nicht zu scharf hervorgekehrt werden.
[17]
1.30.1Der erste, der meines Wissens diese
Gefühlsästhetik in der Musik angegriffen hat, ist
Herbart
(im 9. Capitel seiner Encyclopädie). Nachdem er sich gegen die
„Deutelei“
von Kunstwerken erklärt hat, sagt er:
„Die Traumdeuter und Astrologen haben sich Jahrtausende nicht wollen sagen
lassen, daß ein Mensch träume, weil er schläft, und daß die Gestirne sich bald
da bald dort zeigen, weil sie sich bewegen. So wiederholen bis auf den heutigen
Tag, selbst gute Musikkenner den Satz, die Musik drücke Gefühle aus, als ob das
Gefühl, das etwa durch sie erregt wird und zu dessen Ausdruck sie eben deshalb,
wenn man will, sich gebrauchen läßt, den allgemeinen Regeln des einfachen und
doppelten Contrapunktes zum Grunde läge, auf denen ihr wahres Wesen beruht. Was
mögen doch die alten Künstler, welche die möglichen Formen der Fuge
entwickelten, auszudrücken beabsichtigt haben? Gar nichts wollen sie
ausdrücken; ihre Gedanken gingen nicht hinaus, sondern in das
innere Wesen der Kunst hinein; diejenigen aber, die sich auf Bedeutungen legen,
verrathen ihre Scheu vor dem Innern und ihre Vorliebe für den äußern
Schein.“
Leider hat Herbart diese gelegentliche Opposition im einzelnen wenig näher begründet,
und neben dieser glänzenden finden sich bei ihm auch manche schiefen Bemerkungen über
Musik.
[18] Jedenfalls haben seine obigen Worte, wie wir sogleich sehen werden, nicht die
verdiente Beachtung gefunden.
1.31 Anmerkung. Es dünkt uns für den vorliegenden Zweck kaum nothwendig, den Ansichten, deren Bekämpfung uns beschäftigt, die Namen ihrer Autoren beizusetzen, da diese Ansichten weniger die Blüthe eigenthümlicher Ueberzeugungen, als vielmehr der Ausdruck einer allgemein gewordenen traditionellen Denkweise sind. Nur um einen Einblick in die ausgebreitete Herrschaft dieser Grundsätze zu gewähren, mögen einige Citate älterer und neuerer Musikschriftsteller, aus der großen Menge derer, welche dafür zu Gebote stehen, hier Platz finden.
[19]
[20]
[22]
2.1Theils als Consequenz dieser Theorie, welche die Gefühle für das Endziel musikalischer Wirkung erklärt, theils als Correctiv derselben, wird der Satz aufgestellt: die Gefühle seien der Inhalt, welchen die Tonkunst darzustellen habe.
2.2Die philosophische Untersuchung einer Kunst drängt
zu der Frage nach dem Inhalt derselben. Die Verschiedenheit des Inhalts
der Künste (unter einander) und die damit zusammenhängende Grundverschiedenheit ihrer
Gestaltung folgt mit Nothwendigkeit aus der Verschiedenheit der Sinne,
an welche sie gebunden sind. Jeder Kunst eignet ein Kreis von Ideen, welche sie mit
ihren Ausdrucksmitteln, als Ton, Wort, Farbe, Stein dar
[23] stellt. Das
einzelne Kunstwerk verkörpert demnach eine bestimmte Idee als Schönes in sinnlicher
Erscheinung. Diese bestimmte Idee, die sie verkörpernde Form, und die Einheit beider
sind Bedingungen des Schönheitsbegriffs, von welchen keine wissenschaftliche
Ergründung irgend einer Kunst sich mehr trennen kann.
2.3 Was Inhalt eines Werks der dichtenden oder bildenden Kunst sei, läßt sich mit Worten ausdrücken und auf Begriffe zurückführen. Wir sagen: dies Bild stellt ein Blumenmädchen vor, diese Statue einen Gladiator, jenes Gedicht eine That Rolandʼs. Das mehr oder minder vollkommene Aufgehen des so bestimmten Inhalts in der künstlerischen Erscheinung begründet dann unser Urtheil über die Schönheit des Kunstwerks.
2.4Als Inhalt der Musik hat man ziemlich
einverständlich die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle genannt,
weil man in diesen den Gegensatz zu begrifflicher Bestimmtheit und daher die richtige
Unterscheidung von dem Ideal der bildenden und dichtenden Kunst gefunden glaubte.
Demnach seien die Töne und ihr kunstreicher Zusammenhang blos Material,
Ausdrucksmittel, wodurch der Componist die Liebe, den Muth, die Andacht, das
Entzücken darstellt. Diese Gefühle in ihrer reichen Mannigfaltigkeit seien die Idee,
welche den irdischen Leib des Klanges angethan,
[24] um als
musikalisches Kunstwerk auf Erden zu wandeln. Was uns an einer reizenden Melodie,
einer sinnigen Harmonie ergötzt und erhebt, sei nicht diese selbst, sondern was sie
bedeutet: das Flüstern der Zärtlichkeit, das Stürmen der Kampflust.
2.5Um auf festen Boden zu gelangen, müssen wir vorerst solche altverbundene Metaphern schonungslos trennen: Das Flüstern? Ja; – aber keineswegs der „Sehnsucht“; das Stürmen? Allerdings, doch nicht der „Kampflust“. In der That besitzt die Musik das Eine oder das Andre; sie kann flüstern, stürmen, rauschen, – das Lieben und Zürnen aber trägt nur unser eigenes Herz in sie hinein.
2.6Die Darstellung eines bestimmten Gefühls oder Affectes liegt gar nicht in dem eigenen Vermögen der Tonkunst.
2.7Es stehen nämlich die Gefühle in der Seele nicht isolirt da, so daß sie sich aus ihr gleichsam herausheben ließen von einer Kunst, welcher die Darstellung der übrigen Geistesthätigkeiten verschlossen ist. Sie sind im Gegentheil abhängig von physiologischen und pathologischen Voraussetzungen, sind bedingt durch Vorstellungen, Urtheile, kurz durch eben das ganze Gebiet verständigen und vernünftigen Denkens, welchem man das Gefühl so gern als ein Gegensätzliches gegenüberstellt.
[25]
2.8Was macht denn ein Gefühl zu diesem
bestimmten Gefühl? Zur Sehnsucht, Hoffnung, Liebe? Etwa die bloße Stärke
oder Schwäche, das Wogen der inneren Bewegung? Gewiß nicht. Diese kann bei
verschiedenen Gefühlen gleich sein und auch wieder bei demselben Gefühl, in mehreren
Individuen, zu andern Zeiten, verschieden. Nur auf Grundlage einer Anzahl – im
Momente starken Fühlens vielleicht unbewußter – Vorstellungen und Urtheile kann unser
Seelenzustand sich zu eben diesem bestimmten Gefühl verdichten. Das Gefühl der
Hoffnung ist untrennbar von der Vorstellung eines glücklicheren Zustandes, welcher
kommen soll und mit dem gegenwärtigen verglichen wird. Die Wehmuth vergleicht ein
vergangenes Glück mit der Gegenwart. Das sind ganz bestimmte Vorstellungen, Begriffe.
Ohne sie, ohne diesen Gedankenapparat kann man das
gegenwärtige Fühlen nicht „Hoffnung“, nicht „Wehmuth“ nennen, er macht sie dazu.
Abstrahirt man von ihm, so bleibt eine unbestimmte Bewegung, allenfalls die
Empfindung allgemeinen Wohlbefindens, oder Mißbehagens. Die Liebe kann
ohne die Vorstellung einer geliebten Persönlichkeit, ohne den Wunsch und das Streben
nach der Beglückung, Verherrlichung, dem Besitz dieses Gegenstandes nicht gedacht
werden. Nicht die Art der bloßen Seelenbewegung, sondern ihr
[26] begrifflicher
Kern, ihr wirklicher, historischer Inhalt macht sie zur Liebe. Ihrer
Dynamik nach kann diese ebensogut sanft als stürmisch, ebensowohl
froh als schmerzlich auftreten und bleibt doch immer Liebe. Diese Betrachtung allein
reicht hin, zu zeigen, daß Musik nur jene verschiedenen begleitenden Adjectiva
ausdrücken könne, nie das Substantivum, die Liebe selbst. Ein bestimmtes Gefühl (eine
Leidenschaft, ein Affect) existirt als solches niemals ohne einen wirklichen
historischen Inhalt, der eben nur in Begriffen dargelegt werden kann. Begriffe kann
die Musik als „unbestimmte Sprache“ zugestandener Weise nicht wiedergeben – ist da
nicht die Folgerung psychologisch unablehnbar, daß sie auch bestimmte Gefühle nicht
auszudrücken vermag? Die Bestimmheit der Gefühle ruht ja gerade in deren
begrifflichem Kern.
2.9Wie es komme, daß Musik dennoch Gefühle, wie
Wehmuth, Frohsinn u. dergl. erregen kann (nicht muß), das
wollen wir später, wo vom subjectiven Eindruck der Musik die Rede sein wird,
untersuchen. Hier mußte blos theoretisch festgestellt werden, ob die Musik fähig sei,
ein bestimmtes Gefühl darzustellen? Die Frage war zu verneinen, da die
Bestimmtheit der Gefühle von concreten Vorstellungen und Begriffen nicht getrennt
werden kann, welche letztere außer
[27] dem
Gestaltungsbereich der Musik liegen. – Einen gewissen Kreis von Ideen
hingegen kann die Musik mit ihren eigensten Mitteln reichlichst darstellen. Dies
sind, entsprechend dem sie aufnehmenden Organ, unmittelbar alle diejenigen Ideen,
welche auf hörbare Veränderungen der Kraft, der Bewegung, der Proportionen sich
beziehen, also die Idee des Anschwellenden, des Absterbenden, des Eilens, Zögerns,
des künstlich Verschlungenen, des einfach Fortschreitenden u. dergl. – Es kann ferner
der ästhetische Ausdruck einer Musik anmuthig genannt werden, sanft, heftig,
kraftvoll, zierlich, frisch: lauter Ideen, welche in Tonverbindungen eine
entsprechende sinnliche Erscheinung finden. Wir können diese Eigenschaftswörter daher
unmittelbar von musikalischen Bildungen gebrauchen, ohne an die ethische
Bedeutung zu denken, welche sie für das menschliche Seelenleben haben, und die eine
geläufige Ideenassociation so schnell zur Musik heranbringt, ja mit den rein
musikalischen Eigenschaften unter der Hand zu verwechseln pflegt.
2.10Die Ideen, welche der Componist darstellt, sind vor
Allem und zuerst rein musikalische. Seiner Phantasie erscheint eine
bestimmte schöne Melodie. Sie soll nichts Anderes sein als sie selbst. Wie aber jede
concrete Erscheinung auf ihren höheren Gattungsbegriff, auf die sie zunächst
[28]
erfüllende Idee hinweist, und so fort immer höher und höher bis zur absoluten Idee,
so geschieht es auch mit den musikalischen Ideen. So wird z. B. dieses
sanfte, harmonisch ausklingende Adagio die Idee des Sanften, Harmonischen
überhaupt zur schönen Erscheinung bringen. Die allgemeine Phantasie,
welche gern die Ideen der Kunst in Bezug zum eigenen, menschlichen Seelenleben setzt,
wird dies Ausklingen noch höher, z. B. als den Ausdruck milder Resignation eines in
sich versöhnten Gemüthes auffassen, und kann vielleicht sofort bis zur
Ahnung eines ewigen jenseitigen Friedens aufsteigen.
2.11Auch die Poesie und bildende Kunst stellen vorerst ein Concretes dar. Erst mittelbar kann das Bild eines Blumenmädchens auf die allgemeinere Idee mädchenhafter Zufriedenheit und Anspruchslosigkeit, ein beschneiter Kirchhof auf die Idee der irdischen Vergänglichkeit hinweisen. Gerade so, nur mit ungleich unsicherer und willkürlicherer Deutung, kann der Hörer in diesem Musikstück die Idee jugendlichen Genügens, in jenem die Idee der Vergänglichkeit heraushören; allein ebensowenig als in den genannten Bildern sind diese abstracten Ideen der Inhalt des musikalischen Werkes; von einer Darstellung des „Gefühls der Vergänglichkeit“, des „Gefühls der jugendlichen Genügsamkeit“ kann nun vollends keine Rede sein.
[29]
2.12Es giebt Ideen, welche durch die Tonkunst vollkommen repräsentirt werden und trotzdem nicht als Gefühl vorkommen, sowie umgekehrt Gefühle von solcher Mischung das Gemüth bewegen können, daß sie in keiner durch Musik darstellbaren Idee ihre adäquate Bezeichnung finden.
2.13 Was kann also die Musik von den Gefühlen darstellen, wenn nicht deren Inhalt?
2.14Nur das Dynamische derselben. Sie
vermag die Bewegung eines psychischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam,
stark, schwach, steigend, fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine
Eigenschaft, ein Moment des Gefühls, nicht dieses selbst. Gemeiniglich glaubt man,
das darstellende Vermögen der Musik genügend zu begrenzen, wenn man behauptet, sie
könne keineswegs den Gegenstand eines Gefühls bezeichnen, wohl aber das
Gefühl selbst, z. B. nicht das Object einer bestimmten Liebe, wohl aber „Liebe“. Sie
kann dies in Wahrheit ebensowenig. Nicht Liebe, sondern nur eine Bewegung kann sie
schildern, welche bei der Liebe oder auch einem andern Affect vorkommen kann, immer
jedoch das Unwesentliche seines Charakters ist. „Liebe“ ist ein abstracter Begriff,
so gut wie „Tugend“ und „Unsterblichkeit“. Die Versicherung der Theoretiker, Musik
habe keine abstracten Begriffe darzustellen, ist überflüssig; denn keine
[30] Kunst
kann dies. Daß nur Ideen, d. i. lebendig gewordene Begriffe Inhalt
künstlerischer Verkörperung sind, versteht sich von selbst. 10
Aber auch die Ideen der Liebe, des Zornes, der Furcht können
Instrumentalwerke nicht zur Erscheinung bringen, weil zwischen jenen Ideen und
schönen Tonverbindungen kein nothwendiger Zusammenhang besteht. Welches Moment dieser
Ideen istʼs denn also, dessen die Musik sich in der That so wirksam zu bemächtigen
weiß? Es ist die Bewegung (natürlich in dem weiteren Sinne, der auch das
Anschwellen und Abschwächen des einzelnen Tones oder Accordes als „Bewegung“
auffaßt). Sie bildet das Element, welches die Tonkunst mit den Gefühlszuständen
gemeinschaftlich hat, und das sie schöpferisch in tausend Abstufungen und Gegensätzen
zu gestalten vermag.
2.14.1Der Begriff der Bewegung ist bisher in den Untersuchungen des Wesens und der Wirkung der Musik auffallend vernachlässigt worden; er dünkt uns der wichtigste und fruchtbarste.
2.15Was uns außerdem in der Musik bestimmte Seelenzustände zu malen scheint, ist symbolisch.
[31]
2.16Wie die Farben, so besitzen nämlich die Töne schon von Haus aus und in ihrer Vereinzelung symbolische Bedeutung, welche außerhalb und vor aller künstlerischen Absicht wirkt. Jede Farbe athmet eigenthümlichen Charakter: sie ist uns keine bloße Ziffer, welche durch den Künstler lediglich eine Stellung erhält, sondern eine Kraft, schon von Natur aus in sympathetischen Zusammenhang mit gewissen Stimmungen gesetzt. Wer kennt nicht die Farbendeutungen, wie sie in ihrer Einfachheit gang und gäbe, oder durch feinere Geister zu poetischem Raffinement gehoben werden? Wir verbinden Grün mit dem Gefühl der Hoffnung, Blau mit der Treue. Rosenkranz erkennt in Rothgelb „anmuthige Würde“ , in Violett „philisterhafte Freundlichkeit“ u. s. w. (Psychologie, 2. Aufl. S. 102.)
2.17In ähnlicher Weise sind uns die elementaren Stoffe
der Musik: Tonarten, Accorde und Klangfarben schon an sich Charaktere.
Wir haben auch eine nur zu geschäftige Auslegekunst für die Bedeutung musikalischer
Elemente;
Schubartʼs Symbolik der Tonarten bietet in ihrer Art ein Seitenstück
zu
Goetheʼs Deutung der Farben. Es folgen jedoch diese Elemente (Töne,
Farben) in ihrer künstlerischen Verwendung ganz anderen Gesetzen, als jene Wirkung
ihrer isolirten Erscheinung. So wenig auf einem Historienbild jedes
[32] Roth uns
Freude, jedes Weiß Unschuld bedeutet, ebensowenig wird in einer Symphonie alles
As-dur uns eine schwärmerische, alles H-moll eine menschenfeindliche Stimmung
erwecken, oder jeder Dreiklang Befriedigung, jeder verminderte Septaccord
Verzweiflung. Auf ästhetischem Boden neutralisiren sich derlei elementare
Selbstständigkeiten unter der Gemeinsamkeit höherer Gesetze. Von einem
Ausdrücken oder Darstellen ist solche Naturbeziehung
weit entfernt. „Symbolisch“ nannten wir sie, indem sie den Inhalt keineswegs
unmittelbar darstellt, sondern eine von diesem wesentlich verschiedene Form bleibt.
Wenn wir im Gelben Eifersucht, in G-dur Heiterkeit, in der Cypresse Trauer sehen,
so
hat diese Deutung einen physiologisch-psychologischen Zusammenhang mit Bestimmtheiten
dieser Gefühle, allein es hat ihn eben nur unsere Deutung, nicht die Farbe, der Ton,
die Pflanze an und für sich. Man kann daher weder von einem Accord an sich sagen,
er
stelle ein bestimmtes Gefühl dar, noch weniger thut er das im Zusammenhang des
Kunstwerkes.
2.18Ein anderes Mittel für den angeblichen Zweck, außer der Analogie der Bewegung und der Symbolik der Töne, hat die Musik nicht.
2.19Läßt sich somit ihr Unvermögen, bestimmte Gefühle
darzustellen, leicht aus der Natur der
[33] Töne deduciren,
so scheint es fast unbegreiflich, daß es auf dem Erfahrungswege nicht noch viel
schneller ins allgemeine Bewußtsein gedrungen ist. Versuche Jemand, dem noch so viele
Gefühlssaiten aus einem Instrumentalstück anklingen, mit klaren Gründen nachzuweisen,
welcher Affect den Inhalt desselben bilde. Die Probe ist unerläßlich.
– Hören wir z. B. Beethovenʼs Ouvertüre zu „Prometheus“. Was das aufmerksame Ohr des Kunstfreundes in stetiger Folge aus
ihr vernimmt, ist ungefähr Folgendes: Die Töne des 1. Tactes perlen nach einem Fall
in die Unterquarte rasch und leise aufwärts, wiederholen sich genau im 2.; der 3.
und
4. Tact führen denselben Gang in größerem Umfang weiter, die Tropfen des in die Höhe
getriebenen Springbrunnens perlen herab, um in den nächsten vier Tacten dieselbe
Figur und dasselbe Figurenbild auszuführen. Vor dem geistigen Sinn des Hörers erbaut
sich also in der Melodie die Symmetrie zwischen dem 1. und dem 2. Tacte,
dann dieser beiden Tacte zu den zwei folgenden, endlich der vier ersten Tacte als
eines großen Bogens gegen den gleich großen correspondirenden der folgenden vier
Tacte. Der den Rhythmus markirende Baß bezeichnet den Anfang der ersten
drei Tacte mit je einem Schlag, den vierten mit zwei Schlägen; in gleicher Weise bei
den folgenden vier Tacten. Hier ist also der vierte
[34] Tact gegen die
drei ersten eine Verschiedenheit, welche durch die Wiederholung in den nächsten vier
Tacten symmetrisch wird und das Ohr als ein Zug der Neuheit im alten Gleichgewicht
erfreut. Die Harmonie in dem Thema zeigt uns wieder das Correspondiren
eines großen und zweier kleinen Bogen: dem C-dur-Dreiklang in den vier ersten Tacten
entspricht der Secundaccord im fünften und sechsten, dann der Quintsextaccord im
siebenten und achten Tact. Dies wechselseitige Correspondiren zwischen Melodie,
Rhythmus und Harmonie erzeugt ein symmetrisches und doch abwechslungsvolles Bild,
welches durch die Klangfarben der verschiedenen Instrumente und den Wechsel der
Tonstärke noch reichere Lichter und Schatten erhält.
[35]
2.20Einen weiteren Inhalt als den eben angedeuteten vermögen wir durchaus nicht in dem Thema zu erkennen, am wenigsten ein Gefühl zu nennen, welches es darstellte oder im Hörer erwecken müßte. Solche Zergliederung macht freilich ein Gerippe aus blühendem Körper, geeignet, alle Schönheit aber auch alle falsche Deutelei zu zerstören.
2.21 & 2.22Wie mit diesem ganz zufällig gewählten
Motiv geht es mit jedem andern Instrumentalthema. Eine große Klasse von Musikfreunden
hält es blos für ein Characteristicum der älteren „classischen“ Musik, den Affecten
abhold zu sein, und giebt von vornherein zu, daß Niemand in einer der 48 Fugen und
Präludien aus J. S. Bachʼs „wohltemperirtem Clavier“ ein Gefühl werde nachweisen können, das den Inhalt
derselben bilde. So dilettantisch und willkürlich diese Unterscheidung auch ist,
welche in dem Umstand, daß in der älteren Musik der Selbstzweck noch unverkennbarer,
die Deutbarkeit schwieriger und weniger verlockend erscheint, ihre Erklärung findet,
– der Beweis wäre dadurch schon hergestellt, daß die Musik nicht Gefühle erwecken
und
zum Gegenstand haben
[36]
muß. Das ganze Gebiet der Figuralmusik fiele hinweg. Müssen aber große,
historisch wie ästhetisch begründete Kunstgattungen ignorirt werden, um einer Theorie
Haltbarkeit zu erschleichen, 11 dann ist
diese falsch. Ein Schiff muß untergehen, sobald es auch nur ein Leck
hat. Wem dies nicht genügt, der mag ihr immerhin den ganzen Boden ausschlagen. Er
spiele das Thema irgend einer Mozartʼschen oder Haydnʼschen Symphonie,
eines Beethovenʼschen Adagios, eines Mendelssohnʼschen Scherzos, eines Schumannʼschen oder Chopinʼschen
Clavierstückes, den Stamm unserer gehaltvollsten Musik; oder auch die populärsten
Ouvertürenmotive von Auber, Donizetti, Flotow. Wer tritt hinzu und getraut sich, ein
bestimmtes Gefühl als Inhalt dieser Themen aufzuzeigen? Der Eine wird „Liebe“ sagen.
Möglich. Der Andere meint „Sehnsucht“. Vielleicht. Der Dritte fühlt „Andacht“.
Niemand kann das widerlegen. Und so fort. Heißt dies nun ein bestimmtes Gefühl
darstellen, wenn Niemand weiß, was eigentlich
dargestellt wird? Ueber die Schönheit und Schönheiten des Musikstückes werden
wahrscheinlich Alle
[37] übereinstimmend
denken, von dem Inhalt Jeder verschieden. Darstellen heißt aber einen
Inhalt klar, anschaulich produciren, ihn uns vor Augen „daher stellen“. Wie mag man
nun dasjenige als das von einer Kunst Dargestellte bezeichnen, welches,
das ungewisseste, vieldeutigste Element derselben, einem ewigen Streit unterworfen
ist?
2.23Wir haben absichtlich
Instrumentalsätze zu Beispielen gewählt. Denn nur was von der
Instrumentalmusik behauptet werden kann, gilt von der Tonkunst als solcher. Wenn
irgend eine allgemeine Bestimmtheit der Musik untersucht wird, etwas so ihr Wesen
und
ihre Natur kennzeichnen, ihre Grenzen und Richtung feststellen soll, so kann nur von
der Instrumentalmusik die Rede sein. Was die Instrumentalmusik nicht
kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es; denn nur sie
ist reine, absolute Tonkunst. Ob man nun die Vocal- oder die
Instrumentalmusik an Werth und Wirkung vorziehen wolle, – eine unwissenschaftliche
Procedur, bei der meist dilettantische Einseitigkeit das Wort führt – man wird stets
einräumen müssen, daß der Begriff „Tonkunst“ in einem auf Textworte componirten
Musikstück nicht rein aufgehe. In einer Vocalcomposition kann die Wirksamkeit der
Töne nie so genau von jener der Worte, der Handlung, der Decoration getrennt werden,
daß
[38]
die Rechnung der verschiedenen Künste sich streng sondern ließe. Sogar Tonstücke mit
bestimmten Ueberschriften oder Programmen müssen wir ablehnen, wo es sich um den
„Inhalt“ der Musik handelt. Die Vereinigung mit der Dichtkunst erweitert die Macht
der Musik, aber nicht ihre Grenzen. 12
[39]
2.24Wir haben in der Vocalcomposition ein untrennbar
verschmolzenes Product vor uns, aus dem es nicht mehr möglich ist, die Größe der
einzelnen Factoren zu bestimmen. Wenn es sich um die Wirkung der
Dichtkunst handelt, so wird es Niemand einfallen, die
Oper als Beleg hervorzuheben; es braucht größerer Verleugnung, aber
nur derselben Einsicht, um bei den Grund
[40] bestimmungen
musikalischer Aesthetik ein Gleiches zu thun.
2.25Die Vocalmusik illuminirt die Zeichnung des
Gedichts. 13 Wir haben in den musikalischen Ele
[41] menten Farben
von größter Pracht und Zartheit erkannt, von symbolischer Bedeutsamkeit obendrein.
Sie werden vielleicht ein mittelmäßiges Gedicht zur innigsten Offenbarung des Herzens
umwandeln. Trotzdem sind es die Töne nicht, welche in einem Gesangstücke
darstellen, sondern der Text. Die Zeichnung, nicht das Colorit
bestimmt den dargestellten Gegenstand. Wir appelliren an das Abstractionsvermögen
des
Hörers, das sich irgend eine dramatisch wirksame Melodie abgelöst von
aller dichterischen Bestimmung rein musikalisch vorstellen wolle. Man wird z. B. in
einer sehr wirksamen dramatischen Melodie, welche Zorn auszudrücken hat,
an und für sich keinen weiteren psychischen Ausdruck finden, als den einer raschen,
leidenschaftlichen Bewegung. Worte einer leidenschaftlich bewegten
Liebe, also das gerade Gegentheil, werden vielleicht gleich richtig
durch dieselbe Melodie interpretirt sein.
2.26Als die Arie des Orpheus:
„J’ai perdu mon Euridice, /
Rien n’égale mon malheur“ /
Tausende (und darunter Männer wie J. J. Rousseau) zu Thränen
rührte, bemerkte ein Zeitgenosse Glucks,
[42]
Boyé
, daß man dieser Melodie ebenso gut, ja weit richtiger die entgegengesetzten
Worte unterlegen könnte:
„J’ai trouvé mon Eurydice, /
Rien n’égale mon bonheur.“ /
2.27Wir setzen den Anfang der Arie, der Kürze wegen mit Clavierbegleitung, doch genau nach der italienischen Originalpartitur her:
[43]
2.28Wir sind zwar durchaus nicht der Meinung, daß in diesem Falle der Componist ganz freizusprechen sei, indem die Musik für den Ausdruck schmerzlichster Traurigkeit gewiß weit bestimmtere Töne besitzt. Allein wir wählen aus Hunderten gerade dies Beispiel, einmal weil es den Meister trifft, dem die größte Genauigkeit im dramatischen Ausdruck zugeschrieben wird, sodann weil mehrere Generationen an dieser Melodie das Gefühl höchsten Schmerzes bewunderten, welche die mit ihr verbundenen Worte aussprechen.
2.29Allein auch weit bestimmtere und ausdrucksvollere Gesangsstellen werden, losgelöst von ihrem Text, uns höchstens rathen lassen, welches Gefühl sie ausdrücken. Sie gleichen Silhouetten, deren Original wir meistens erst erkennen, wenn man uns gesagt hat, wer das sei.
2.30Was hier an Einzelnem gezeigt wurde, erweist sich
ebenso an größerem und größtem Umfang. Man hat ganzen Gesangstücken oft andere Texte
unterlegt. Wenn man Meyerbeerʼs „Hugenotten“ mit Veränderung des Schauplatzes, der
[44] Zeit, der
Personen, der Begebenheit und der Worte als „Ghibellinen in Pisa“ aufführt, so stört ohne Zweifel die ungeschickte
Mache einer solchen Umarbeitung, allein der rein musikalische Ausdruck wird nicht
im
Mindesten beleidigt. Und doch soll das religiöse Gefühl, der Glaubensfanatismus
geradezu die Springfeder der „Hugenotten“
bilden, welche in den „Ghibellinen“ ganz entfällt. Der Choral
Lutherʼs
darf hier nicht eingewendet werden; er ist ein Citat. Als Musik paßt er
zu jeder Confession. – Hat der Leser nie das fugirte Allegro aus der Ouvertüre zur
„Zauberflöte“ als Vocalquartett sich
zankender Handelsjuden gehört? Mozartʼs Musik, an der nicht eine Note geändert ist,
paßt zum Entsetzen gut auf den niedrigkomischen Text, und man kann sich in der Oper
nicht herzlicher an dem Ernst der Composition erfreuen, als man hier über die Komik
derselben lachen muß. Derlei Belege für das weite Gewissen jedes musikalischen Motivs
und jedes menschlichen Affectes ließen sich zahllos vorbringen. Die Stimmung
religiöser Andacht gilt mit Recht für eine der musikalisch am wenigsten
vergreifbaren. Nun giebt es unzählige deutsche Dorf- oder Marktkirchen, wo zur heiligen Wandlung das „Alphorn“ von Proch oder die Schlußarie
aus der „Somnambule“ (mit dem koketten
Decimensprung
„in meine Arme“
) oder
[45] Aehnliches auf
der Orgel vorgetragen wird. Jeder Deutsche, der nach Italien kommt, hört mit
Staunen in den Kirchen die bekanntesten Opernmelodien von Rossini,Bellini,Donizetti und Verdi. Diese
und noch weltlichere Stücke, wenn sie nur halbwegs placiden Charakters klingen, sind
weit entfernt, die Gemeinde in ihrer Andacht zu stören, im Gegentheil pflegt Alles
aufs Aeußerste erbaut zu sein. Wäre die Musik an sich im Stande, religiöse Andacht
als Inhalt darzustellen, so würde solch ein quid pro quo ebenso unmöglich sein, als
daß der Prediger statt seiner Exhorte eine Tieckʼsche Novelle oder einen Parlamentsact von der
Kanzel recitirte. Unsre größten Meister geistlicher Tonkunst bieten Beispiele in
Fülle für unsern Satz. Namentlich
Händel
verfuhr hierin mit großartiger Ungenirtheit.
Winterfeld
hat nachgewiesen, daß viele der berühmtesten und ob ihres frommen Ausdrucks
bewundertsten Stücke im „Messias“ aus den
weltlichen, meist erotischen Duetten herübergenommen sind, welche Händel
(1711–1712) für die Churprinzessin Caroline von Hannover auf
Madrigale von Mauro Ortensio
gesetzt hatte. Die Musik zu dem 2. Duett:
„Nò, di voi non uoʼ fidarmi, /
Cieco amor, crudel beltà; /
[46]
Troppo siete menzognere /
Luchinghiere deità!“ /
14 verwendete Händel unverändert in Tonart und Melodie für den
Chor im ersten Theil des Messias:
„Denn uns ist ein Kind geboren“
. – Der dritte Satz desselben Duetts
„Sò per prova i vostri inganni“
hat dieselben Motive wie der Chor im 2. Theil des Messias
„Wie Schafe gehen“
. Das Madrigal Nr. 16 (Duett für Sopran und Alt) ist im Wesentlichen ganz
übereinstimmend mit dem Duett im 3. Theil des Messias:
„O Tod, wo ist dein Stachel“
; – dort lautet der Text:
„Si tu non lasci amore /
Mio cor, ti pentirai, /
Lo so ben io!” /
2.31Von den zahlreichen anderen Beispielen bei Seb. Bach sei nur
an sämmtliche madrigalische Stücke des „Weihnachts-Oratoriums“ erinnert, die bekanntlich aus ganz verschiedenen
weltlichen Gelegenheitscantaten arglos herübergenommen sind. Und
Gluck
, von dem uns gelehrt wird, er habe die hohe dramatische Wahrheit seiner Musik
nur dadurch erreicht, daß er jede Note genau der bestimmten Situation anpaßte, ja
seine Melodie
[47] aus dem Tonfall
der Verse selbst zog, –
Gluck
hat in die „Armida“ nicht weniger
als fünf Musikstücke aus seinen älteren italienischen Opern herübergenommen (Vgl. m. „Moderne Oper“ S. 16). Man
sieht, daß die Vocalmusik, deren Theorie niemals das Wesen der Tonkunst
bestimmen kann, auch praktisch nicht im Stande ist, die aus dem Begriff der
Instrumentalmusik gewonnenen Grundsätze Lügen zu strafen.
2.32Der von uns bekämpfte Satz ist übrigens so in
Fleisch und Blut der gangbaren ästhetisch-musikalischen Anschauung eingedrungen, daß
auch alle seine Descendenten und Seitenverwandten sich gleicher Unantastbarkeit
erfreuen. Dazu gehört die Theorie von der Nachahmung sichtbarer oder unmusikalisch
hörbarer Gegenstände durch die Tonkunst. Mit besonderer Wohlweisheit wird uns bei
der
Frage von der „Tonmalerei“ immer wieder versichert, die Musik könne keineswegs die
außer ihrem Bereich liegende Erscheinung selbst malen, sondern nur das
Gefühl, welches dadurch in uns erzeugt wird. Gerade umgekehrt. Die
Musik kann nur die äußere Erscheinung nachzuahmen trachten, niemals aber das durch
sie bewirkte, specifische Fühlen. Das Fallen der Schneeflocken, das Flattern der
Vögel, den Aufgang der Sonne kann ich nur dadurch musikalisch malen, daß ich analoge,
diesen Phänomenen dynamisch verwandte
[48] Gehörseindrücke
hervorbringe. In Höhe, Stärke, Schnelligkeit, Rhythmus der Töne bietet sich dem Ohr
eine Figur, deren Eindruck jene Analogie mit der bestimmten
Gesichtswahrnehmung hat, welche Sinnesempfindungen verschiedener Gattung gegen
einander erreichen können. Wie es physiologisch ein „Vicariren“ eines Sinnes für den
andern bis zu einer gewissen Grenze giebt, so auch ästhetisch ein gewisses Vicariren
eines Sinneseindruckes für den andern. Da zwischen der Bewegung im Raume und jener
in
der Zeit, zwischen der Farbe, Feinheit, Größe eines Gegenstandes und der Höhe,
Klangfarbe, Stärke eines Tones wohlbegründete Analogie herrscht, so kann man in der
That einen Gegenstand musikalisch malen, das „Gefühl“ aber in Tönen schildern zu
wollen, daß der fallende Schnee, der krähende Hahn, der zuckende Blitz in uns
hervorbringt, ist einfach lächerlich.
2.33Obgleich, meines Erinnerns, alle musikalischen
Theoretiker auf dem Grundsatz, die Musik könne bestimmte Gefühle darstellen,
stillschweigend folgern und weiter bauen, so hinderte doch manche ein richtiges
Gefühl, ihn geradezu anzuerkennen. Der Mangel begrifflicher Bestimmtheit
in der Musik störte sie und ließ sie den Satz dahin ändern: die Tonkunst habe nicht
etwa bestimmte, wohl aber „unbestimmte Gefühle“ zu erwecken
[49] und
darzustellen. Vernünftiger Weise kann man damit nur meinen, die Musik solle die
Bewegung des Fühlens, abgezogen von dem Inhalt desselben, dem
Gefühlten, enthalten; das also, was wir das Dynamische der Affecte
genannt, und der Musik vollständig eingeräumt haben. Dies Element der Tonkunst ist
aber kein „Darstellen unbestimmter Gefühle“. Denn „Unbestimmtes“ „darstellen“ ist
ein
Widerspruch. Seelenbewegungen als Bewegungen an sich, ohne Inhalt, sind kein
Gegenstand künstlerischer Verkörperung, weil diese ohne die Frage: was bewegt sich,
oder wird bewegt, nirgend Hand anlegen kann. Das Richtige an dem Satz, nämlich die
involvirte Forderung, Musik solle kein bestimmtes Gefühl schildern, ist
ein lediglich negatives Moment. Was aber ist das Positive, das Schöpferische im
musikalischen Kunstwerk? Ein unbestimmtes Fühlen als solches ist kein
Inhalt; soll eine Kunst sich dessen bemächtigen, so kommt Alles
darauf an, wie es geformt wird. Jede Kunstthätigkeit besteht aber im
Individualisiren, in dem Prägen des Bestimmten aus dem Unbestimmten,
des Besondern aus dem Allgemeinen. Die Theorie der „unbestimmten Gefühle“ verlangt
das gerade Gegentheil. Man ist hier noch schlimmer daran, als bei dem früheren Satz;
man soll glauben, daß die Musik etwas darstelle, und weiß doch
[50] niemals was.
Sehr einfach ist von hier der kleine Schritt zu der Erkenntniß, daß die Musik
gar keine, weder bestimmte noch unbestimmte Gefühle schildert.
Welcher Musiker hätte aber diese durch unvordenklichen Besitz ersessene Reichsdomäne
seiner Kunst aufgeben wollen? 15
2.34Unser Resultat ließe vielleicht noch der Meinung
Raum, daß die Darstellung bestimmter Gefühle für die Musik zwar ein Ideal sei, das
sie niemals ganz erreichen, dem sie sich aber immer mehr nähern könne und solle. Die
vielen großsprechenden Redensarten von der Tendenz der Musik, die Schranken ihrer
Unbestimmtheit zu durchbrechen und concrete Sprache zu werden, die beliebten
Lobpreisungen solcher Compositionen, an welchen man dies Bestreben wahrnimmt, oder
[51]
wahrzunehmen vermeint, zeugen von der wirklichen Verbreitung solcher Ansicht.
2.35Allein noch entschiedener, als wir die Möglichkeit musikalischer Gefühlsdarstellung bekämpften, haben wir die Meinung abzuwehren, als könne diese jemals das ästhetische Princip der Tonkunst abgeben.
2.36Das Schöne in der Musik würde mit der Genauigkeit der Gefühlsdarstellung auch dann nicht congruiren, wenn diese möglich wäre. Nehmen wir diese Möglichkeit für einen Moment an, um uns praktisch zu überzeugen.
2.37Offenbar können wir diese Fiction nicht an der Instrumentalmusik versuchen, welche die Nachweisung bestimmter Affecte von selbst verwehrt, sondern nur an der Vocalmusik, der das Betonen vorgezeichneter Seelenzustände zukommt. 16
2.38Hier bestimmen die dem Componisten vorliegenden
Worte das zu schildernde Object; die Musik hat die Macht es zu
beleben, zu commentiren, ihm in mehr oder weniger hohem Grade den Ausdruck
individueller Innerlichkeit zu ver
[52] leihen. Sie
thut dies durch möglichste Charakteristik der Bewegung und durch Verwerthung der den
Tönen innewohnenden Symbolik. Faßt sie als Hauptgesichtspunkt den Text ins Auge, und
nicht die eigene ausgeprägte Schönheit, so kann sie es zu hoher Individualisirung,
ja
zu dem Scheine bringen, sie allein stelle wirklich das Gefühl dar, welches in den
Worten bereits unverrückbar, wenngleich steigerungsfähig vorlag. Diese Tendenz
erreicht in der Wirkung etwas Aehnliches mit dem vorgeblichen
„Darstellen eines Affectes als Inhalt des bestimmten Musikstücks.“
Gesetzt den Fall, jene wirkliche und diese angebliche Kraft der Tonkunst wären
congruent, die Gefühlsdarstellung möglich und Inhalt der Musik, so würden wir
folgerichtig solche Compositionen die vollkommensten nennen, welche die Aufgabe am
bestimmtesten lösen. Allein wer kennt nicht Tonwerke von höchster
Schönheit ohne solchen Inhalt? (wir erinnern an Bach’s Fugen und Präludien).
Umgekehrt giebt es Vocalcompositionen, welche ein bestimmtes Gefühl aufs Genaueste,
innerhalb der eben erklärten Grenzen abzuconterfeien suchen, und welchen die
Wahrheit dieses Schilderns über jedes andere Princip geht. Bei
näherer Betrachtung gelangen wir zu dem Ergebniß, daß das rücksichtslose Anschmiegen
solcher musikalischen Schilderung meist in umgekehrtem
[53] Verhältniß
steht zu ihrer selbstständigen Schönheit, daß also die
declamatorisch-dramatisch,Genauigkeit und die
musikalische Vollendung nur die Hälfte Weges mit einander
fortschreiten, dann aber sich trennen.
2.39Am deutlichsten zeigt dies das Recitative als diejenige Form, welche am unmittelbarsten und bis auf den Accent des einzelnen Wortes sich dem declamatorischen Ausdruck anschmiegt, nicht mehr anstrebend, als einen getreuen Abguß bestimmter, meist rasch wechselnder Gemüthszustände. Dies müßte, als wahre Verkörperung jener Lehre, die höchste, vollkommenste Musik sein; in der That aber sinkt diese im Recitativ ganz zur Dienerin herab und verliert ihre selbstständige Bedeutung. Ein Beweis, daß der Ausdruck bestimmter Seelenvorgänge mit der Aufgabe der Musik nicht congruirt, sondern in letzter Consequenz derselben hemmend entgegensteht. Man spiele ein längeres Recitativ mit Hinweglassung der Worte, und frage dann nach seinem musikalischen Werth und Bedeuten. Diese Probe muß aber jede Musik aushalten, welcher allein wir die hervorgebrachte Wirkung zuschreiben sollen.
2.40Keineswegs auf das Recitativ beschränkt, können wir
vielmehr an den höchsten und erfülltesten Kunstformen dieselbe Bestätigung finden,
wie die musikalische Schönheit stets geneigt
[54] sei, dem
speciell Ausdrückenden zu weichen, weil jene ein selbstständiges
Entfalten, dieses ein dienendes Verleugnen erheischt.
2.41Steigen wir empor vom declamatorischen Princip im
Recitativ zum dramatischen in der Oper. Die Musikstücke in
Mozartʼs Opern stehen im vollem Einklang mit ihrem Text. Hört man
selbst die complicirtesten, die Finales, ohne Text, so werden Mittelglieder etwa
unklar bleiben, die Hauptpartien und deren Ganzes aber an sich schöne Musik sein.
Das
gleichmäßige Genügen an die musikalischen und die dramatischen Anforderungen gilt
bekanntlich darum mit Recht für das Ideal der Oper. Daß jedoch das Wesen derselben
eben dadurch ein steter Kampf ist zwischen dem Princip der dramatischen
Genauigkeit und dem der musikalischen Schönheit, ein unaufhörliches Concediren des
einen an das andere, dies ist meines Wissens nie erschöpfend entwickelt worden. Nicht
die Unwahrheit, daß sämmtliche handelnde Personen singen, macht das
Princip der Oper schwankend und schwierig – solche Illusionen geht die Phantasie mit
großer Leichtigkeit ein – die unfreie Stellung aber, welche Musik und Text zu einem
fortwährenden Ueberschreiten oder Nachgeben zwingt, macht, daß die Oper wie ein
constitutioneller Staat auf einem steten Kampfe zweier berechtigter Gewalten beruht.
Dieser Kampf,
[55] in dem der
Künstler bald das eine, bald das andere Princip muß siegen lassen, ist der Punkt,
aus
welchem alle Unzulänglichkeiten der Oper entspringen, und alle Kunstregeln auszugehen
haben, welche eben für die Oper Entscheidendes sagen wollen. In ihre
Consequenzen verfolgt, müssen das musikalische und das dramatische Princip einander
nothwendig durchschneiden. Nur sind die beiden Linien lang genug, um dem menschlichen
Auge eine beträchtliche Strecke hindurch parallel zu scheinen.
2.42Aehnliches gilt vom Tanze, wie wir in
jedem Ballet beobachten können. Je mehr er die schöne Rhythmik seiner Formen verläßt,
um mit Gesticulation und Mimik sprechend zu werden, bestimmte Gedanken
und Gefühle auszudrücken, desto mehr nähert er sich der formlosen Bedeutsamkeit der
bloßen Pantomime. Die Steigerung des dramatischen Princips im Tanze wird im selben
Maß eine Verletzung seiner plastisch-rhythmischen Schönheit. Ganz wie
ein gesprochenes Drama oder ein reines Instrumentalwerk vermag eine Oper nie
dazustehen. Darum wird das Augenmerk des echten Operncomponisten wenigstens ein
stetes Verbinden und Vermitteln sein, niemals ein principiell unverhältnißmäßiges
Vorherrschen des einen oder des andern Moments. Im Zweifel wird er sich aber für die
Bevorzugung
[56] der
musikalischen Forderung entscheiden, denn die Oper ist vorerst Musik,
nicht Drama. Man kann dies leicht an der eigenen, sehr verschiedenen Intention
ermessen, mit der man ein Drama besucht, oder aber eine Oper desselben Sujets. Die
Vernachlässigung des musikalischen Theils wird uns immer weit empfindlicher treffen.
17
2.43Die größte kunstgeschichtliche Bedeutung des
berühmten Streites zwischen den Gluckisten und den
Piccinisten liegt für uns darin, daß dabei der innere Conflict der
Oper durch den
[57] Widerstreit
ihrer beiden Factoren, des musikalischen und des dramatischen, zum erstenmal
ausführlich zur Sprache kam. Freilich geschah dies ohne ein wissenschaftliches
Bewußtsein von der unermeßlichen principiellen Bedeutung des Entscheides. Wer sich
die lohnende Mühe nicht gereuen läßt, auf die Quellen jenes Musikstreites selbst
zurückzugehen, 18 wird wahrnehmen, wie darin auf der reichen Scala
zwischen Grobheit und Schmeichelei die ganze witzige Fechtergewandtheit französischer Polemik herrscht, zugleich
aber eine solche Unmündigkeit in der Auffassung des principiellen Theiles, ein
solcher Mangel an tieferem Wissen, daß für die musikalische Aesthetik ein
Resultat aus diesen langjährigen Debatten nicht zu Tage steht. – Die
bevorzugtesten Köpfe:
Suard
und Abbé Arnaud
auf Gluckʼs Seite,
Marmontel
und La Harpe
wider ihn, gingen zwar wiederholt über die Kritik Gluckʼs hinaus zu einer
Beleuchtung des dramatischen Princips in der Oper und seines
Verhältnisses zum musikalischen; allein sie behandelten dieses
Verhältniß wie eine Eigenschaft der Oper unter vielen, nicht aber als das innerste
Lebensprincip derselben. Sie hatten
[58] keine Ahnung,
daß von der Entscheidung dieses Verhältnisses die ganze Existenz der Oper abhänge.
Merkwürdig ist, wie ganz nahe insbesondere Gluckʼs Gegner einigemal dem Punkte sind, von dem
aus der Irrthum des dramatischen Princips vollkommen erschaut und besiegt werden mag.
So sagt de la Harpe im Journal de Politique et de Littérature vom 5. October 1777:
„On objecte, quiʼil nʼest pas naturel, de chanter un air de cette nature
dans une situation passionée, que cʼest un moyen dʼarrêter la scène et de nuir
à lʼeffet. Je trouve ces objections absolument illusoires. Dʼabord dès quʼon
admet le chant, il faut lʼadmettre le plus beau possible, et il nʼest pas plus
naturel de chanter mal, que de chanter bien. Tous les arts sont fondées sur des
conventions, sur des données. Quand je viens à lʼopéra, cʼest pour entendre la
musique. Je nʼignore pas, quʼ
Alceste
ne faisait ses Adieux à
Admète
en chantant un air; mais comme Alceste est sur le théâtre pour chanter, si je retrouve sa douleur et
son amour dans un air bien melodieux, je jouirai de son chant en mʼintéressant
à son infortune.“
Sollte man glauben, daß La Harpe selbst nicht erkannte, wie prächtig er da auf
festem Boden stand? Denn
[59] bald darauf
läßt er sich beikommen, das Duo zwischen Agamemnon und Achilles in der „Iphigenia“ aus
dem Grunde zu bekämpfen,
„weil es sich durchaus nicht mit der Würde dieser beiden Helden vertrage,
daß sie zu gleicher Zeit redeten.“
Damit hatte er jenen festen Boden, das Princip der musikalischen
Schönheit, verlassen und verrathen, das Princip des Gegners stillschweigend, ja
unbewußt anerkennend.
2.44Je consequenter man das dramatische
Princip in der Oper rein halten will, ihr die Lebensluft der musikalischen Schönheit
entziehend, desto siecher schwindet sie dahin, wie ein Vogel unter der Luftpumpe.
Man
muß nothwendig bis zum rein gesprochenen Drama zurückkommen, womit man
wenigstens den Beweis hat, daß die Oper wirklich unmöglich ist, wenn man
nicht dem musikalischen Princip (mit vollem Bewußtsein seiner
realitätfeindlichen Natur) die Oberherrschaft in der Oper einräumt. In der wirklichen
künstlerischen Ausübung ist diese Wahrheit auch niemals geleugnet worden, und selbst
der strengste Dramatiker, Gluck, stellt zwar die falsche Theorie auf, die
Opernmusik habe nichts Anderes zu sein, als eine gesteigerte Declamation – in der
Ausübung bricht aber die musikalische Natur des Mannes oft genug durch,
und stets zum großen Vortheil seines Werkes. Dasselbe
[60] gilt von
Richard Wagner
. Für unseren Zusammenhang ist nur scharf hervorzuheben, daß der
Hauptgrundsatz
Wagnerʼs, wie er ihn im ersten Band von „Oper und Drama“ ausspricht:
„Der Irrthum der Oper als Kunstgenre besteht darin, daß ein Mittel (die
Musik) zum Zweck, der Zweck (das Drama) aber zum Mittel gemacht wird,“
– auf falschem Boden steht. Denn eine Oper, in der die Musik immer und
wirklich nur als Mittel zum dramatischen Ausdruck gebracht wird, ist ein
musikalisches Unding. 19
[61]
2.44.1Eine Consequenz des
Wagner
’schen Satzes (von Mittel und Zweck) wäre u. A. auch, daß alle Componisten
schweres Unrecht gethan haben, wenn
[62] sie zu
mittelmäßigen Texten und Situationen mehr als mittelmäßige Musik zu machen suchten,
und wir ebenso schweres Unrecht begehen, jene Musik zu lieben.
2.45Die Verbindung der Poesie mit der Musik und der
Oper ist eine Ehe zur linken Hand. Je näher wir diese morganatische Ehe betrachten,
welche die musikalische Schönheit mit dem bestimmt
[63]
vorgeschriebenen Inhalt eingeht, desto trügerischer dünkt uns ihre
Unauflöslichkeit.
2.46Wie kommt es, daß wir in jedem Gesangstück manche kleine Aenderung vornehmen können, welche die Richtigkeit des Gefühlsausdrucks nicht im Mindesten schwächend, doch die Schönheit des Motivs sogleich vernichtet? Das wäre unmöglich, wenn die letztere in der ersteren läge. Wie kommt es, daß manches Gesangstück, welches seinen Text tadellos ausdrückt, uns unleidlich schlecht erscheint? Vom Standpunkt des Gefühlsprincips kann man ihm nicht beikommen. Was bleibt also das Princip des Schönen in der Tonkunst, nachdem wir die Gefühle, als dafür unzureichend, abgelehnt?
2.47Ein ganz anderes selbstständiges Element, das wir sogleich näher betrachten wollen.
[64]
3.1Wir sind bisher negativ zu Werke gegangen und haben lediglich die irrige Voraussetzung abzuwehren gesucht, daß das Schöne der Musik in dem Darstellen von Gefühlen bestehen könne.
3.2Nun haben wir den positiven Gehalt zu jenem Umriß hinzuzubringen, indem wir die Frage beantworten, welcher Natur das Schöne der Tondichtung sei.
3.3
Es ist ein specifisch Musikalisches. Darunter verstehen wir ein Schönes,
das unabhängig und unbedürftig eines von Außen her kommenden Inhalts, einzig in den
Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt. Die sinnvollen Beziehungen in sich
reizvoller Klänge, ihr
[65] Zusammenstimmen
und Widerstreben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr Aufschwingen und Ersterben,
–
dies ist, was in freien Formen vor unser geistiges Anschauen tritt und als schön
gefällt.
3.4Das Urelement der Musik ist Wohllaut, ihr Wesen Rhythmus. Rhythmus im Großen, als die Uebereinstimmung eines symmetrischen Baues, und Rhythmus im Kleinen, als die wechselnd-gesetzmäßige Bewegung einzelner Glieder im Zeitmaß. Das Material, aus dem der Tondichter schafft, und dessen Reichthum nicht verschwenderisch genug gedacht werden kann, sind die gesammten Töne, mit der in ihnen ruhenden Möglichkeit zu verschiedener Melodie, Harmonie und Rhythmisirung. Unausgeschöpft und unerschöpflich waltet vor Allem die Melodie, als Grundgestalt musikalischer Schönheit; mit tausendfachem Verwandeln, Umkehren, Verstärken bietet die Harmonie immer neue Grundlagen; beide vereint bewegt der Rhythmus, die Pulsader musikalischen Lebens, und färbt den Reiz mannigfaltiger Klangfarben.
3.5Fragt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial
ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen. Eine
vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits
selbstständiges Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel
[66] oder
Material zur Darstellung von Gefühlen und Gedanken.
3.6Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen.
3.7In welcher Weise uns die Musik schöne
Formen ohne den Inhalt eines bestimmten Affectes bringen kann, zeigt uns
entfernt bereits ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die
Arabeske. Wir erblicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort
kühn emporstrebend, sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen
correspondirend, scheinbar incommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein
Gegen- oder Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner Einzelheiten und doch ein
Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske nicht todt und ruhend, sondern in
fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen entstehend. Wie die starken und feinen
Linien einander verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann
wieder senken, sich erweitern, zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und
Anspannung das Auge stets neu überraschen! Da wird das Bild schon höher und würdiger.
Denken wir uns vollends diese lebendige Arabeske als thätige Ausströmung eines
künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern
dieser Bewegung ergießt,
[67] – wird dieser
Eindruck dem musikalischen nicht einigermaßen nahekommend sein?
3.8Jeder von uns hat als Kind sich wohl an dem wechselnden Farben- und Formenspiel eines Kaleidoskops ergötzt. Ein solches Kaleidoskop jedoch auf unermeßbar höherer idealer Erscheinungsstufe ist Musik. Sie bringt in stets sich entwickelnder Abwechselung schöne Formen und Farben, sanft übergehend, scharf contrastirend, immer zusammenhängend und doch immer neu, in sich abgeschlossen und von sich selbst erfüllt. Der Hauptunterschied ist, daß solch unserm Ohr vorgeführtes Tonkaleidoskop sich als unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes giebt, jenes sichtbare aber als ein sinnreich-mechanisches Spielzeug. Will man nicht blos im Gedanken, sondern in Wirklichkeit die Erhebung der Farbe zur Musik vollziehen, und die Mittel der einen Kunst in die Wirkungen der andern einbetteln, so geräth man auf die abgeschmackte Spielerei des „Farbenclaviers“ oder der „Augenorgel,“ deren Erfindung jedoch beweist, wie die formelle Seite beider Erscheinungen auf gleicher Basis ruhe.
3.9Sollte irgend ein gefühlvoller Musikfreund unsre
Kunst durch Analogien wie die obige herabgewürdigt finden, so entgegnen wir, es
handle sich blos darum, ob die Analogien richtig seien
[68] oder nicht.
Herabgewürdigt wird nichts dadurch, daß man es besser kennen lernt. Will man auf die
Eigenschaft der Bewegung, der zeitlichen Entwicklung, wodurch das Beispiel vom
Kaleidoskop besonders treffend wird, verzichten, so kann man allerdings für das
Musikalisch-Schöne eine höhere Analogie etwa in der Architektur, dem menschlichen
Körper, oder einer Landschaft finden, die auch eine primitive Schönheit der Umrisse
und Farben (abgesehen von der Seele, dem geistigen Ausdruck) haben.
3.10Wenn man die Fülle von Schönheit nicht zu erkennen verstand, die im rein Musikalischen lebt, so trägt die Unterschätzung des Sinnlichen viel Schuld, welcher wir in älteren Aesthetiken zu Gunsten der Moral und des Gemüths, in Hegel zu Gunsten der „Idee“ begegnen. Jede Kunst geht vom Sinnlichen aus und webt darin. Die „Gefühlstheorie“ verkennt dies, sie übersieht das Hören gänzlich und geht unmittelbar anʼs Fühlen. Die Musik schaffe für das Herz, meinen sie, das Ohr sei ein triviales Ding.
3.11Ja, was sie eben Ohr nennen – für das „Labyrinth“
oder „Trommelfell“ dichtet kein Beethoven. Aber die Phantasie, die auf
Gehörsempfindungen organisirt ist und welcher der Sinn etwas ganz
Anderes bedeutet, als ein bloßer Trichter an die Oberfläche der Erscheinungen,
[69]
sie genießt in bewußter Sinnlichkeit die klingenden Figuren, die sich
aufbauenden Töne und lebt frei und unmittelbar in deren Anschauung.
3.12Es ist von außerordentlicher Schwierigkeit, dies selbstständige Schöne in der Tonkunst, dies specifisch Musikalische zu schildern. Da die Musik kein Vorbild in der Natur besitzt und keinen begrifflichen Inhalt ausspricht, so läßt sich von ihr nur mit trocknen technischen Bestimmungen, oder mit poetischen Fictionen erzählen. Ihr Reich ist in der That „nicht von dieser Welt.“ All die phantasiereichen Schilderungen, Charakteristiken, Umschreibungen eines Tonwerks sind bildlich oder irrig. Was bei jeder andern Kunst noch Beschreibung, ist bei der Tonkunst schon Metapher. Die Musik will nun einmal als Musik aufgefaßt sein, und kann nur aus sich selbst verstanden, in sich selbst genossen werden.
3.13Keineswegs ist das „Specifisch-Musikalische“ als
blos akustische Schönheit, oder proportionale Symmetrie zu verstehen, – Zweige, die
es als untergeordnet in sich begreift, – noch weniger kann von einem „ohrenkitzelnden
Spiel in Tönen“ die Rede sein und ähnlichen Bezeichnungen, womit der Mangel an
geistiger Beseelung hervorgehoben zu werden pflegt. Dadurch, daß wir auf musikalische
Schönheit dringen, haben wir den geistigen Gehalt nicht ausgeschlossen, sondern
[70] ihn
vielmehr bedingt. Denn wir anerkennen keine Schönheit ohne jeglichen Antheil von
Geist. Indem wir aber das Schöne in der Musik wesentlich in Formen
verlegt haben, ist schon angedeutet, daß der geistige Gehalt in engstem Zusammenhange
mit diesen Tonformen steht. Der Begriff der „Form“ findet in der Musik eine ganz
eigenthümliche Verwirklichung. Die Formen, welche sich aus Tönen bilden,
sind nicht leer, sondern erfüllte, nicht bloße Linienbegrenzung eines Vacuums,
sondern sich von innen heraus gestaltender Geist. Der Arabeske gegenüber ist demnach
die Musik in der That ein Bild, allein ein solches, dessen Gegenstand
wir nicht in Worte fassen und unsern Begriffen unterordnen können. In der Musik ist
Sinn und Folge, aber musikalische; sie ist eine Sprache, die wir
sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht im Stande sind. Es
liegt eine tiefsinnige Erkenntniß darin, daß man auch in Tonwerken von „Gedanken“
spricht, und wie in der Rede unterscheidet da das geübte Urtheil leicht echte
Gedanken von bloßen Redensarten. Ebenso erkennen wir das vernünftig Abgeschlossene
einer Tongruppe, indem wir sie einen „Satz“ nennen. Fühlen wir doch so
genau wie bei jeder logischen Periode, wo ihr Sinn zu Ende ist, obgleich die Wahrheit
beider ganz incommensurabel dasteht.
[71]
3.14Das befriedigend Vernünftige, das an und für sich in musikalischen Formbildungen liegen kann, beruht in gewissen primitiven Grundgesetzen, welche die Natur in die Organisation des Menschen und in die äußeren Lauterscheinungen gelegt hat. Das Urgesetz der „harmonischen Progression“ ist es vorzugsweise, welches, analog der Kreisform bei den bildenden Künsten, den Keim der wichtigsten Weiterbildung und die – leider fast unerklärte – Erklärung der verschiedenen musikalischen Verhältnisse in sich trägt.
3.15Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in geheimen, auf Naturgesetze gegründeten Verbindungen und Wahlverwandtschaften. Diese den Rhythmus, die Melodie und Harmonie unsichtbar beherrschenden Wahlverwandtschaften verlangen in der menschlichen Musik ihre Befolgung und stempeln jede ihnen widersprechende Verbindung zu Willkür und Häßlichkeit. Sie leben, wenngleich nicht in der Form wissenschaftlichen Bewußtseins, instinctiv in jedem gebildeten Ohr, welches demnach das Organische, Vernunftgemäße einer Tongruppe, oder das Widersinnige, Unnatürliche derselben durch bloße Anschauung empfindet, ohne daß ein logischer Begriff den Maßstab oder das tertium comparationis hierzu abgäbe. 20
[72]
3.16In dieser negativen, inneren Vernünftigkeit, welche dem Tonsystem durch Naturgesetze innewohnt, wurzelt dessen weitere Fähigkeit zur Aufnahme positiven Schönheitsgehalts.
3.17Das Componiren ist ein Arbeiten des Geistes in
geistfähigem Material. So reichhaltig wir dies musikalische Material befunden haben,
so elastisch und durchdringbar erweist es sich für die künstlerische Phantasie. Diese
baut nicht wie der Architekt auf rohem, schwerfälligem Gestein, sondern auf der
Nachwirkung vorher verklungener Töne. Geistigerer, feinerer Natur, als jeder andere
Kunststoff, nehmen die Töne willig jedwede Idee des Künstlers in sich auf. Da nun
die
Tonverbindungen, in deren Verhältnissen das musikalisch Schöne ruht, nicht durch
mechanisches Aneinanderreihen, sondern durch freies Schaffen der Phantasie gewonnen
werden, so prägt sich
[73] die geistige
Kraft und Eigenthümlichkeit dieser bestimmten Phantasie dem Erzeugniß als
Charakter auf. Als Schöpfung eines denkenden und fühlenden Geistes
hat demnach eine musikalische Composition in hohem Grade die Fähigkeit, selbst geist-
und gefühlvoll zu sein. Diesen geistigen Gehalt werden wir in jedem musikalischen
Kunstwerk fordern, doch darf er in kein anderes Moment desselben verlegt werden, als
in die Tonbildungen selbst. Unsere Ansicht über den Sitz des Geistes und
Gefühls einer Composition verhält sich zu der gewöhnlichen Meinung wie die Begriffe
Immanenz und Transcendenz. Jede Kunst hat zum Ziel, eine
in der Phantasie des Künstlers lebendig gewordene Idee zur äußeren Erscheinung zu
bringen. Dies Ideelle in der Musik ist ein tonliches, nicht ein
begriffliches, welches erst in Töne zu übersetzen wäre. Nicht der Vorsatz, eine
bestimmte Leidenschaft musikalisch zu schildern, sondern die Erfindung einer
bestimmten Melodie ist der springende Punkt, aus welchem jedes weitere Schaffen des
Componisten seinen Ausgang nimmt. Durch jene primitive, geheimnißvolle Macht, in
deren Werkstätte das Menschenauge nun und nimmermehr dringen wird, erklingt in dem
Geist des Componisten ein Thema, ein Motiv. Hinter die Entstehung dieses
ersten Samenkorns können wir nicht zurückgehen, wir
[74] müssen es als
einfache Thatsache hinnehmen. Ist es einmal in die Phantasie des Künstlers gefallen,
so beginnt sein Schaffen, welches, von diesem Hauptthema ausgehend und sich stets
darauf beziehend, das Ziel verfolgt, es in allen seinen Beziehungen darzustellen.
Das
Schöne eines selbstständigen einfachen Themas kündigt sich in dem ästhetischen Gefühl
mit jener Unmittelbarkeit an, welche keine andere Erklärung duldet, als höchstens
die
innere Zweckmäßigkeit der Erscheinung, die Harmonie ihrer Theile, ohne Beziehung auf
ein außerhalb existirendes Drittes. Es gefällt uns an sich, wie die Arabeske, die
Säule, oder wie Producte des Naturschönen, wie Blatt und Blume.
3.18Nichts irriger und häufiger, als die Anschauung, welche „schöne Musik“ mit und ohne geistigen Gehalt unterscheidet. Sie faßt den Begriff des Schönen in der Musik viel zu eng und stellt sich die kunstreich zusammengefügte Form als etwas für sich selbst Bestehendes, die hineingegossene Seele gleichfalls als etwas Selbstständiges vor und theilt nun consequent die Compositionen in gefüllte und leere Champagnerflaschen. Der musikalische Champagner hat aber das Eigenthümliche, er wächst mit der Flasche.
3.19Ein bestimmter musikalischer Gedanke ist ohne
Weiteres durch sich geistvoll, der andere gemein; diese abschließende Cadenz klingt
würdig,
[75] durch Veränderung von zwei Noten wird sie platt. Mit voller Richtigkeit bezeichnen
wir ein musikalisches Thema als großartig, graziös, innig, geistlos, trivial; – all
diese Ausdrücke bezeichnen aber den musikalischen Charakter der Stelle.
Zur Charakterisirung dieses musikalischen Ausdrucks eines Motivs wählen wir häufig
Begriffe aus unserem Gemüthsleben, als „stolz, mißmuthig, zärtlich,
beherzt, sehnend.“ Wir können die Bezeichnungen aber auch aus anderen
Erscheinungskreisen nehmen, und eine Musik „duftig, frühlingsfrisch, nebelhaft,
frostig“ nennen. Gefühle sind also zur Bezeichnung musikalischen Charakters nur
Phänomene wie andere, welche Aehnlichkeiten dafür bieten. Derlei
Epitheta mag man im Bewußtsein ihrer Bildlichkeit brauchen, ja man kann ihrer nicht
entrathen, nur hüte man sich zu sagen: diese Musik schildert Stolz
u. s. f.
3.20Die genaue Betrachtung aller musikalischen
Bestimmtheiten eines Themas überzeugt uns aber, daß es – bei aller Unerforschlichkeit
der letzten, ontologischen Gründe – doch eine Anzahl näherliegender Ursachen giebt,
mit welchen der geistige Ausdruck einer Musik in genauem Zusammenhang steht. Jedes
einzelne musikalische Element (d. h. jedes Intervall, jede Klangfarbe, jeder Accord,
jeder Rhythmus u. s. f.) hat seine eigenthümliche Physiognomie, seine bestimmte Art
zu wirken.
[76] Unerforschlich
ist der Künstler, erforschlich das Kunstwerk.
3.21Dasselbe Thema klingt anders über dem Dreiklang, als über einem Sextaccord; ein Melodienschritt in die Septime trägt ganz anderen Charakter als in die Sexte; der Rhythmus, der ein Motiv begleitet, ob laut oder leise, von dieser oder jener Klanggattung, ändert dessen specifische Färbung: kurz, jeder einzelne musikalische Factor einer Stelle trägt dazu mit Nothwendigkeit bei, daß sie gerade diesen geistigen Ausdruck annimmt, so und nicht anders auf den Hörer wirkt. Was die Halévy ʼsche Musik bizarr, die Auber ʼsche graziös macht, was die Eigenthümlichkeit bewirkt, an der wir sogleich Mendelssohn , Spohr erkennen, dies Alles läßt sich auf rein musikalische Bestimmungen zurückführen, ohne Berufung auf das räthselhafte Gefühl.
3.22 Warum die häufigen Quintsext-Accorde, die engen, diatonischen Themen bei Mendelssohn , die Chromatik und Enharmonik bei Spohr , die kurzen, zweitheiligen Rhythmen bei Auber u. s. w. gerade diesen bestimmten, unvermischbaren Eindruck erzeugen – dies kann freilich weder die Psychologie, noch die Physiologie beantworten.
3.23Wenn man jedoch nach der nächsten
bestimmenden Ursache fragt – und darauf kömmt es ja in der Kunst vorzüglich an – so
liegt die
[77]
leidenschaftliche Einwirkung eines Themas nicht in dem vermeintlich übermäßigen
Schmerz des Componisten, sondern in dessen übermäßigen Intervallen, nicht in dem
Zittern seiner Seele, sondern im Tremolo der Pauken, nicht in seiner Sehnsucht,
sondern in der Chromatik. Der Zusammenhang Beider soll keineswegs
ignorirt, vielmehr bald näher betrachtet werden; festzuhalten ist aber, daß der
wissenschaftlichen Untersuchung über die Wirkung eines Themas nur jene
musikalischen Factoren unwandelbar und objectiv vorliegen, niemals
die vermuthliche Stimmung, welche den Componisten dabei erfüllte. Will man von dieser
unmittelbar auf die Wirkung des Werkes folgern, oder diese aus jener erklären, so
kann der Schlußsatz vielleicht richtig ausfallen, aber das wichtigste
Mittelglied der Deduction, nämlich die Musik selbst, wurde
übersprungen.
3.24Die praktische Kenntniß des Charakters
jedes musikalischen Elements hat der tüchtige Componist, sei es in mehr instinctiver
oder bewußter Weise, inne. Zur wissenschaftlichen Erklärung der verschiedenen
musikalischen Wirkungen und Eindrücke gehört jedoch eine theoretische
Kenntniß der genannten Charaktere, von ihrer reichsten Zusammensetzung bis in das
letzte unterscheidbare Element. Der bestimmte Eindruck, mit welchem eine Melodie
Macht über uns gewinnt,
[78] ist nicht
schlechthin „räthselhaftes, geheimnißvolles Wunder,“ das wir nur „fühlen und ahnen“
dürfen, sondern unausbleibliche Consequenz der musikalischen Factoren, welche in
dieser bestimmten Verbindung wirken. Ein knapper oder weiter Rhythmus, diatonische
oder chromatische Fortschreitung, – Alles hat seine charakteristische Physiognomie
und besondere Art uns anzusprechen; darum wird es dem gebildeten Musiker eine
ungleich deutlichere Vorstellung von dem Ausdruck eines ihm fremden Tonstücks geben,
daß z. B. zu viel verminderte Septaccorde und Tremolo darin vorherrschen, als die
poetischeste Schilderung der Gefühlskrisen, welche der Referent dabei
durchgemacht.
3.25Die Erforschung der Natur jedes einzelnen
musikalischen Elements, seines Zusammenhanges mit einem bestimmten Eindruck – nur
der
Thatsache, nicht des letzten Grundes – endlich die Zurückführung dieser speciellen
Beobachtungen auf allgemeine Gesetze: das wäre jene „philosophische Begründung der
Musik,“ welche so viele Autoren ersehnen, ohne uns nebenbei mitzutheilen, was sie
darunter eigentlich verstehen. Die psychische und physische Einwirkung jedes Accords,
jedes Rhythmus, jedes Intervalls wird aber nimmermehr erklärt, indem man sagt: dieser
ist Roth, jener Grün, oder dieser Hoffnung, jener Mißmuth, sondern nur durch
Subsumirung der specifisch
[79] musikalischen
Eigenschaften unter allgemeine ästhetische Kategorien und dieser unter Ein oberstes
Princip. Wären dergestalt die einzelnen Factoren in ihrer Isolirung erklärt, so müßte
weiter gezeigt werden, wie sie einander in den verschiedensten Combinationen
bestimmen und modificiren. Der Harmonie und der
contrapunktischen Begleitung haben die meisten Tongelehrten eine
vorzügliche Stellung zu dem geistigen Gehalt der Composition eingeräumt.
Nur ging man in dieser Vindication viel zu oberflächlich und atomistisch zu Werke.
Man bestimmte die Melodie als Eingebung des Genies, als Trägerin der
Sinnlichkeit und des Gefühls – bei dieser Gelegenheit erhielten die Italiener ein
gnädiges Lob; im Gegensatz zur Melodie wurde die Harmonie
als Trägerin des gediegenen Gehalts aufgeführt, als erlernbar und Product des
Nachdenkens. Es ist seltsam, wie lange man sich mit einer so dürftigen
Anschauungsweise zufrieden stellen konnte. Beiden Behauptungen liegt ein Richtiges
zu
Grunde, doch gelten sie weder in dieser Allgemeinheit, noch kommen sie in solcher
Isolirung vor. Der Geist ist Eins und die musikalische Erfindung eines Künstlers
gleichfalls. Melodie und Harmonie eines Themas entspringen zugleich in
einer Rüstung aus dem Haupt des Tondichters. Weder das Gesetz der
Unterordnung noch des Gegen
[80] satzes trifft
das Wesen des Verhältnisses der Harmonie zur Melodie. Beide können hier
gleichzeitige Entfaltungskraft ausüben, dort sich einander freiwillig unterordnen,
–
in dem einen wie dem andern Fall kann die höchste geistige Schönheit erreicht werden.
Istʼs etwa die (ganz fehlende) Harmonie in den Hauptmotiven zu Beethovenʼs
Coriolan- und Mendelssohnʼs Hebriden-Ouvertüre, was ihnen den Ausdruck
gedankenreichen Tiefsinns verleiht? Wird man
Rossiniʼs Thema „o, Mathilde“ oder ein neapolitanisches Volkslied mit mehr Geist erfüllen,
wenn man einen basso continuo, oder complicirte Accordenfolgen an die Stellen des
nothdürftigen Harmoniegeländes setzt? Diese Melodie mußte mit
dieser Harmonie zugleich erdacht werden, mit diesem
Rhythmus und dieser Klanggattung. Der geistige Gehalt kommt nur dem
Verein Aller zu, und die Verstümmlung eines Gliedes verletzt den
Ausdruck auch der übrigen. Das Vorherrschen der Melodie oder der
Harmonie oder des Rhythmus kommt dem Ganzen zu Gute, und hier allen Geist in den
Accorden, dort alle Trivialität in deren Mangel zu finden, ist baare Schulmeisterei.
Die Camelie kommt duftlos zu Tage, die Lilie farblos, die Rose prangt für beide Sinne
– da läßt sich nichts übertragen, und ist doch jede von ihnen schön!
[81]
3.26So hätte die „philosophische Begründung der Musik“ vorerst zu erforschen, welche nothwendigen geistigen Bestimmtheiten mit jedem musikalischen Element verbunden sind, und wie sie mit einander zusammenhängen. Die doppelte Forderung eines streng wissenschaftlichen Gerippes und einer höchst reichhaltigen Casuistik machen die Aufgabe zu einer sehr schwierigen, aber kaum unüberwindlichen, es wäre denn, daß man das Ideal einer „exacten“ Musikwissenschaft, nach dem Muster der Chemie oder Physiologie, erstrebte!
3.27Die Art, wie der Act des Schaffens im
instrumentalen Tondichter vorgeht, giebt uns den sichersten Einblick in das
Eigenthümliche des musikalischen Schönheitsprincips. Eine musikalische
Idee entspringt primitiv in des Tondichters Phantasie, er spinnt sie weiter, – es
schießen immer mehr und mehr Krystalle an, bis unmerklich die Gestalt des ganzen
Gebildes in ihren Hauptformen vor ihm steht und nur die künstlerische Ausführung,
prüfend, messend, abändernd, hinzuzutreten hat. An die Darstellung eines bestimmten
Inhaltes denkt der instrumentale Tonsetzer nicht. Thut er es, so stellt er sich auf
einen falschen Standpunkt, mehr neben als in der Musik. Seine Composition wird die
Uebersetzung eines Programms in Töne, welche dann ohne jenes Programm
unverständlich bleiben. Wir verkennen weder, noch unterschätzen wir
Ber
[82]
liozʼ glänzendes Talent, wenn wir an dieser Stelle seinen Namen
nennen. Ihm ist
Liszt
mit seinen weit schwächeren „symphonischen Dichtungen“ nachgefolgt.
3.28Wie aus dem gleichen Marmor der eine Bildhauer bezaubernde Formen, der andere eckiges Ungeschick heraushaut, so gestaltet sich die Tonleiter unter verschiedenen Händen zur Beethovenʼschen Ouvertüre, oder zur Verdiʼschen. Was unterscheidet die Beiden? Etwa, daß die eine höhere Gefühle, oder dieselben Gefühle richtiger darstellt? Nein, sondern daß sie schönere Tonformen bildet. Nur dies macht eine Musik gut oder schlecht, daß ein Componist ein geistsprühendes Thema einsetzt, der andere ein gemeines, daß der Erstere es nach allen Beziehungen immer neu und bedeutend entwickelt, der Letztere seines wo möglich immer schlechter macht, die Harmonie des einen wechselvoll und originell sich entfaltet, während die zweite vor Armuth nicht vom Flecke kommt, der Rhythmus hier ein lebenswarm hüpfender Puls ist, dort ein Zapfenstreich.
3.29Es giebt keine Kunst, welche so bald und so viele
Formen verbraucht, wie die Musik. Modulationen, Cadenzen,
Intervallenfortschreitungen, Harmonienfolgen nutzen sich in 50, ja 30 Jahren
dergestalt ab, daß der geistvolle Componist sich deren nicht mehr bedienen kann und
[83]
fortwährend zur Erfindung neuer, rein musikalischer Züge gedrängt wird. Man kann von
einer Menge Compositionen, die hoch über dem Alltagstand ihrer Zeit stehen, ohne
Unrichtigkeit sagen, daß sie einmal schön waren. Die Phantasie des
geistreichen Künstlers wird aus den geheim-ursprünglichen Beziehungen der
musikalischen Elemente und ihrer unzählbar möglichen Combinationen die feinsten,
verborgensten entdecken, sie wird Tonformen bilden, die aus freiester Willkür
erfunden und doch zugleich durch ein unsichtbar feines Band mit der Nothwendigkeit
verknüpft erscheinen. Solche Werke oder Einzelheiten derselben werden wir ohne
Bedenken „geistreich“ nennen. Hiermit berichtigt sich leicht
Oulibicheffʼs mißverständliche Ansicht, eine Instrumentalmusik
könne nicht geistreich sein, indem
„für einen Componisten der Geist einzig und allein in einer gewissen
Anwendung seiner Musik auf ein directes oder indirectes
Programm bestehe.“
Es wäre unserer Ansicht nach ganz richtig, das berühmte dis in dem Allegro der
„Don Juan“-Ouvertüre oder den
absteigenden Unisonogang darin einen geistreichen Zug zu nennen, – nun und nimmermehr
hat aber das erstere (wie Oulibicheff meint)
„die feindliche Stellung Don Juanʼs gegen das
Menschengeschlecht,“
und letzterer die Väter, Gatten, Brüder und Liebhaber der von Don Juan ver
[84] führten Frauen
vorgestellt. Sind alle diese Deutungen an sich schon vom Uebel, so werden sie es
doppelt bei
Mozart
, welcher – die musikalischste Natur, welche die Kunstgeschichte aufweist –
Alles, was er nur berührt hat, in Musik verwandelte.
Oulibicheff
sieht auch in der G-moll-Symphonie die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe in 4
verschiedenen Phasen genau ausgedrückt. Die G-moll-Symphonie ist Musik und weiter nichts. Das ist jedenfalls genug. Man
suche nicht die Darstellung bestimmter Seelenprocesse oder Ereignisse in Tonstücken,
sondern vor Allem Musik, und man wird rein genießen, was sie vollständig
giebt. Wo das Musikalisch-Schöne fehlt, wird das Hineinklügeln einer großartigen
Bedeutung es nie ersetzen, und dies ist unnütz, wo jenes existirt. Auf alle Fälle
bringt es die musikalische Auffassung in eine ganz falsche Richtung. Dieselben Leute,
welche der Musik eine Stellung unter den Offenbarungen des menschlichen Geistes
vindiciren wollen, welche sie nicht hat und nie erlangen wird, weil sie nicht im
Stande ist, Ueberzeugungen mitzutheilen, – dieselben Leute haben auch
den Ausdruck „Intention“ in Schwang gebracht. In der Tonkunst giebtʼs keine
„Intention“ welche die fehlende „Invention“ ersetzen könnte. Was nicht zur
Erscheinung kommt, ist in der Musik gar
[85] nicht da, was
aber zur Erscheinung gekommen ist, hat aufgehört bloße Intention zu sein. Der
Ausspruch: „Er hat Intentionen,“ wird meist in lobender Absicht angewandt, – mir
scheint er eher ein Tadel, welcher in trockenes Deutsch übersetzt etwa lauten würde:
der Künstler möchte wohl, allein er kann nicht. Kunst kommt aber von
Können; wer nichts kann, – hat „Intentionen“.
3.30Wie das Schöne eines Tonstücks lediglich in dessen musikalischen Bestimmungen wurzelt, so folgen auch die Gesetze seiner Construction nur diesen. Es herrschen darüber eine Menge schwankender, irriger Ansichten, von welchen hier nur Eine angeführt werden mag.
3.31Dies ist nämlich die aus der Gefühlsanschauung
hervorgegangene landläufige Theorie der Sonate und
Symphonie. Der Tonsetzer, heißt es, habe vier von einander
verschiedene Seelenzustände, die aber mit einander (wie?)
zusammenhängen, in den einzelnen Sätzen der Sonate darzustellen. Um den unläugbaren
Zusammenhang der Sätze zu rechtfertigen und ihre verschiedene Wirkung zu erklären,
zwingt man ordentlich den Zuhörer, ihnen bestimmte Gefühle als Inhalt unterzulegen.
Die Deutung paßt manchmal, öfter auch nicht, niemals mit Nothwendigkeit. Dies aber
wird immer mit Nothwendigkeit
[86] passen, daß
vier Tonsätze zu einem Ganzen verbunden sind, welche nach
musikalisch-ästhetischen Gesetzen sich abzuheben und zu steigern haben.
Wir verdanken dem phantasiereichen Maler M. v.
Schwind
eine sehr anziehende Illustration der Clavierphantasie op. 80 von
Beethoven
, deren einzelne Sätze der Künstler als zusammenhängende Ereignisse derselben
Hauptpersonen auffaßte und bildlich darstellte. Gerade so wie der Maler Scenen und
Gestalten aus den Tönen heraussieht, so legt der Zuhörer Gefühle und Ereignisse
hinein. Beides hat damit einen gewissen Zusammenhang, aber keinen
nothwendigen, und nur mit diesem haben es wissenschaftliche Gesetze
zu thun.
3.32Man pflegt oft anzuführen, daß Beethoven beim Entwurf
mancher seiner Compositionen sich bestimmte Ereignisse oder Seelenzustände gedacht
haben soll. Wo Beethoven oder irgend ein andrer Tonsetzer diesen Vorgang beobachtete,
benützte er ihn blos als Hülfsmittel, sich durch den Zusammenhang eines objectiven
Ereignisses das Festhalten der musikalischen Einheit zu erleichtern. Wenn Berlioz,Liszt u. A.
mehr als dies an der Dichtung, dem Titel oder dem Erlebniß zu haben
glaubten, so ist dies eine Selbsttäuschung. Die Einheit der musikalischen
Stimmung istʼs, was die vier Sätze einer Sonate als organisch
[87] verbunden
charakterisirt, nicht aber der Zusammenhang mit dem vom Componisten gedachten
Objecte. Wo sich dieser solch poetisches Gängelband versagte, und
rein musikalisch erfand, da wird man keine andre Einheit der Theile finden, als eine
musikalische. Es ist ästhetisch gleichgültig, ob sich Beethoven allenfalls bei
seinen sämmtlichen Compositionen bestimmte Vorwürfe gewählt, wir kennen sie nicht,
sie sind daher für das Werk nicht existirend. Dieses selbst, ohne allen Commentar,
istʼs was vorliegt, und wie der Jurist aus der Welt hinausfingirt, was nicht in den
Acten liegt, so ist für die ästhetische Beurtheilung nicht vorhanden, was außerhalb
des Kunstwerks lebt. Erscheinen uns die Sätze einer Composition als einheitlich, so
muß diese Zusammengehörigkeit in musikalischen Bestimmungen ihren Grund
haben. 21
[88]
3.33Einem möglichen Mißverstehen wollen wir schließlich
dadurch begegnen, daß wir unsern Begriff des „Musikalisch-Schönen“ nach drei Seiten
feststellen. Das „Musikalisch-Schöne“ in dem von uns angenommenen specifischen Sinn
beschränkt sich nicht auf das „Classische,“ noch enthält es eine Bevorzugung
desselben vor dem „Romantischen.“ Es gilt sowohl in der einen als der andern
Richtung, beherrscht Bach so gut als
Beethoven
,
Mozart
so gut als
Schumann
.
[89] Unsere Thesis also enthält auch nicht die Andeutung einer Parteinahme. Der ganze
Verlauf der gegenwärtigen Untersuchung spricht überhaupt kein Sollen
aus, sondern betrachtet nur ein Sein; kein bestimmtes musikalisches
Ideal läßt sich daraus als das wahrhaft Schöne deduciren, sondern blos nachweisen,
was in jeder, auch in den entgegengesetztesten Schulen in gleicher Weise das Schöne
ist.
3.34Es ist nicht lange her, seit man angefangen hat,
Kunstwerke im Zusammenhang mit den Ideen
[90] und Ereignissen
der Zeit zu betrachten, welche sie erzeugte. Dieser unläugbare Zusammenhang besteht
wahrscheinlich auch für die Musik. Eine Manifestation des menschlichen Geistes, muß
sie wohl auch in Wechselbeziehung zu dessen übrigen Thätigkeiten stehen: zu den
gleichzeitigen Schöpfungen der dichtenden und bildenden Kunst, den poetischen,
socialen, wissenschaftlichen Zuständen ihrer Zeit, endlich den individuellen
Erlebnissen und Ueberzeugungen des Autors. Die Betrachtung und Nachweisung dieses
Zusammenhangs an einzelnen Tonkünstlern und Tonwerken ist demnach wohl berechtigt
und
ein wahrer Gewinn. Doch muß man dabei sich stets in Erinnerung halten, daß ein
solches Parallelisiren künstlerischer Specialitäten mit bestimmten historischen
Zuständen ein kunstgeschichtlicher, keineswegs ein rein
ästhetischer Vorgang ist. So nothwendig die Verbindung der
Kunstgeschichte mit der Aesthetik von methodologischem Standpunkt erscheint, so muß
doch jede dieser beiden Wissenschaften ihr eigenstes Wesen vor einer unfreien
Verwechselung mit der andern rein erhalten. Mag der Historiker, eine künstlerische
Erscheinung im Großen und Ganzen auffassend, in
Spontini
den „Ausdruck des französischen
Kaiserreichs,“ in
Rossini
die „politische Restauration“ erblicken, – der Aesthetiker hat sich lediglich
an die Werke dieser Männer
[91] zu halten, zu
untersuchen, was daran schön sei und warum? Die ästhetische Untersuchung weiß nichts
und darf nichts wissen von den persönlichen Verhältnissen und der geschichtlichen
Umgebung des Componisten, nur was das Kunstwerk selbst ausspricht, wird sie hören
und
glauben. Sie wird demnach in
Beethovenʼs Symphonien, auch ohne Namen und Biographie des Autors zu
kennen ein Stürmen, Ringen, unbefriedigtes Sehnen, kraftbewußtes Trotzen
herausfinden, allein daß der Componist republikanisch gesinnt, unverheirathet, taub
gewesen, und all die andern Züge, welche der Kunsthistoriker beleuchtend hinzuhält,
wird jene nimmermehr aus den Werken lesen und zur Würdigung derselben verwerthen
dürfen. Die Verschiedenheit der Weltanschauung eines
Bach
,
Mozart
,
Haydn
zu vergleichen, und den Contrast ihrer Compositionen darauf zurückzuführen,
mag für eine höchst anziehende, verdienstliche Unternehmung gelten, doch sie ist
unendlich complicirt und wird Fehlschlüssen um so ausgesetzter sein, je strenger sie
den Causalnexus darlegen wollte. Die Gefahr der Uebertreibung ist bei Annahme dieses
Princips außerordentlich groß. Man kann da leicht den losesten Einfluß der
Gleichzeitigkeit als eine innere Nothwendigkeit darstellen und die ewig
unübersetzbare Tonsprache deuten, wie manʼs eben braucht. Es wird rein
[92] auf die
schlagfertige Durchführung desselben Paradoxons ankommen, daß es im Munde des
geistreichen Mannes eine Weisheit, in jenem des schlichten ein Unsinn erscheint.
3.35Auch
Hegel
hat in Besprechung der Tonkunst oft irregeführt, indem er seinen vorwiegend
kunstgeschichtlichen Standpunkt unmerklich mit dem rein ästhetischen
verwechselt und in der Musik Bestimmtheiten nachweist, die sie an sich niemals hatte.
„Einen Zusammenhang“ hat der Charakter jedes Tonstückes mit dem seines Autors gewiß,
allein er steht für den Aesthetiker nicht zu Tage; – die Idee des nothwendigen
Zusammenhangs aller Erscheinungen kann in ihrer concreten Nachweisung
bis zur Caricatur übertrieben werden. Es gehört heutzutage ein wahrer Heroismus dazu,
dieser pikanten, geistreich repräsentirten Richtung entgegenzutreten und
auszusprechen, daß das „historische Begreifen“ und das „ästhetische Beurtheilen“
verschiedene Dinge sind. 22 Objectiv aber steht fest:
erstens, daß die Verschiedenartigkeit des Ausdrucks der verschiedenen
Werke und Schulen auf einer durchgreifend verschiedenen Stellung der
musikalischen Elemente beruhe, und zweitens, daß, was an
einer Composition, sei es die
[93] strengste
Bach
ʼsche Fuge, oder das träumerischste Notturno von
Chopin
, mit Recht gefällt, musikalisch schön sei.
3.36Noch weniger als mit dem Classischen kann das „Musikalisch-Schöne“ mit dem Architektonischen zusammenfallen, das es als Zweig in sich faßt. Die starre Erhabenheit übereinander gethürmter Figuration, die kunstreiche Verschlingung vieler Stimmen, von denen keine frei und selbstständig ist, weil es alle sind, haben ihre unvergängliche Berechtigung. Doch sind jene großartig düstern Stimmpyramiden der alten Italiener und Niederländer ebensosehr nur ein kleiner Bezirk auf dem Gebiete der musikalischen Schönheit, als die vielen zierlich ausgearbeiteten Salzfässer und silbernen Leuchter des ehrwürdigen Sebastian Bach.
3.37Viele Aesthetiker halten den musikalischen Genuß
durch das Wohlgefallen am Regelmäßigen und Symmetrischen
für ausreichend erklärt, worin doch niemals ein Schönes, vollends ein
Musikalisch-Schönes bestand. Das abgeschmackteste Thema kann vollkommen symmetrisch
gebaut sein. „Symmetrie“ ist ja nur ein Verhältnißbegriff und läßt die Frage offen:
Was ist es denn, das hier symmetrisch erscheint? – Die regelmäßige
Anordnung geistloser, abgenützter Theilchen wird sich gerade in den
allerschlechtesten
[94] Compositionen
nachweisen lassen. Der musikalische Sinn verlangt immer neue
symmetrische Bildungen. 23
[95]
3.38Zuletzt hat für die Musik diese Platonische Ansicht Oerstedt an dem Beispiel des Kreises entwickelt, dem er positive Schönheit vindicirt. Sollte er niemals die ganze Entsetzlichkeit einer kreisrunden Composition an sich erlebt haben?
3.39Vorsichtiger vielleicht als nothwendig, sei endlich
noch hinzugefügt, daß die musikalische Schönheit mit dem Mathematischen
nichts zu thun hat. Die Vorstellung, welche Laien (darunter auch gefühlvolle
Schriftsteller) von der Rolle hegen, welche die Mathematik in der musikalischen
Composition spielt, ist eine merkwürdig vage. Nicht zufrieden damit, daß die
Schwingungen der Töne, der Abstand der Intervalle, das Consoniren und Dissoniren sich
auf mathematische Verhältnisse zurückführen lassen, sind sie überzeugt, auch das
Schöne einer Tondichtung gründe sich
[96] auf Zahlen. Das
Studium der Harmonielehre und des Contrapunkts gilt für eine Art Cabbala, welche die
„Berechnung“ der Composition lehre.
3.40 & 3.41Wenn für die Erforschung des
physikalischen Theils der Tonkunst die Mathematik einen unentbehrlichen Schlüssel
liefert, so möge im fertigen Tonwerk hingegen ihre Bedeutung nicht überschätzt
werden. In einer Tondichtung, sei sie die schönste oder die schlechteste, ist gar
nichts mathematisch berechnet. Schöpfungen der Phantasie sind keine Rechenexempel.
Alle Monochord-Experimente, Klangfiguren, Intervallproportionen u. dgl. gehören nicht
hierher, der ästhetische Bereich fängt erst an, wo jene
Elementarverhältnisse in ihrer Bedeutung aufgehört haben. Die Mathematik regelt blos
den elementaren Stoff zu geistfähiger Behandlung und spielt verborgen in den
einfachsten Verhältnissen, aber der musikalische Gedanke kommt ohne sie ans Licht.
Wenn
Oerstedt
fragt:
„Sollte wohl die Lebenszeit mehrerer Mathematiker hinreichen, alle
Schönheiten einer
Mozart
ʼschen Symphonie zu berechnen?“
24 so bekenne ich, daß ich das nicht verstehe. Was soll
denn oder kann berechnet werden? Etwa das Schwingungsverhältniß jedes Tones zum
nächst
[97] folgenden, oder
die Längen der einzelnen Perioden gegen einander? Was eine Musik zur Tondichtung
macht, und sie aus der Reihe physikalischer Experimente hebt, ist ein Freies,
Geistiges, daher unberechenbar. Am musikalischen Kunstwerk hat die
Mathematik einen ebenso kleinen oder ebenso großen Antheil, wie an den
Hervorbringungen der übrigen Künste. Denn Mathematik muß am Ende auch die Hand des
Malers und Bildhauers führen, Mathematik webt im Gleichmaß der Vers- und
Strophenlängen, Mathematik im Bau des Architekten, in den Figuren des Tänzers. In
jeder genauen Kenntniß muß die Anwendung der Mathematik, als Vernunftthätigkeit, eine
Stelle finden. Nur eine wirklich positive, schaffende Kraft muß man ihr nicht
einräumen wollen, wie dies manche Musiker, diese Conservativen der Aesthetik, gern
möchten. Es ist mit der Mathematik ähnlich, wie mit der Erzeugung der Gefühle im
Zuhörer, – sie findet bei allen Künsten statt, aber großer Lärm darüber ist blos bei
der Musik.
3.42 & 3.43Auch mit der Sprache hat
man die Musik häufig zu parallelisiren und die Gesetze der ersteren für die letztere
aufzustellen versucht. Die Verwandtschaft des Gesanges mit der Sprache
lag nahe genug, mochte man sich nun an die Gleichheit der physiologischen Bedingungen
halten oder an den gemeinsamen Charakter als Entäußerung
[98] des Innern
durch die menschliche Stimme. Die analogen Beziehungen sind zu auffällig, als daß
wir
hier darauf einzugehen hätten; es sei demnach nur ausdrücklich eingeräumt, daß, wo
es
sich bei der Musik wirklich blos um die subjective Entäußerung eines inneren Dranges
handelt, in der That die Gesetzlichkeit des sprechenden Menschen
theilweise maßgebend für den singenden sein wird. Daß der in
Leidenschaft Gerathende mit der Stimme steigt, während die Stimme des sich
beruhigenden Redners fällt; daß Sätze besonderen Gewichtes langsam, gleichgültige
Nebensachen schnell gesprochen werden: dies und Aehnliches wird der Gesangscomponist,
insbesondere der dramatische, nicht unbeachtet lassen dürfen. Allein man
hat sich mit diesen begrenzten Analogien nicht begnügt, sondern die Musik
selbst als eine (unbestimmtere oder feinere) Sprache aufgefaßt
und nun ihre Schönheitsgesetze aus der Natur der Sprache abstrahiren wollen. Jede
Eigenschaft und Wirkung der Musik wurde auf Aehnlichkeiten mit der Sprache
zurückgeführt. Wir sind der Ansicht, daß, wo es sich um das Specifische einer Kunst
handelt, ihre Unterschiede von verwandten Gebieten wichtiger sind, als die
Aehnlichkeiten. Unbeirrt durch diese oft verlockenden, aber das eigentliche Wesen
der
Musik gar nicht treffenden Analogien muß
[99] die ästhetische
Untersuchung unablässig zu dem Punkte vordringen, wo Sprache und Musik sich
unversöhnlich scheiden. Nur aus diesem Punkte werden der Tonkunst wahrhaft
fruchtbringende Bestimmungen sprießen können. Der wesentliche Grundunterschied
besteht aber darin, daß in der Sprache der Ton nur ein Zeichen d. h.
Mittel zum Zweck eines diesem Mittel ganz fremden Auszudrückenden
ist, während in der Musik der Ton eine Sache ist d. h.
als Selbstzweck auftritt. Die selbstständige Schönheit der Tonformen
hier und die absolute Herrschaft des Gedankens über den Ton als bloßes
Ausdrucksmittel dort, stehen sich so ausschließend gegenüber, daß eine Vermischung
der beiden Principe eine logische Unmöglichkeit ist.
3.44Der Schwerpunkt des Wesens liegt also ganz wo anders bei der Sprache und bei der Musik, und um diesen Schwerpunkt gruppiren sich alle übrigen Eigenthümlichkeiten. Alle specifisch musikalischen Gesetze werden sich um die selbstständige Bedeutung und Schönheit der Töne drehen, alle sprachlichen Gesetze um die correcte Verwendung des Lautes zum Zweck des Ausdrucks.
3.45Die schädlichsten und verwirrendsten Anschauungen
sind aus dem Bestreben hervorgegangen, die Musik als eine Art Sprache aufzufassen;
sie weisen uns täglich praktische Folgen auf. So
[100] mußte es
hauptsächlich Componisten von schwacher Schöpferkraft geeignet erscheinen, die ihnen
unerreichbare selbstständige musikalische Schönheit als ein falsches, sinnliches
Princip anzusehen, und die charakteristische Bedeutsamkeit der Musik dafür auf den
Schild zu heben. Ganz abgesehen von Richard Wagnerʼs Opern, findet man
in den kleinsten Instrumentalsächelchen oft Unterbrechungen des melodischen Flußes
durch abgerissene Cadenzen, recitativische Sätze u. dgl., welche, den Hörer
befremdend, sich anstellen, als bedeuteten sie etwas Besonderes, während
sie in der That nichts bedeuten, als Unschönheit. Von modernen Compositionen, welche
fortwährend den großen Rhythmus durchbrechen, um mysteriöse Zusätze oder gehäufte
Contraste vorzudrängen, pflegt man zu rühmen, es strebe darin die Musik ihre engen
Grenzen durchzubrechen und zur Sprache sich zu erheben. Uns ist ein
solches Lob immer sehr zweideutig erschienen. Die Grenzen der Musik sind durchaus
nicht eng, aber sehr genau fest gesteckt. Die Musik kann sich niemals „zur Sprache
erheben“ – herablassen müßte man eigentlich vom musikalischen Standpunkt sagen, indem
die Musik ja offenbar eine gesteigerte Sprache sein müßte. 25
[101]
3.46Das vergessen auch unsere Sänger, welche in
Momenten größten Affects Worte, ja Sätze sprechend herausstoßen und
damit die höchste Steigerung der Musik gegeben zu haben glauben. Sie übersehen, daß
der Uebergang vom Singen zum Sprechen stets ein Sinken ist, so wie der höchste
normale Sprechton noch immer tiefer klingt als selbst die tieferen Gesangstöne
desselben Organes. Ebenso schlimm als diese praktischen Folgen, ja noch schlimmer,
weil nicht allsogleich durch das
[102] Experiment
geschlagen, sind die Theorien, welche der Musik die Entwicklungs- und
Constructionsgesetze der Sprache aufdringen wollen, wie es in älterer Zeit zum Theil
von
Rousseau
und
Rameau
, in neuerer Zeit von den Jüngern R.
Wagnerʼs versucht wird. Es wird dabei das wahrhafte Herz der Musik,
die in sich selbst befriedigte Formschönheit, durchstoßen und dem Phantom der
„Bedeutung“ nachgejagt. Eine Aesthetik der Tonkunst müßte es daher zu ihren
wichtigsten Aufgaben zählen, die Grundverschieden
[103] heit zwischen
dem Wesen der Musik und dem der Sprache unerbittlich darzulegen, und in allen
Folgerungen das Princip festzuhalten, daß, wo es sich um Specifisch-Musikalisches
handelt, die Analogien mit der Sprache jede Anwendung verlieren.
[104]
4.1 & 4.2Erachten wir es auch als Princip und erste Aufgabe der musikalischen Aesthetik, daß sie die usurpirte Herrschaft des Gefühls unter die berechtigte der Schönheit stelle – da nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als Thätigkeit des reinen Schauens, das Organ ist, aus welchem und für welches alles Kunstschöne zunächst entsteht – so behaupten doch die affirmativen Aeußerungen des Fühlens im praktischen Musikleben eine zu auffallende und wichtige Rolle, um durch bloße Unterordnung abgethan zu werden.
4.3So sehr die ästhetische Betrachtung sich nur an das
Kunstwerk selbst zu halten hat, so erweist sich doch in der Wirklichkeit dieses
selbstständige Kunstwerk als wirksame Mitte zwischen zwei leben
[105]
digen Kräften: seinem Woher und seinem Wohin, d. i. dem
Componisten und dem Hörer. In dem Seelenleben dieser beiden kann die künstlerische
Thätigkeit der Phantasie nicht so zu reinem Metall ausgeschieden sein,
wie sie in dem fertigen, unpersönlichen Kunstwerk vorliegt – vielmehr wirkt sie dort
stets in enger Wechselbeziehung mit Gefühlen und Empfindungen. Das Fühlen wird somit
vor und nach dem fertigen Kunstwerk, vorerst im
Tondichter, dann im Hörer eine Bedeutung behaupten, der wir unsere Aufmerksamkeit
nicht entziehen dürfen.
4.4Betrachten wir den Componisten. Ihn
wird während des Schaffens eine gehobene Stimmung erfüllen, wie sie zur Befreiung
des
Schönen aus dem Schacht der Phantasie kaum entbehrlich gedacht werden kann. Daß diese
gehobene Stimmung, nach der Individualität des Künstlers, mehr oder minder die
Färbung des werdenden Kunstwerkes annehmen, daß sie bald hoch, bald mäßiger fluthen
wird, nie aber bis zum überwältigenden Affecte, der das künstlerische Hervorbringen
vereitelt, daß die klare Besinnung hierbei wenigstens gleiche Wichtigkeit behauptet
mit der Begeisterung, – das sind bekannte, der allgemeinen Kunstlehre angehörige
Bestimmungen. Was speciell das Schaffen des Tonsetzers betrifft, so muß
festgehalten werden, daß es ein stetes Bil
[106]
den ist, ein Formen in Tonverhältnissen. Nirgend erscheint
die Souverainetät des Gefühls, welche man so gern der Musik andichtet, schlimmer
angebracht, als wenn man sie im Componisten während des Schaffens voraussetzt und
dieses als ein begeistertes Extemporiren auffaßt. Die schrittweis vorgehende Arbeit,
durch welche ein Musikstück, das dem Tondichter anfangs nur in Umrissen vorschwebte,
bis in die einzelnen Tacte zur bestimmten Gestalt ausgemeißelt wird, allenfalls
gleich in der empfindlichen vielgestaltigen Form des Orchesters, ist so besonnen und
complicirt, daß sie kaum verstehen kann, wer nicht selbst einmal Hand daran gelegt.
Nicht blos etwa fugirte oder contrapunktische Sätze, in welchen wir abmessend Note
gegen Note halten, auch das fließendste Rondo, die melodiöseste Arie erfordert, wie
es unsere Sprache bedeutsam nennt, ein „Ausarbeiten“ ins Kleinste. Die Thätigkeit
des
Componisten ist eine in ihrer Art plastische und jener des bildenden
Künstlers vergleichbar. Eben so wenig als dieser darf der Tondichter seinem Stoff
unfrei verwachsen sein, denn gleich ihm hat er ja sein (musikalisches) Ideal objectiv
hinzustellen, zur reinen Form zu gestalten.
4.5Das dürfte von
Rosenkranz
vielleicht übersehen worden sein, wenn er den Widerspruch bemerkt, aber
ungelöst läßt, warum die Frauen,
[107] welche doch von
Natur vorzugsweise auf das Gefühl angewiesen sind, in der Composition nichts leisten?
26 Der Grund liegt – außer den
allgemeinen Bedingungen, welche Frauen von geistigen Hervorbringungen ferner halten
–
eben in dem plastischen Moment des Componirens, das eine Entäußerung der
Subjectivität nicht minder, wenn gleich in verschiedener Richtung erheischt, als die
bildenden Künste. Wenn die Stärke und Lebendigkeit des Fühlens wirklich maßgebend
für
das Tondichten wäre, so würde der gänzliche Mangel an Componistinnen neben so
zahlreichen Schriftstellerinnen und Malerinnen schwer zu erklären sein. Nicht das
Gefühl componirt, sondern die speciell musikalische, künstlerisch geschulte Begabung.
Ergötzlich klingt es daher, wenn F. L.
Schubart
die
„meisterhaften Andantes“
des Componisten
Stanitz
ganz ernsthaft als eine natürliche
„Folge seines gefühlvollen Herzens“
hinstellt, 27 oder Christian
Rolle
uns versichert,
„ein leutseliger, zärtlicher Charakter mache uns geschickt, langsame Sätze
zu Meisterstücken zu bilden“
.28
[108]
4.6Ohne innere Wärme ist nichts Großes noch Schönes im Leben vollbracht worden. Das Gefühl wird beim Tondichter, wie bei jedem Poeten, sich reich entwickelt vorfinden, nur ist es nicht der schaffende Factor in ihm. Selbst wenn ein starkes, bestimmtes Pathos ihn gänzlich erfüllt, so wird dasselbe Anlaß und Weihe manches Kunstwerks werden, allein – wie wir aus der Natur der Tonkunst wissen, welche einen bestimmten Affect darzustellen weder die Fähigkeit noch den Beruf hat – niemals dessen Gegenstand.
4.7Ein inneres Singen, nicht ein bloßes inneres Fühlen treibt den musikalisch Talentirten zur Erfindung eines Tonstücks.
4.8Wir haben die Thätigkeit des Componirens als ein
Bilden aufgefaßt; als solches ist sie durchaus objectiv.
Der Tonsetzer formt ein selbstständiges Schöne. Der unendlich ausdrucksfähige,
geistige Stoff der Töne läßt es zu, daß die Subjectivität des in ihnen Bildenden sich
in der Art seines Formens auspräge. Da schon den einzelnen musikalischen Elementen
ein charakteristischer Ausdruck eignet, so werden vorherrschende Charakterzüge des
Componisten: Sentimentalität, Energie, Heiterkeit u. s. w. sich durch die consequente
Bevorzugung gewisser Tonarten, Rhythmen, Uebergänge recht wohl nach den
allgemeinen Momenten abdrücken, welche die Musik wiederzu
[109] geben fähig
ist. Einmal vom Kunstwerk aufgesogen, interessieren aber diese Charakterzüge nurmehr
als musikalische Bestimmtheiten, als Charakter der Composition, nicht des
Componisten. 29 Was der gefühlvolle und was der geistreiche
Componist bringt, der graziöse oder der erhabene, ist zuerst und vor Allem
Musik, objectives Gebilde. Ihre Werke werden sich von einander durch
unverkennbare Eigenthümlichkeiten unterscheiden und als Gesammtbild die
Individualität ihrer Schöpfer abspiegeln; doch wurden sie alle, die einen wie die
andern, als selbstständiges Schöne rein musikalisch um ihretwillen erschaffen.
4.9Nicht das thatsächliche Gefühl des Componisten, als
eine blos subjective Affection, ist es, was die gleiche Stimmung in den Hörern
wachruft. Räumt man der Musik solch eine zwingende Macht ein, so anerkennt man
dadurch deren Ursache als etwas Objectives in ihr, denn nur dieses
zwingt in allem Schönen. Dies Objective
[110] sind hier die
musikalischen Bestimmtheiten eines Tonstücks. Streng ästhetisch
können wir von irgend einem Thema sagen, es klinge stolz oder trübe,
nicht aber, es sei ein Ausdruck der stolzen oder der trüben Gefühle des Componisten.
Noch ferner liegen dem Charakter eines Tonwerkes als solchen die socialen und
politischen Verhältnisse, welche seine Zeit beherrschten. Jener
musikalische Ausdruck des Themas ist nothwendige Folge seiner so und
nicht anders gewählten Tonfactoren; daß diese Wahl aus psychologischen oder
culturgeschichtlichen Ursachen hervorging, müßte an dem bestimmten Werke (nicht blos
aus Jahreszahl und Geburtsort) nachgewiesen werden, und nachgewiesen wäre dieser
Zusammenhang, wie interessant auch immer, zunächst eine lediglich historische oder
biographische Thatsache. Die ästhetische Betrachtung kann sich auf keine
Umstände stützen, die außerhalb des Kunstwerks selbst liegen.
4.10So gewiß die Individualität des Componisten in seinen Schöpfungen einen symbolischen Ausdruck finden wird, so irrig wäre es, aus diesem persönlichen Moment Begriffe ableiten zu wollen, die ihre wahrhafte Begründung nur in der Objectivität des künstlerischen Bildens finden. Dahin gehört der Begriff des Styls.30
[111]
4.11Wir möchten den Styl in der Tonkunst von Seite seiner musikalischen Bestimmtheiten aufgefaßt wissen, als die vollendete Technik, wie sie im Ausdruck des schöpferischen Gedankens als Gewöhnung erscheint. Der Meister bewährt „Styl“, indem er, die klar erfaßte Idee verwirklichend, alles Kleinliche, Unpassende, Triviale wegläßt und so in jeder technischen Einzelheit die künstlerische Haltung des Ganzen übereinstimmend wahrt. Mit Vischer (Aesthetik §. 527) würden wir das Wort „Styl“ auch in der Musik absolut gebrauchen und, absehend von den historischen oder individuellen Eintheilungen, sagen: dieser Componist hat Styl, in dem Sinne wie man von Jemand sagt: er hat Charakter.
4.12Die architektonische Seite des
Musikalisch-Schönen tritt bei der Stylfrage recht deutlich in den Vordergrund. Eine
höhere Gesetzlichkeit, als die der bloßen Proportion, wird der Styl
eines Tonstücks durch einen einzigen Tact verletzt, der an sich untadelhaft, nicht
zum Ausdruck des Ganzen stimmt. Genau so wie eine unpaßende Ara
[112]
beske im Bauwerk, nennen wir styllos eine Cadenz oder Modulation, welche als
Inconsequenz aus der einheitlichen Durchführung des Grundgedankens abspringt.
Natürlich ist diese Einheit im weiteren, höheren Sinne zu nehmen, wonach sie unter
Umständen den Contrast, die Episode und manche Freiheiten in sich begreift.
4.13In der Composition eines Musikstückes findet daher eine Entäußerung des eigenen, persönlichen Affectes nur insoweit statt, als es die Grenzen einer vorherrschend objectiven, formenden Thätigkeit zulassen.
4.14Der Act, in welchem die unmittelbare Ausströmung eines Gefühls in Tönen vor sich gehen kann, ist nicht sowohl die Erfindung eines Tonwerkes, als vielmehr die Reproduction desselben. Daß für den philosophischen Begriff das componirte Tonstück, ohne Rücksicht auf dessen Aufführung, das fertige Kunstwerk ist, darf uns nicht hindern, die Spaltung der Musik in Composition und Reproduction, eine der folgenreichsten Specialitäten unserer Kunst, überall zu beachten, wo sie zur Erklärung eines Phänomens beiträgt.
4.15In der Untersuchung des subjectiven Eindrucks der
Musik macht sie sich ganz vorzugsweise geltend. Dem Spieler ist es
gegönnt, sich des Gefühls, das ihn eben beherrscht, unmittelbar durch sein Instrument
zu befreien und in seinen
[113] Vortrag das
wilde Stürmen, das sehnliche Glühen, die heitere Kraft und Freude seines Innern zu
hauchen. Schon das körperlich Innige, das durch meine Fingerspitzen die
innere Bebung unvermittelt an die Saite drückt oder den Bogen reißt oder gar im
Gesange selbsttönend wird, macht den persönlichsten Erguß der Stimmung im Musiciren
recht eigentlich möglich. Eine Subjectivität wird hier unmittelbar in Tönen
tönend wirksam, nicht blos stumm in ihnen formend. Der Componist
schafft langsam, unterbrochen, der Spieler in unaufhaltsamem Flug; der Componist für
das Bleiben, der Spieler für den erfüllten Augenblick. Das Tonwerk wird geformt, die
Aufführung erleben wir. So liegt denn das gefühlsentäußernde und
erregende Moment der Musik im Reproductionsact, welcher den elektrischen Funken aus
dunkelm Geheimniß lockt und in das Herz der Zuhörer überspringen macht. Freilich kann
der Spieler nur das bringen, was die Composition enthält, allein diese erzwingt wenig
mehr als die Richtigkeit der Noten. „Der Geist des Tondichters sei es ja
nur, den der Spieler errathe und offenbare“ – wohl, aber eben diese Aneignung im
Moment des Wiederschaffens ist sein, des Spielers, Geist. Dasselbe Stück belästigt
oder entzückt, je nachdem es zu tönender Wirklichkeit belebt wird. Es ist, wie
[114]
derselbe Mensch, einmal in seiner verklärendsten Begeisterung, das andremal in
mißmuthiger Alltäglichkeit aufgefaßt. Die künstlichste Spieluhr kann das Gefühl des
Hörers nicht bewegen, doch der einfachste Musikant wird es, wenn er mit voller Seele
bei seinem Liede ist.
4.16Zur höchsten Unmittelbarkeit befreit sich die Offenbarung eines Seelenzustandes durch Musik, wo Schöpfung und Ausführung in Einen Act zusammenfallen. Dies geschieht in der freien Phantasie. Wo diese nicht mit formell künstlerischer, sondern mit vorwiegend subjectiver Tendenz (pathologisch in höherem Sinn) auftritt, da kann der Ausdruck, welchen der Spieler den Tasten entlockt, ein wahres Sprechen werden. Wer dies censurfreie Sprechen, dies entfesselte Sichselbstgeben mitten in strengem Bannkreise je an sich selbst erlebt hat, der wird ohne Weiteres wissen, wie da Liebe, Eifersucht, Wonne und Leid unverhüllt und doch unfahndbar hinausrauschen aus ihrer Nacht, ihre Feste feiern, ihre Sagen singen, ihre Schlachten schlagen, bis der Meister sie zurückruft, beruhigt, beunruhigend.
4.17Durch die entbundene Bewegung des Spielers theilt sich der Ausdruck des Gespielten dem Hörer mit. Wenden wir uns zu diesem.
4.18Wir sehen ihn oft von einer Musik ergriffen, froh
oder wehmüthig bewegt, weit über das blos
[115] ästhetische
Wohlgefallen hinaus im Innersten emporgetragen oder erschüttert. Die Existenz dieser
Wirkungen ist unleugbar, wahrhaft und echt, oft die höchsten Grade erreichend, zu
bekannt endlich, als daß wir ihr ein beschreibendes Verweilen zu widmen brauchten.
Es
handelt sich hier nur um zweierlei: – worin im Unterschied von andern
Gefühlsbewegungen der specifische Charakter dieser Gefühlserregung durch
Musik liege? und wieviel von dieser Wirkung ästhetisch
sei?
4.19Müssen wir auch das Vermögen, auf die Gefühle zu
wirken, allen Künsten ausnahmslos zuerkennen, so ist doch der Art und
Weise, wie die Musik es ausübt, etwas Specifisches, nur ihr
Eigenthümliches nicht abzusprechen. Musik wirkt auf den Gemüthszustand rascher und
intensiver, als irgend ein anderes Kunstschöne. Mit wenigen Accorden können wir einer
Stimmung überliefert sein, welche ein Gedicht erst durch längere Exposition, ein Bild
durch anhaltendes Hineindenken erreichen würde, obgleich diesen beiden, im Vortheil
gegen die Tonkunst, der ganze Kreis der Vorstellungen dienstbar ist, von welchen
unser Denken die Gefühle von Lust und Schmerz abhängig weiß. Nicht nur rascher, auch
unmittelbarer und intensiver ist die Einwirkung der Töne. Die andern Künste
überreden, die Musik überfällt uns. Diese ihre eigenthümliche Gewalt auf unser
[116]
Gemüth erfahren wir am stärksten, wenn wir uns in einem Zustand größerer Aufregung
oder Herabstimmung befinden.
4.20In Gemüthszuständen, wo weder Gemälde noch Gedichte, weder Statuen noch Bauten mehr im Stande sind, uns zu theilnehmender Aufmerksamkeit zu reizen, wird Musik noch Macht über uns haben, ja gerade heftiger als sonst. Wer in schmerzhaft aufgeregter Stimmung Musik hören oder machen muß, dem schwingt sie wie Essig in der Wunde. Keine Kunst kann da so tief und scharf in unsere Seele schneiden. Form und Charakter des Gehörten verlieren dann ganz ihre Bedeutung, sei es nächtigtrübes Adagio oder ein hellfunkelnder Walzer, wir können uns nicht loswinden von seinen Klängen, – nicht mehr das Tonstück fühlen wir, sondern die Töne selbst, die Musik als gestaltlos dämonische Gewalt, wie sie glühend an die Nerven unseres ganzen Leibes rückt.
4.21Als
Goethe
in hohem Alter noch einmal die Gewalt der Liebe erfuhr, da erwachte in ihm
zugleich eine nie gekannte Empfänglichkeit für Musik. Er schreibt über jene
wunderbaren Marienbader Tage (1823) an
Zelter
:
„Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! Die Stimme der
Milder, das Klangreiche der Szymanowska, ja sogar die öffentlichen
Exhibitionen des hiesigen Jägercorps falten mich
[117]
auseinander, wie man eine geballte Faust freundlich flach läßt. Ich bin völlig
überzeugt, daß ich im ersten Tacte Deiner Singakademie den Saal verlassen
müßte.“
Zu einsichtsvoll, um nicht den großen Antheil nervöser Aufregung
in dieser Erscheinung zu erkennen, schließt Goethe mit den Worten:
„Du würdest mich von einer krankhaften Reizbarkeit heilen, die denn doch
eigentlich als die Ursache jenes Phänomens anzusehen ist.“
31 Diese Beobachtungen
müssen uns schon aufmerksam machen, daß in den musikalischen Wirkungen auf das Gefühl
häufig ein fremdes, nicht rein ästhetisches Element mit im Spiele sei. Eine rein
ästhetische Wirkung wendet sich an die volle Gesundheit des Nervenlebens, und zählt
auf kein krankhaftes Mehr oder Weniger desselben.
4.22Die intensivere Einwirkung der Musik auf unser
Nervensystem vindicirt ihr in der That einen Machtüberschuß vor den anderen Künsten.
Wenn wir aber die Natur dieses Machtüberschusses untersuchen, so erkennen wir, daß
er
ein qualitativer sei und daß die eigenthümliche Qualität auf
physiologischen Bedingungen ruhe. Der sinnliche Factor, der bei jedem
Schönheitsgenuß den geistigen trägt, ist bei der Tonkunst größer,
[118] als in den
andern Künsten. Die Musik, durch ihr körperloses Material die geistigste, von Seite
ihres gegenstandlosen Formspiels die sinnlichste Kunst, zeigt in dieser
geheimnißvollen Vereinigung zweier Gegensätze ein lebhaftes Assimilationsbestreben
mit den Nerven, diesen nicht minder räthselhaften Organen des
unsichtbaren Telegraphendienstes zwischen Leib und Seele.
4.23Die intensive Wirkung der Musik auf das Nervenleben ist als Thatsache von der Psychologie wie von der Physiologie vollständig anerkannt. Leider fehlt noch eine ausreichende Erklärung derselben. Es vermag die Psychologie nimmermehr das Magnetisch-Zwingende des Eindrucks zu ergründen, den gewisse Accorde, Klangfarben und Melodien auf den ganzen Organismus des Menschen üben, weil es dabei zuvörderst auf eine specifische Reizung der Nerven ankommt. Ebensowenig hat die im Triumph fortschreitende Wissenschaft der Physiologie etwas Entscheidendes über unser Problem gebracht.
4.24Was die musikalischen Monographien dieses
Zwittergegenstandes betrifft, so ziehen sie es fast durchgängig vor, die Tonkunst
durch Ausbreitung glänzender Schaustücke in einen imposanten Nimbus von
Wunderthätigkeit zu bringen, als in wissenschaftlicher Forschung den Zusammenhang
der
Musik mit unserm Nervenleben auf sein Wahres
[119] und
Nothwendiges zurückzuführen. Dies allein aber thut uns Noth, und weder die
Ueberzeugungstreue eines Doctor
Albrecht
, welcher seinen Patienten Musik als schweißtreibendes Mittel verschrieb, noch
der Unglaube
Oerstedtʼs, der das Heulen eines Hundes bei gewissen Tonarten durch
rationelle Prügel erklärt, mittelst welcher derselbe zum Heulen abgerichtet worden
sei. 32
4.25Manchem Musikfreund dürfte es unbekannt sein, daß wir eine ganze Literatur über die körperlichen Wirkungen der Musik und deren Anwendung zu Heilzwecken besitzen. An interessanten Curiositäten reich, doch in der Beobachtung unzuverlässig, in der Erklärung unwissenschaftlich, suchen die meisten dieser Musico-Mediciner eine sehr zusammengesetzte und beiläufige Eigenschaft der Tonkunst zu selbstständiger Wirksamkeit aufzustelzen.
4.26Von
Pythagoras
, der zuerst Wundercuren durch Musik verrichtet haben soll, bis auf unsere
Tage taucht zeitweilig immer wieder, mehr durch neue Beispiele, als durch neue Ideen
bereichert, die Lehre auf, man könne die aufregende oder lindernde Wirkung der Töne
auf den körperlichen Organismus als Heilmittel gegen zahlreiche Krankheiten in
Anwendung bringen. Peter
Lichten
[120]
thal
erzählt uns ausführlich in seinem „Musikalischen Arzt“, wie durch die Macht der Töne
Gicht,Hüftweh,Epilepsie,
Starrsucht,Pest,Fieberwahnsinn,
Convulsionen,Nervenfieber, ja sogar
„Dummheit“ (stupiditas) geheilt worden sei. 33
4.27Rücksichtlich der Begründung ihrer Theorie lassen sich diese Schriftsteller in zwei Klassen theilen.
4.28Die Einen argumentiren vom Körper aus und gründen die Heilkraft der Musik auf die physische Einwirkung der Schallwellen, welche sich durch den Gehörnerv den übrigen Nerven mittheile und durch solch allgemeine Erschütterung eine heilsame Reaction des gestörten Organismus hervorrufe. Die Affecte, welche zugleich sich bemerkbar machen, seien nur eine Folge dieser nervösen Erschütterung, indem Leidenschaften nicht blos gewisse körperliche Veränderungen hervorrufen, sondern diese auch ihrerseits die ihnen entsprechenden Leidenschaften zu erzeugen vermögen.
[121]
4.29Nach dieser Theorie, welcher (unter dem Vortritt des Engländers Webb ) Nikolai , Schneider , Lichtenthal , J. J. Engel , Sulzer u. A. anhängen, würden wir durch die Tonkunst nicht anders bewegt, als etwa unsere Fenster und Thüren, die bei einer starken Musik zu zittern beginnen. Als unterstützend werden Beispiele angeführt, wie der Bediente Boyleʼs, dem die Zähne zu bluten anfingen, sobald er eine Säge wetzen hörte, oder viele Personen, welche beim Kratzen einer Messerspitze auf Glas Convulsionen bekommen.
4.30Das ist nur keine Musik. Daß diese mit jenen so heftig auf die Nerven wirkenden Erscheinungen dasselbe Substrat, den Schall theilt, wird uns für spätere Folgerungen wichtig genug werden, hier ist – einer materialistischen Ansicht gegenüber – lediglich hervorzuheben, daß die Tonkunst erst da anfange, wo jene isolirten Klangwirkungen aufhören, übrigens auch die Wehmuth, in welche ein Adagio den Hörer versetzen kann, mit der körperlichen Empfindung eines schrillen Mißklangs gar nicht zu vergleichen ist.
4.31Die andere Hälfte unserer Autoren (unter ihnen
Kausch
und die meisten Aesthetiker) erklärt die heilkräftigen Wirkungen der Musik
von der psychologischen Seite aus. Musik – so argumentiren sie – erzeugt
Affecte und Leidenschaften in der Seele, Affecte haben heftige Bewegungen
[122] im
Nervensystem zur Folge, heftige Bewegungen im Nervensystem verursachen eine heilsame
Reaction im kranken Organismus. Dieses Raisonnement, auf dessen Sprünge gar nicht
erst hingedeutet zu werden braucht, wird von der genannten idealen, „psychologischen“
Schule gegen die frühere materielle so standhaft verfochten, daß sie, unter der
Autorität des Engländers
Whytt
, sogar aller Physiologie zu Trotz den Zusammenhang des Gehörnervs mit den
übrigen Nerven leugnet, wonach eine körperliche Uebertragung des durch
das Ohr empfangenen Reizes auf den Gesammtorganismus freilich unmöglich wird.
4.32Der Gedanke, durch Musik bestimmte Affecte, als
Liebe, Wehmuth, Zorn, Entzücken, in der Seele zu erregen, welche den Körper durch
wohlthätige Aufregung heilen, klingt so übel nicht. Uns fällt dabei stets das
köstliche Parere ein, welches einer unserer berühmtesten Naturforscher über die
sogenannten „Goldbergerʼschen elektromagnetischen Ketten“ ergab. Er
sagte: es sei nicht ausgemacht, ob ein elektrischer Strom gewisse Krankheiten zu
heilen vermöge, – das aber sei ausgemacht, daß die „Goldbergerʼschen Ketten“ keinen
elektrischen Strom zu erzeugen im Stande sind. Auf unsere Tondoctoren angewandt,
heißt dies: Es ist möglich, daß bestimmte Gemüthsaffecte eine glückliche
Krisis in leiblichen Krank
[123] heiten
herbeiführen, – allein es ist nicht möglich, durch Musik jederzeit beliebige
Gemüthsaffecte hervorzubringen.
4.33Darin kommen beide Theorien, die psychologische und die physiologische, überein, daß sie aus bedenklichen Voraussetzungen noch bedenklichere Ableitungen folgern und endlich die bedenklichste praktische Schlußfolgerung daraus ziehen. Logische Ausstellungen mag sich eine Heilmethode etwa gefallen lassen, aber daß sich bis jetzt noch immer kein Arzt bewogen findet, seine Typhuskranken in Meyerbeerʼs „Propheten“ zu schicken, oder statt der Lanzette ein Waldhorn herauszuziehen, ist unangenehm.
4.34Die körperliche Wirkung der Musik ist weder an sich so stark, noch so sicher, noch von psychischen und ästhetischen Voraussetzungen so unabhängig, noch endlich so willkürlich behandelbar, daß sie als wirkliches Heilmittel in Betracht kommen könnte.
4.35Jede mit Beihilfe von Musik vollführte Cur trägt
den Charakter eines Ausnahmefalles, dessen Gelingen niemals der Musik allein
zuzuschreiben war, sondern zugleich von speciellen, vielleicht von ganz individuellen
körperlichen und geistigen Bedingungen abhing. Es ist sehr bemerkenswerth, daß die
einzige Anwendung von Musik, welche wirklich in der Medicin vorkommt, nämlich in der
[124]
Behandlung von Irrsinnigen, vorzugsweise auf die geistige Seite der musikalischen
Wirkung reflectirt. Die moderne Psychiatrie verwendet bekanntlich Musik in vielen
Fällen und mit glücklichem Erfolge. Dieser beruht aber weder auf der materiellen
Erschütterung des Nervensystems, noch auf der Erregung der Leidenschaften, sondern
auf dem besänftigend aufheiternden Einfluß, welchen das halb zerstreuende, halb
fesselnde Tonspiel auf ein verdüstertes oder überreiztes Gemüth auszuüben vermag.
Lauscht der Geisteskranke auch dem Sinnlichen, nicht dem Künstlerischen des
Tonstücks, so steht er doch, wenn er mit Aufmerksamkeit hört, schon auf einer, wenn
gleich untergeordneten Stufe ästhetischer Auffassung.
4.36Was nun alle diese musikalisch-medicinischen Werke
für die richtige Erkenntniß der Tonkunst beitragen? Die Bestätigung einer von jeher
beobachteten starken physischen Erregung bei allen durch Musik hervorgerufenen
„Affecten“ und „Leidenschaften“. Steht einmal fest, daß ein integrirender Theil der
durch Musik erzeugten Gemüthsbewegung physisch ist, so folgt weiter, daß
dies Phänomen, als wesentlich in unserm Nervenleben vorkommend, auch von dieser
seiner körperlichen Seite erforscht werden müsse. Es kann demnach der Musiker über
dies Problem sich keine wissenschaftliche Ueberzeugung bilden, ohne sich
[125] mit
den Ergebnissen bekannt zu machen, bei welchen der gegenwärtige Standpunkt der
Physiologie in Untersuchung des Zusammenhangs der Musik mit den
Gefühlen hält.
4.37Verfolgen wir den Gang, welchen eine Melodie nehmen
muß, um auf unsere Gemüthsstimmung zu wirken, so finden wir ihren Weg vom vibrirenden
Instrument bis zum Gehörnerv, besonders nach den epochemachenden Bereicherungen
dieses Gebiets durch
Helmholtz’ „
Lehre von den
Tonempfindungen
“ hinreichend aufgeklärt. Die Akustik weist genau die äußeren Bedingungen
nach, unter welchen wir einen Ton überhaupt, unter welchen wir diesen oder jenen
bestimmten Ton vernehmen; die Anatomie deckt uns unter Mithilfe des Mikroskops den
Bau des Gehörorgans bis in’s Innerste und Feinste auf; die Physiologie endlich kann
zwar an diesem überaus kleinen und zarten, tief verborgenen Wunderbau keine directen
Versuche anstellen, hat aber doch dessen Wirkungsweise zum Theil mit Sicherheit
ermittelt, zum Theil durch eine, von Helmholtz aufgestellte Hypothese so klar gelegt, daß
uns jetzt der ganze Vorgang der Tonempfindung physiologisch verständlich ist. Selbst
darüber hinaus, auf dem Gebiete, in dem sich bereits die Naturwissenschaft eng mit
der Aesthetik berührt, haben uns die Forschungen von Helmholtz über die
Consonanz
[126] und die
Verwandtschaft der Töne viel Licht gegeben, wo noch bis vor kurzem viel Dunkel
herrschte. Aber damit freilich stehen wir auch am Ende unserer Kenntniß. Das für uns
Wichtigste ist und bleibt unerklärt: der Nervenproceß, durch welchen nun die
Empfindung des Tones zum Gefühl, zur
Gemüthsstimmung wird. Die Physiologie weiß, daß das, was wir als Ton
empfinden, eine Molecularbewegung in der Nervensubstanz ist, und zwar wenigstens eben
so gut als im Akusticus in den Centralorganen. Sie weiß, daß die Fasern des
Gehörnervs mit den anderen Nerven zusammenhängen, und seine Reize auf sie übertragen,
daß das Gehör namentlich mit dem kleinen und großen Gehirn, dem Kehlkopf, der Lunge,
dem Herzen in Verbindung steht. Unbekannt ist ihr aber die specifische Art, wie Musik
auf diese Nerven wirkt, noch mehr die Verschiedenheit, mit welcher bestimmte
musikalische Factoren, Accorde, Rhythmen, Instrumente auf verschiedene Nerven wirken.
Vertheilt sich eine musikalische Gehörsempfindung auf alle mit dem Akusticus
zusammenhängende Nerven, oder nur auf einige? Mit welcher Intensität? Von welchen
musikalischen Elementen wird das Gehirn, von welchen werden die zum Herzen oder zur
Lunge führenden Nerven am meisten afficirt? Unleugbar ist, daß Tanzmusik in jungen
Leuten, deren
[127] natürliches
Temperament nicht durch die Uebung der Civilisation ganz zurückgehalten wird, ein
Zucken im Körper, namentlich in den Füßen hervorruft. Es wäre einseitig, den
physiologischen Einfluß von Marsch- und Tanzmusik zu leugnen, und ihn
lediglich auf psychologische Ideenassociation reduciren zu wollen. Was
daran psychologisch ist, – die wachgerufene Erinnerung an das schon bekannte
Vergnügen des Tanzes, – entbehrt nicht der Erklärung, allein diese reicht für sich
keineswegs aus. Nicht weil sie Tanzmusik ist, hebt sie die Füße, sondern sie ist
Tanzmusik, weil sie die Füße hebt. Wer in der Oper ein wenig um sich blickt, wird
bald bemerken, wie bei lebhaften faßlichen Melodien die Damen unwillkürlich mit dem
Kopfe hin- und herschaukeln, nie wird man dies aber bei einem Adagio sehen, sei es
noch so ergreifend oder melodisch. Läßt sich daraus schließen, daß gewisse
musikalische, namentlich rhythmische Verhältnisse auf motorische Nerven wirken,
andere nur auf Empfindungsnerven? Wann ist das Erstere, wann das Letzere der Fall?
34
[128]
Erleidet das Solargeflecht, welches traditionell für einen vorzugsweisen Sitz des
Empfindens gilt, bei der Musik eine besondere Affection? Erleiden sie etwa die
„sympathischen Nerven“ (– an denen, wie
Purkinje
mir einst bemerkte, ihr Name das Schönste ist –)? Warum ein Klang schrillend,
widerwärtig, ein anderer rein und wohllautend erscheine, das wird auf akustischem
Wege durch die Gleichförmigkeit oder Ungleichförmigkeit der auf einander folgenden
Luftstöße – warum mehrere zusammenklingende Töne consoniren oder dissoniren, wird
durch ihren ungestörten, gleichmäßigen oder gestörten, ungleichmäßigen Abfluß
erklärt. 35 Diese
Erklärungen mehr oder minder einfacher Gehörsempfindungen können aber
dem Aesthetiker nicht genügen; er verlangt nach der Erklärung des
Gefühls und fragt: wie kommt es, daß die eine Reihe von
wohlklingenden Tönen den Eindruck der Trauer, eine zweite von gleichfalls
wohlklingenden den Eindruck der
[129] Freude macht?
Woher die entgegengesetzten, oft mit zwingender Kraft auftretenden Stimmungen, welche
verschiedene Accorde oder Instrumente von gleich reinem, wohlklingendem Ton dem Hörer
unmittelbar einflößen?
4.38Dies Alles kann – soweit unser Wissen und Urtheil reicht – die Physiologie nicht beantworten. Wie sollte sie auch? Weiß sie doch nicht, wie der Schmerz die Thräne erzeugt, wie die Freude das Lachen, – weiß sie doch nicht, was Schmerz und Freude sind! Hüte sich deshalb Jeder, von einer Wissenschaft Aufschlüsse zu verlangen, die sie nicht geben kann. 36
4.39Freilich muß der Grund jedes durch Musik
hervorgerufenen Gefühls vorerst in einer bestimm
[130] ten
Affectionsweise der Nerven durch einen Gehörseindruck liegen. Wie aber eine Reizung
des Gehörnervs, die wir nicht einmal bis zu dessen Ursprungsstelle verfolgen können,
als bestimmte Empfindungsqualität ins Bewußtsein fällt, wie der körperliche Eindruck
zum Seelenzustand, die Empfindung endlich zum Gefühle wird, – das liegt jenseits der
dunklen Brücke, die von keinem Forscher überschritten ward. Es sind tausendfältige
Umschreibungen des einen Urräthsels: vom Zusammenhang des Leibes mit der Seele. Diese
Sphinx wird sich niemals vom Felsen stürzen. 37
4.40Was die Physiologie der Musikwissenschaft bietet, ist von höchster Wichtigkeit für unsere Erkenntniß der Gehörseindrücke als solcher; in dieser Beziehung kann durch sie noch mancher Fortschritt geschehen: in der musikalischen Hauptfrage wird dies kaum je der Fall sein.
4.44Aus diesem Resultate ergiebt sich für die Aesthetik
der Tonkunst die Betrachtung, daß diejenigen Theoretiker, welche das Princip des
Schönen in der Musik auf Gefühlswirkungen bauen, wissenschaftlich verloren sind, weil
sie über das
[131] Wesen dieses
Zusammenhanges nichts wissen können, also besten Falls nur darüber zu rathen oder
zu
phantasiren vermögen. Vom Standpunkte des Gefühls wird eine künstlerische oder
wissenschaftliche Bestimmung der Musik niemals ausgehen können. Mit der Schilderung
der subjectiven Bewegungen, welche den Kritiker bei Anhörung einer Symphonie
überkommen, wird er deren Werth und Bedeutung nicht begründen, eben so wenig kann
er
von den Affecten ausgehend den Kunstjünger etwas lehren. Letzteres ist wichtig. Denn
stünde der Zusammenhang bestimmter Gefühle mit gewissen musikalischen Ausdrucksweisen
so zuverlässig da, als man geneigt ist zu glauben, und als er dastehen müßte, um die
ihm vindicirte Bedeutung zu behaupten, so wäre es ein Leichtes, den angehenden
Componisten bald zur Höhe ergreifendster Kunstwirkung zu leiten. Man wollte dies auch
wirklich.
Mattheson
lehrt im dritten Kapitel seines „vollkommenen Capellmeisters,“ wie Stolz, Demuth und
alle Leidenschaften zu componiren seien, indem er z. B. sagt, die
„Erfindungen“
zur Eifersucht müssen
„alle was Verdrießliches, Grimmiges und Klägliches haben.“
Ein anderer Meister des vorigen Jahrhunderts,
Heinchen
, giebt in seinem „Generalbaß“ acht Bogen Notenbeispiele, wie die Musik
„rasende, zankende, prächtige, ängstliche oder verliebte
Empfindungen“
[132]
ausdrücken solle. 38 Es fehlt nur noch, daß derlei Vorschriften mit der Kochbuch-Formel „Man
nehme“ anhüben, oder mit der medicinischen Signatur m. d. s. endigten. Es holt sich
aus solchen Bestrebungen die lehrreichste Ueberzeugung, wie specielle Kunstregeln
immer zugleich zu eng und zu weit sind.
4.45Diese an sich bodenlosen Regeln für die
musikalische Erweckung bestimmter Gefühle gehören aber um so weniger in die
Aesthetik, als die erstrebte Wirkung keine rein ästhetische, sondern ein
unausscheidbarer Antheil daran körperlich ist. Das
ästhetische Recept müßte lehren, wie der Tonkünstler das Schöne in
der Musik erzeuge, nicht aber beliebige Affecte im Auditorium. Wie ganz ohnmächtig
diese Regeln wirklich sind, das zeigt am schönsten die Erwägung, wie
zaubermächtig sie sein müßten. Denn wäre die Gefühlswirkung jedes
musikalischen Elements eine
[133] nothwendige und
erforschbare, so könnte man auf dem Gemüth des Hörers, wie auf einer Claviatur
spielen. Und falls man es vermöchte – würde die Aufgabe der Kunst dadurch gelöst?
So
nur lautet die berechtigte Frage und verneint sich von selbst. Musikalische
Schönheit allein ist die wahre Kraft des Tonkünstlers. Auf ihren Schultern
schreitet er sicher durch die reißenden Wogen der Zeit, in denen das Gefühlsmoment
ihm keinen Strohhalm bietet vorm Ertrinken.
4.46Man sieht, unsere beiden Fragen, – nämlich, welches specifische Moment die Gefühlswirkung durch Musik auszeichne, und ob dies Moment wesentlich ästhetischer Natur sei? – erledigen sich durch die Erkenntniß ein und desselben Factors: der intensiven Einwirkung auf das Nervensystem. Auf dieser beruht die eigenthümliche Stärke und Unmittelbarkeit, mit welcher die Musik im Vergleich mit jeder andern nicht durch Töne wirkenden Kunst Affecte aufzuregen vermag.
4.47Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich
überwältigend, also pathologisch auftritt, desto geringer ist ihr
ästhetischer Antheil; ein Satz, der sich freilich nicht umkehren
läßt. Es muß darum in der musikalischen Hervorbringung und Auffassung ein anderes
Element hervorgehoben werden, welches das unvermischt Aesthetische
[134] dieser Kunst
repräsentirt und als Gegenbild zu der specifisch musikalischen Gefühlserregung sich
den allgemeinen Schönheitsbedingungen der übrigen Künste annähert. Dies ist die
reine Anschauung. Ihre besondere Erscheinungsform in der Tonkunst, so
wie die vielgestaltigen Verhältnisse, welche sie in der Wirklichkeit zum Gefühlsleben
eingeht, wollen wir im folgenden Abschnitt betrachten.
[135]
5.1aNichts hat die wissenschaftliche Entwicklung der
musikalischen Aesthetik so empfindlich gehemmt als der übermäßige Werth, welchen man
den Wirkungen der Musik auf die Gefühle beilegte. Je auffallender sich diese
Wirkungen zeigten, desto höher pries man sie als Herolde musikalischer Schönheit.
Wir
haben im Gegentheil gesehen, daß gerade den überwältigendsten Eindrücken der Musik
der stärkste Antheil körperlicher Erregung von Seite des Hörers
beigemischt ist. Von Seite der Musik liegt diese heftige Eindringlichkeit in das
Nervensystem nicht sowohl in ihrem künstlerischen Moment, das ja aus dem
Geiste kommt und an den Geist sich wendet, als vielmehr in ihrem
Material, dem
[136] die Natur jene
unergründliche physiologische Wahlverwandtschaft eingeboren hat. Das
Elementarische der Musik, der Klang und die
Bewegung ist es, was die wehrlosen Gefühle so vieler Musikfreunde in
Ketten schlägt, mit denen sie gar gerne klirren. Weit sei es von uns, die Rechte des
Gefühls an die Musik verkürzen zu wollen. Allein dies Gefühl, welches sich
thatsächlich mehr oder minder mit der reinen Anschauung paart, kann nur dann als
künstlerisch gelten, wenn es sich seiner ästhetischen Herkunft bewußt bleibt, d. h.
der Freude an einem und zwar gerade diesem bestimmten Schönen.
5.1bFehlt dies Bewußtsein, fehlt die freie Anschauung
des bestimmten Kunstschönen und fühlt das Gemüth sich nur von der Naturgewalt der
Töne befangen, so kann die Kunst sich solchen Eindruck um so weniger zu
Gute schreiben, je stärker er auftritt. Die Zahl derer, welche auf solche Art Musik
hören oder eigentlich fühlen, ist sehr bedeutend. Indem sie das Elementarische der
Musik in passiver Empfänglichkeit auf sich wirken lassen, gerathen sie in eine vage,
nur durch den ganz allgemeinen Charakter des Tonstücks bestimmte übersinnlich
sinnliche Erregung. Ihr Verhalten gegen die Musik ist nicht anschauend, sondern
pathologisch; ein stetes Dämmern, Fühlen, Schwärmen, ein Hangen und
Bangen in klingendem
[137] Nichts. Lassen
wir an dem Gefühlsmusiker mehrere Tonstücke gleichen, etwa rauschend fröhlichen
Charakters, vorbeiziehen, so wird er in dem Banne desselben Eindrucks verbleiben.
Nur
was diesen Stücken gleichartig ist, also die Bewegung des rauschend Fröhlichen,
assimilirt sich seinem Fühlen, während das Besondere jeder Tondichtung, das
künstlerisch Individuelle seiner Auffassung entschwindet. Gerade umgekehrt wird der
musikalische Zuhörer verfahren. Die eigenthümliche künstlerische Gestaltung einer
Composition, das, was sie unter einem Dutzend ähnlich wirkender zum selbstständigen
Kunstwerk stempelt, erfüllt sein Aufmerken so vorherrschend, daß er ihrem gleichen
oder verschiedenen Gefühlsausdruck nur geringes Gewicht beilegt. Das isolirte
Aufnehmen eines abstracten Gefühlsinhaltes anstatt der concreten Kunsterscheinung
ist
in solcher Ausbildung der Musik ganz eigenthümlich. Nur die Gewalt einer besonderen
Beleuchtung erscheint ihr nicht selten analog, wenn sie Manchen so
ergreift, daß er über die beleuchtete Landschaft selbst sich gar keine Rechenschaft
zu geben vermag. Eine unmotivirte und darum desto eindringlichere Totalempfindung
wird in Bausch und Bogen eingesaugt. 39
[138]
5.2Halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt, lassen jene
Enthusiasten von den Schwingungen der Töne sich tragen und schaukeln, statt sie
scharfen Blickes zu betrachten. Wie das stark und stärker anschwillt, nachläßt,
aufjauchzt oder auszittert, das versetzt sie in einen unbestimmten
Empfindungszustand, den sie für rein geistig zu halten so unschuldig sind. Sie bilden
das „dankbarste“ Publicum und dasjenige, welches geeignet ist, die Würde der Musik
am
sichersten zu discreditiren. Das ästhetische Merkmal des geistigen
Genusses geht ihrem Hören ab; eine feine Cigarre, ein pikanter Leckerbissen, ein
laues Bad leistet ihnen unbewußt, was eine Symphonie. Vom gedankenlos gemächlichen
Dasitzen der Einen bis zur tollen Verzückung der Andern ist das Princip dasselbe:
die
Lust am Elementarischen der Musik. Die neue Zeit hat übrigens eine
herrliche Entdeckung gebracht, welche für Hörer, die ohne alle Geistesbethätigung
nur
den Gefühlsniederschlag der Musik
[139] suchen, diese
Kunst weit überbietet. Wir meinen den Schwefeläther, das Chloroform. In der That
zaubern uns diese Mittel einen höchst angenehmen, den ganzen Organismus süßtraumhaft
durchbebenden Rausch – ohne die Gemeinheit des Weintrinkens, welches auch nicht ohne
musikalische Wirkung ist.
5.3Die Werke der Tonkunst reihen sich für solche Auffassung zu den Naturproducten, deren Genuß uns entzücken, aber nicht zwingen kann zu denken, einem bewußt schaffenden Geiste nach zu denken. Der süße Athem eines Akazienbaumes läßt sich auch geschlossenen Auges, träumend einsaugen. Hervorbringungen menschlichen Geistes verwehren das durchaus, wenn sie nicht eben auf die Stufe sinnlicher Naturreize herabsinken sollen.
5.4In keiner andern Kunst ist dies so hohen Grades möglich, als in der Musik, deren sinnliche Seite einen geistlosen Genuß wenigstens zuläßt. Schon das Verrauschen derselben, während die Werke der übrigen Künste bleiben, gleicht in bedenklicher Weise dem Act des Verzehrens.
5.5Ein Bild, eine Kirche, ein Drama lassen sich nicht
schlürfen, eine Arie sehr wohl. Darum giebt auch der Genuß keiner andern Kunst sich
zu solch accessorischem Dienst her. Die besten Compositionen können als
Tafelmusik gespielt
[140] werden und die
Verdauung der Fasane erleichtern. Musik ist die zudringlichste und auch wieder die
nachsichtigste Kunst. Die jämmerlichste Drehorgel, so sich vor unserem Haus postirt,
muß man hören, aber zuzuhören braucht man
selbst einer Mendelssohnʼschen Symphonie nicht.
5.5.1Die gerügte Art des Musikhörens ist übrigens nicht
etwa identisch mit der in jeder Kunst vorkommenden Freude des naiven Publicums an
dem
blos sinnlichen Theil derselben, während der ideale Gehalt nur von dem gebildeten
Verständniß erkannt wird. Diese unkünstlerische Auffassung eines Musikstückes zieht
nicht den eigentlich sinnlichen Theil, die reiche Mannigfaltigkeit der Tonreihen an
sich, sondern deren abstracte, als bloßes Gefühl empfundene Totalidee. Die höchst
eigenthümliche Stellung wird dadurch ersichtlich, welche in der Musik der geistige
Gehalt zu den Kategorien der Form und des
Inhalts einnimmt. Man pflegt nämlich das ein Tonstück durchwehende
Gefühl als den Inhalt, die Idee, den geistigen Gehalt desselben anzusehen, die
künstlerisch geschaffenen, bestimmten Tonfolgen hingegen als die bloße
Form, das Bild, die sinnliche Einkleidung jenes Uebersinnlichen. Allein gerade der
„specifisch-musikalische“ Theil ist die Schöpfung des künstlerischen Geistes, mit
welchem der anschauende Geist sich verständnißvoll vereinigt. In diesen
[141] concreten
Tonbildungen liegt der geistige Gehalt der Composition, nicht in dem vagen
Totaleindruck eines abstrahirten Gefühls. Die dem Gefühl, als vermeintlichem Inhalt,
gegenübergestellte bloße Form (das Tongebilde) ist gerade der wahre
Inhalt der Musik, ist die Musik selbst; während das erzeugte Gefühl
weder Inhalt noch Form heißen kann, sondern factische Wirkung. Ebenso ist das
vermeintliche Materielle, Darstellende, gerade das vom Geiste Gebildete,
während das angeblich Dargestellte, die Gefühlswirkung, der Materie des
Tons innewohnt und zur guten Hälfte physiologischen Gesetzen folgt.
5.6Aus den obigen Betrachtungen ergiebt sich leicht die richtige Werthschätzung für die sogenannten „moralischen Wirkungen“ der Musik, die als glänzendes Seitenstück zu den vorher erwähnten „physischen“ von älteren Autoren mit so viel Vorliebe herausgestrichen werden. Da hierbei die Musik nicht im Entferntesten als ein Schönes genossen, sondern als rohe Naturgewalt empfunden wird, die bis zu besinnungslosem Handeln treibt, so stehen wir an dem geraden Widerspiel alles Aesthetischen. Ueberdies liegt das Gemeinschaftliche dieser angeblich „moralischen“ Wirkungen mit den anerkannt physischen zu Tage.
5.7 & 5.8Der drängende Gläubiger, der durch die
Töne seines Schuldners bewogen wird, ihm die
[142] ganze Summe zu
schenken, 40 ist dazu nicht
anders angetrieben als der Ruhende, den ein Walzermotiv plötzlich zum Tanz
begeistert. Der Erstere wird mehr durch die geistigeren Elemente: Harmonie und
Melodie, der Zweite durch den sinnlicheren Rhythmus bewegt. Keiner von Beiden handelt
aber aus freier Selbstbestimmung, keiner überwältigt durch geistige Ueberlegenheit
oder ethische Schönheit, sondern in Folge befördernder Nervenreize. Die Musik löst
ihm die Füße oder das Herz, gerade so wie der Wein die Zunge. Solche Siege predigen
nur die Schwäche des Besiegten. Ein Erleiden unmotivirter ziel- und stoffloser
Affecte durch eine Macht, die in keinem Rapport zu unserm Wollen und Denken steht,
ist des Menschengeistes unwürdig. Wenn vollends Menschen in so hohem Grade von dem
Elementarischen einer Kunst sich hinreißen lassen, daß sie ihres freien Handelns
nicht mehr mächtig sind, so scheint uns dies weder ein Ruhm für die Kunst noch viel
weniger für die Helden selbst.
5.9Die Musik hat die Bestimmung keineswegs, allein ihr
intensives Gefühlsmoment macht es möglich, daß sie in solcher Tendenz genossen werde.
[143]
Dies ist der Punkt, in welchem die ältesten Anklagen gegen die Tonkunst ihre Wurzel
haben; daß sie entnerve, verweichliche, erschlaffe.
5.10Wo man Musik macht als ein Erregungsmittel „unbestimmter Affecte,“ als Nahrung des „Fühlens“ an sich, da wird jener Vorwurf nur zu wahr. Beethoven verlangte, die Musik solle dem Mann „Feuer aus dem Geiste schlagen.“ Wohlgemerkt: „soll.“ Ob aber nicht selbst ein Feuer, das durch Musik erzeugt und genährt wird, die willensstarke, denkkräftige Entwickelung des Mannes hemmend zurückhält?
5.11Jedenfalls scheint uns diese Anklage des musikalischen Einflusses würdiger als dessen übermäßige Lobpreisung. Sowie die physischen Wirkungen der Musik im geraden Verhältniß stehen zu der krankhaften Gereiztheit des ihnen entgegenkommenden Nervensystems, so wächst der moralische Einfluß der Töne mit der Uncultur des Geistes und Charakters. Je kleiner der Widerhalt der Bildung, desto gewaltiger das Dreinschlagen solcher Macht. Die stärkste Wirkung übt Musik bekanntlich auf Wilde.
5.12Das schreckt unsere Musik-Ethiker nicht ab. Sie
beginnen, gleichsam präludirend, am liebsten mit zahlreichen Beispielen, „wie sogar
die Thiere“ sich der Macht der Tonkunst beugen. Es ist wahr, der Ruf der Trompete
erfüllt das Pferd mit
[144] Muth und
Schlachtbegier, die Geige begeistert den Bären zu Balletversuchen, die zarte Spinne
und der plumpe Elephant bewegen sich horchend bei den geliebten Klängen. Ist es denn
aber wirklich so ehrenvoll, in solcher Gesellschaft Musik-Enthusiast zu
sein?
5.13Auf die Thierproductionen folgen die menschlichen Cabinetstücke. Sie sind meist im Geschmack Alexanders des Großen, welcher durch das Flötenspiel des Timotheus zuerst wüthend gemacht, hierauf durch Gesang wieder besänftigt wurde. So ließ der minder bekannte König von Dänemark Ericus bonus, um sich von der gepriesenen Gewalt der Musik zu überzeugen, einen berühmten Musikus spielen und zuvor alles Gewehr entfernen. Der Künstler versetzte durch die Wahl seiner Modulationen alle Gemüther zuerst in Traurigkeit, dann in Frohsinn. Letzteren wußte er bis zur Raserei zu steigern. „Selbst der König brach durch die Thür, griff zum Degen und brachte von den Umstehenden vier ums Leben.“ (Albert Krantzius,Dan. lib. V., cap. 3.) Und das war noch der „gute Erich “.
5.14Wären solche „moralische Wirkungen“
der Musik noch an der Tagesordnung, so käme man wahrscheinlich vor innerer Empörung
gar nicht dazu, sich über die Hexenmacht vernünftig auszusprechen, welche in
souverainer Exterritorialität
[145] den
Menschengeist unbekümmert um dessen Gedanken und Entschlüsse bezwingt und
verwirrt.
5.15Die Betrachtung jedoch, daß die berühmtesten dieser musikalischen Trophäen dem grauen Alterthum angehören, macht wohl geneigt, der Sache einen historischen Standpunkt abzugewinnen.
5.16Es leidet gar keinen Zweifel, daß die Musik bei den
alten Völkern eine weit unmittelbarere Wirkung äußerte als gegenwärtig; weil die
Menschheit eben in ihren primitiven Bildungsstufen dem Elementarischen
viel verwandter und preisgegebener ist als später, wo Bewußtsein und Selbstbestimmung
in ihr Recht treten. Dieser natürlichen Empfänglichkeit kam der eigenthümliche
Zustand der Musik im griechischen
Alterthum hülfreich entgegen. Sie war nicht Kunst in unserem Sinn.
Klang und Rhythmus wirkten in fast vereinzelter
Selbstständigkeit und vertraten in dürftigem Vordrängen die Stelle der reichen,
geisterfüllten Formen, welche die gegenwärtige Tonkunst bilden. Alles, was von der
Musik jener Zeiten bekannt ist, läßt mit Gewißheit auf ein blos sinnliches, dafür
aber in dieser Beschränkung verfeinertes Wirken derselben schließen. Musik in der
modernen, künstlerischen Bedeutung gabʼs nicht im classischen Alterthum, sonst hätte
sie für die spätere Entwicklung eben so wenig verloren gehen können, als die
classische Dichtkunst, Plastik
[146] und Architektur
verloren gegangen sind. Die Vorliebe der Griechen für ein gründliches Studium ihrer
ins Subtilste zugespitzten Tonverhältnisse gehört als rein wissenschaftliche nicht
hierher.
5.17Der Mangel an Harmonie, die Befangenheit der
Melodie in den engsten Grenzen recitativischen Ausdrucks, endlich die
Entwicklungsunfähigkeit des alten Tonsystems zu wahrhaft musikalischem
Gestaltenreichthum machten eine absolute Bedeutung der Musik als Tonkunst im
musikalischen Sinne unmöglich; sie ward auch fast niemals selbstständig, sondern
stets in Verbindung mit Poesie, Tanz und Mimik angewendet, mithin als eine Ergänzung
der andern Künste. Musik hatte nur den Beruf durch rhythmischen Pulsschlag und
Verschiedenheit der Klangfarben zu beleben; endlich als intensive Steigerung
recitirender Declamation Worte und Gefühle zu commentiren. Die Tonkunst
wirkte daher hauptsächlich nach ihrer sinnlichen und ihrer
symbolischen Seite. Auf diese Factoren hingedrängt, mußte sie
dieselben durch solche Concentration zu großer, ja raffinirter Wirksamkeit ausbilden.
Die Zuspitzung des melodischen Materials bis zur Anwendung der Vierteltöne und des
„enharmonischen Tongeschlechts“ hat die heutige Tonkunst eben so wenig mehr
aufzuweisen, als den charakteristischen Sonderausdruck der Tonarten und ihr enges
[147]
Anschmiegen an das gesprochene oder gesungene Wort.
5.18Diese gesteigerten tonlichen Verhältnisse fanden für ihren engen Kreis überdies eine viel größere Empfänglichkeit in den Hörern vor. Wie das griechische Ohr unendlich feinere Intervallen-Unterschiede zu fassen fähig war, als es das unsere in der schwebenden Temperatur auferzogene ist, so war auch das Gemüth jener Völker der wechselnden Umstimmung durch Musik weit zugänglicher und begehrlicher als wir, die an dem künstlerischen Bilden der Tonkunst ein contemplatives Gefallen hegen, das deren elementarischen Einfluß paralysirt. So erscheint denn eine intensivere Wirkung der Musik im Alterthum wohl begreiflich.
5.19Desgleichen ein bescheidener Theil der Historien,
die uns von der specifischen Wirkung der verschiedenen Tonarten bei den
Alten überliefert sind. Sie gewinnen einen Erklärungsgrund in der strengen Scheidung,
mit welcher die einzelnen Tonarten zu bestimmten Zwecken gewählt und unvermischt
erhalten wurden. Die dorische Tonart brauchten die Alten für ernste, namentlich
religiöse Anlässe; mit der phrygischen feuerten sie die Heere an; die lydische
bedeutete Trauer und Wehmuth, und die äolische erklang, wo es in Liebe oder Wein
lustig herging. Durch diese strenge, bewußte
[148] Trennung von
vier Haupttonarten für eben so viel Classen von Seelenzuständen, so wie durch ihre
consequente Verbindung mit nur zu dieser Tonart passenden Gedichten
mußten Ohr und Gemüth unwillkürlich eine entschiedene Tendenz gewinnen, beim
Erklingen einer Musik gleich das ihrer Tonart entsprechende Gefühl zu reproduciren.
Auf der Grundlage dieser einseitigen Ausbildung war nun die Musik unentbehrliche,
fügsame Begleiterin aller Künste, war Mittel zu pädagogischen, politischen und
anderen Zwecken, sie war Alles, nur keine selbstständige Kunst. Wenn es
blos einiger phrygischen Klänge bedurfte, um den Soldaten muthig gegen den Feind zu
treiben, und die Treue der Strohwitwen durch dorische Lieder gesichert war, so mag
der Untergang des griechischen
Tonsystems von Feldherren und Ehegatten betrauert werden, – der Aesthetiker und der
Componist werden es sich nicht zurückwünschen.
5.20Wir setzen jenem pathologischen Ergriffenwerden das
bewußte reine Anschauen eines Tonwerks entgegen. Diese contemplative
ist die einzig künstlerische, wahre Form des Hörens; ihr gegenüber fällt der rohe
Affect des Wilden und der schwärmende des Musikenthusiasten in Eine Classe. Dem
Schönen entspricht ein Genießen,kein Erleiden, wie ja das
Wort „Kunstgenuß“ sinnig ausdrückt. Die Gefühlvollen halten es
[149] freilich für
Ketzerei gegen die Allmacht der Musik, wenn Jemand von den Herzens-Revolutionen und
-Krawallen Umgang nimmt, welche sie in jedem Tonstück antreffen und redlich
mitmachen. Man ist dann offenbar „kalt,“ „gemüthlos,“ „Verstandesnatur.“ Immerhin.
Edel und bedeutend wirkt es, dem schaffenden Geist zu folgen, wie er zauberisch eine
neue Welt von Elementen vor uns aufschließt, diese in alle denkbaren Beziehungen zu
einander lockt, und so fortan aufbaut, niederreißt, hervorbringt und vernichtet, den
ganzen Reichthum eines Gebietes beherrschend, welches das Ohr zum feinsten und
ausgebildetsten Sinneswerkzeug adelt. Nicht eine angeblich geschilderte Leidenschaft
reißt uns in Mitleidenschaft. Freudigen Geistes, in affectlosem, doch
innig-hingebendem Genießen sehen wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen und feiner
erkennend, was
Schelling
so schön
„die erhabene Gleichgültigkeit des Schönen“
nennt. 41 Dieses Sich-Erfreuen mit wachem
Geiste ist die würdigste, heilvollste und nicht die leichteste Art, Musik zu
hören.
5.21Der wichtigste Factor in dem Seelenvorgang, welcher
das Auffassen eines Tonwerks begleitet und zum Genusse macht, wird am häufigsten
[150]
übersehen. Es ist die geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet, den
Absichten des Componisten fortwährend zu folgen und voranzueilen, sich in seinen
Vermuthungen hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden. Es versteht sich,
daß
dieses intellectuelle Hinüber- und Herüberströmen, dieses fortwährende Geben und
Empfangen, unbewußt und blitzschnell vor sich geht. Nur solche Musik wird vollen
künstlerischen Genuß bieten, welche dies geistige Nachfolgen, welches ganz eigentlich
ein Nachdenken der Phantasie genannt werden könnte, hervorruft und
lohnt. Ohne geistige Thätigkeit giebt es überhaupt keinen ästhetischen Genuß. Der
Musik aber ist diese Form von Geistesthätigkeit darum
vorzüglich eigen, weil ihre Werke nicht unverrückbar und mit Einem Schlag dastehen,
sondern sich successiv am Hörer abspinnen, daher sie von diesem kein, ein beliebiges
Verweilen und Unterbrechen zulassendes Betrachten, sondern ein in
schärfster Wachsamkeit unermüdliches Begleiten fordern. Diese Begleitung
kann bei verwickelten Compositionen sich bis zur geistigen Arbeit steigern. Wie viele
einzelne Individuen, so können auch manche Nationen sich
ihr nur sehr schwer unterziehen. Die singende Alleinherrschaft der Oberstimme bei
den
Italienern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volkes,
[151]
welchem das ausdauernde Durchdringen unerreichbar ist, womit der Nordländer einem
künstlichen Gewebe von harmonischen und contrapunktischen Verschlingungen zu folgen
liebt. Dafür wird Hörern, deren geistige Thätigkeit gering ist, der Genuß
leichter, und solche Musikbolde können Massen von Musik verzehren,
vor welchen der künstlerische Geist zurückbebt.
5.22Das bei jedem Kunstgenuß nothwendige geistige Moment wird sich bei Zuhörern desselben Tonwerks in sehr verschiedener Abstufung thätig erweisen; es kann in sinnlichen und gefühlvollen Naturen auf ein Minimum sinken, in vorherrschend geistigen Persönlichkeiten das geradezu Entscheidende werden. Die wahre „rechte Mitte“ muß sich, nach unserer Meinung, hier eher etwas nach rechts neigen. Zum Berauschtwerden braucht’s nur der Schwäche, aber wirklich ästhetisches Hören ist eine Kunst.42
[152]
5.23Das Gefühlsschwelgen ist meist Sache jener Hörer,
welche für die künstlerische Auffassung des Musikalisch-Schönen keine
Ausbildung besitzen. Der Laie „fühlt“ bei Musik am meisten, der gebildete Künstler
am
wenigsten. Je bedeutender nämlich das ästhetische Moment im Hörer
(gerade wie im Kunstwerk), desto mehr nivellirt es das blos elementarische. Darum
ist
das ehrwürdige Axiom der Theoretiker: „Eine düstere Musik erregt Gefühle der Trauer
in uns, eine heitere erweckt Fröhlichkeit“ – in dieser Aus
[153] dehnung nicht
immer richtig. Wenn jedes hohle Requiem, jeder lärmende Trauermarsch, jedes winselnde
Adagio die Macht haben sollte, uns traurig zu machen, – wer möchte dann länger so
leben? Blickt eine Tondichtung uns an mit klaren Augen der Schönheit, so erfreuen
wir
uns inniglich daran, und wenn sie alle Schmerzen des Jahrhunderts zum Gegenstand
hätte. Der lauteste Jubel aber eines Verdiʼschen Finales oder einer Musardʼschen Quadrille hat
uns nicht immer froh gemacht.
5.24Der Laie und Gefühlsmensch fragt gerne, ob eine Musik lustig sei oder traurig – der Musiker, ob sie gut sei oder schlecht. Dieser kurze Schlagschatten weist deutlich, auf welch verschiedener Seite beide Parteien gegen die Sonne stehen.
5.25Wenn wir sagten, daß unser ästhetisches
Wohlgefallen an einem Tonstück sich nach dessen künstlerischem Werth richte, so
hindert dies nicht, daß ein einfacher Hornruf, ein Jodler im Gebirg uns mitunter zu
größerem Entzücken aufrufen kann, als die vortrefflichste Symphonie. In diesem Fall
tritt aber die Musik in die Reihe des Naturschönen. Nicht als
dieses bestimmte Gebilde in Tönen, sondern als diese bestimmte Art
von Naturwirkung kommt uns das Gehörte entgegen und kann übereinstimmend
mit dem landschaftlichen Charakter der Umgebung
[154] und der
persönlichen Stimmung jeden Kunstgenuß an Macht hinter sich zurücklassen. Es giebt
also ein Uebergewicht an Eindruck, welches das Elementarische über das Artistische
erreichen kann, allein die Aesthetik, als Lehre vom Kunstschönen, hat die Musik
lediglich von ihrer künstlerischen Seite aufzufassen, also auch nur jene
ihrer Wirkungen anzuerkennen, welche sie, als menschliches Geistesproduct, durch eine
bestimmte Gestaltung jener elementarischen Factoren auf die reine Anschauung
hervorbringt.
5.26Die nothwendigste Forderung einer ästhetischen Aufnahme der Musik ist aber, daß man ein Tonstück um seiner selbst willen höre, welches es nun immer sei und mit welcher Auffassung immer. Sobald die Musik nur als Mittel angewandt wird, eine gewisse Stimmung in uns zu fördern, accessorisch, decorativ, da hört sie auf, als reine Kunst zu wirken. Das Elementarische der Musik wird unendlich oft mit der künstlerischen Schönheit derselben verwechselt, also ein Theil für das Ganze genommen und dadurch namenlose Verwirrung verursacht. Hundert Aussprüche, die über „die Tonkunst“ gefällt werden, gelten nicht von dieser, sondern von der sinnlichen Wirkung ihres Materials.
5.27Wenn
Heinrich
der Vierte bei Shakespeare
(II. Theil. IV. 4.) sich sterbend Musik machen
[155] läßt, so
geschieht es wahrlich nicht, um die vorgetragene Composition anzuhören, sondern um
träumend in deren gegenstandlosem Element sich zu wiegen. Ebenso wenig werden
Porzia
und
Bassanio
(im „Kaufmann von Venedig“)
gestimmt sein, während der verhängnißvollen Kästchenwahl der bestellten Musik
Aufmerksamkeit zu schenken. J.
Strauß
hat reizende, ja geistreiche Musik in seinen bessern Walzern niedergelegt, –
sie hört auf es zu sein, sobald man lediglich dabei im Tact tanzen will. In allen
diesen Fällen ist es ganz gleichgültig, welche Musik gemacht wird, wenn
sie nur den verlangten Grundcharakter hat. Wo aber Gleichgültigkeit gegen das
Individuelle eintritt, da herrscht Klangwirkung, nicht
Tonkunst. Nur derjenige, welcher nicht blos die allgemeine
Nachwirkung des Gefühls, sondern die unvergeßliche, bestimmte Anschauung eben
dieses Tonstücks mit sich nimmt, hat es gehört und genossen. Jene
erhebenden Eindrücke auf unser Gemüth und ihre hohe psychische, wie physiologische
Bedeutung dürfen nicht hindern, daß die Kritik überall unterscheide, was bei einer
vorhandenen Wirkung künstlerisch, was elementarisch sei. Eine ästhetische Anschauung
hat Musik nicht sowohl als Ursache, denn als Wirkung aufzufassen, nicht als
Producirendes, sondern als Product.
5.28Ebenso häufig als die elementarische Wirkung
[156] der
Musik wird deren maßhaltendes, Ruhe und Bewegung, Dissonanz und Concordanz
vermittelndes, allgemein harmonisches Wesen mit der Tonkunst selbst verwechselt. Bei
dem gegenwärtigen Stand der Tonkunst und Philosophie dürfen wir uns im Interesse
beider die altgriechische Ausdehnung des Begriffs „Musik“ auf alle
Wissenschaft und Kunst, so wie auf die Bildung sämmtlicher Seelenkräfte nicht
gestatten. Die berühmte Apologie der Tonkunst im „Kaufmann von Venedig“ (V. 1.)
43 beruht auf solcher Verwechselung der Tonkunst selbst mit dem sie
beherrschenden Geist des Wohlklangs, der Uebereinstimmung, des Maßes. Man könnte in
ähnlichen Stellen ohne viel Aenderung statt „Musik“ auch „Poesie,“ „Kunst,“ ja
„Schönheit“ überhaupt setzen. Daß aus der Reihe der Künste gerade die
Musik hervorgeholt zu werden pflegt, verdankt sie der zweideutigen
Macht ihrer Popularität. Gleich die weiteren Verse der angeführten Rede bezeugen
dies, wo die zähmende Wirkung der Töne auf Bestien sehr gerühmt wird, die Musik also
wieder einmal als van Aken erscheint.
5.29Die lehrreichsten Beispiele bieten
Bettinaʼs „musikalische Explosionen,“ wie Goethe ihre Briefe
[157] über
Musik galant bezeichnete. Als der wahrhafte Prototyp aller vagen Schwärmerei über
Musik, zeigt Bettina, wie ungebührlich man den Begriff dieser Kunst ausdehnen kann, um
sich bequem darin zu tummeln. Mit der Prätension, von der Musik selbst zu sprechen,
redet sie stets von der dunklen Einwirkung, welche diese auf ihr Gemüth übt, und
deren üppige Traumseligkeit sie absichtlich von jedem forschenden Denken absperrt.
In
einer Composition sieht sie immer ein unerforschliches Naturerzeugniß, nicht ein
menschliches Kunstwerk, und begreift daher Musik nie anders, als rein
phänomenologisch. „Musik,“ „musikalisch“ nennt Bettina unzählige
Erscheinungen, die lediglich ein oder das andere Element der Tonkunst: Wohlklang,
Rhythmus, Gefühlserregung mit ihr gemein haben. Auf diese Factoren kommt es aber gar
nicht an, sondern auf die specifische Art, wie sie in künstlerischer Gestaltung als
Tonkunst erscheinen. Es versteht sich von selbst, daß die
musiktrunkene Dame in
Goethe
, ja in
Christus
große Musiker sieht, obwohl von Letzterem Niemand weiß, daß er einer, von
Ersterem Jedermann, daß er keiner gewesen.
5.30Das Recht historischer Bildungen und poetischer
Freiheit halten wir in Ehren. Wir begreifen, warum
Aristophanes
in den „Wespen“ einen
feingebildeten Geist „den Weisen und Musi
[158] kalischen“
(σοφòυ ϰαι μουσιϰòυ) nennt, und finden den Ausdruck Graf
Reinhardtʼs sinnig,
Oehlenschläger
habe „musikalische Augen.“ Wissenschaftliche Betrachtungen jedoch dürfen der
Musik nie einen andern Begriff beilegen oder voraussetzen, als den
ästhetischen, wenn nicht alle Hoffnung zur einstigen Feststellung
dieser zitternden Wissenschaft aufgegeben werden soll.
[159]
6.1 & 6.2Das Verhältniß zur Natur ist für jedes
Ding das Erste, das Ehrwürdigste und das Einflußreichste. Wer auch nur flüchtig an
den Puls der Zeit gefühlt, der weiß, wie die Herrschaft dieser Erkenntniß in
mächtigem Anwachsen begriffen ist. Durch die moderne Forschung geht ein so starker
Zug nach der Naturseite aller Erscheinungen, daß selbst die abstractesten
Untersuchungen merklich gegen die Methode der Naturwissenschaften gravitiren. Auch
die Aesthetik, will sie kein bloßes Scheinleben führen, muß die knorrige
Wurzel kennen, wie die zarte Faser, an welcher jede einzelne Kunst mit dem
Naturgrunde zusammenhängt. Und gerade für die musikalische Aesthetik erschließt das
Ver
[160] hältniß der
Tonkunst zur Natur die wichtigsten Folgerungen. Die Stellung ihrer schwierigsten
Materien, die Lösung ihrer controversesten Fragen hängt von der richtigen Würdigung
dieses Zusammenhanges ab.
6.3Die Künste, – vorerst als empfangend, noch nicht als rückwirkend betrachtet – stehen zu der umgebenden Natur in einer doppelten Beziehung. Erstens durch das rohe, körperliche Material, aus welchem sie schaffen, dann durch den schönen Inhalt, den sie für künstlerische Behandlung vorfinden. In beiden Punkten verhält sich die Natur zu den Künsten als mütterliche Spenderin der ersten und wichtigsten Mitgift. Es gilt den Versuch, diese Ausstattung im Interesse der musikalischen Aesthetik rasch zu besichtigen und zu prüfen, was die vernünftig und darum ungleich schenkende Natur für die Tonkunst gethan hat.
6.4Untersucht man, inwiefern die Natur
Stoff für die Musik biete, so ergiebt sich, daß sie dies nur in dem
untersten Sinn des rohen Materials thut, welches der Mensch zum Tönen zwingt. Das
stumme Erz der Berge, das Holz des Waldes, der Thiere Fell und Gedärm sind Alles,
was
wir vorfinden, um den eigentlichen Baustoff für die Musik, den reinen
Ton zu bereiten. Wir erhalten also vorerst nur Material zum Material,
[161] dies
Letztere ist der reine, nach Höhe und Tiefe bestimmte, d. i. meßbare Ton. Er ist
erste und unumgängliche Bedingung jeder Musik. Diese gestaltet ihn zu
Melodie und Harmonie, den zwei Hauptfactoren der
Tonkunst. Beide finden sich in der Natur nicht vor, sie sind Schöpfungen des
Menschengeistes.
6.5Das geordnete Nacheinanderfolgen meßbarer Töne, welches wir Melodie nennen, vernehmen wir in der Natur auch nicht in den dürftigsten Anfängen; ihre successiven Schallerscheinungen entbehren der verständlichen Proportion und entziehen sich der Reduction auf unsere Scala. Die Melodie aber ist „der springende Punkt“, das Leben, die erste Kunstgestalt des Tonreichs, an sie ist jede weitere Bestimmtheit, alle Erfassung des Inhalts geknüpft.
6.6Ebensowenig wie Melodie kennt die Natur, diese großartige Harmonie aller Erscheinungen, Harmonie im musikalischen Sinn, als Zusammenklingen bestimmter Töne. Hat Jemand in der Natur einen Dreiklang gehört, einen Sext- oder Septimaccord? Wie die Melodie, so war auch (nur in viel langsamerem Fortschreiten) die Harmonie ein Erzeugniß menschlichen Geistes.
6.7Die Griechen kannten keine Harmonie, sondern sangen
in der Octave oder im Einklang, wie noch heutzutage jene asiatischen Völkerschaften,
[162] bei welchen
überhaupt Gesang angetroffen wird. Der Gebrauch der Dissonanzen (wozu
auch Terz und Sext gehörten) begann allmälig vom
12. Jahrhundert an, und bis ins 15. beschränkte man sich bei Ausweichungen auf die
Octave. Jedes der Intervalle, die jetzt unserer Harmonie dienstbar sind, mußte
einzeln gewonnen werden, und oft reichte ein Jahrhundert nicht hin für solch kleine
Errungenschaft. Das kunstgebildetste Volk des Alterthums, so wie die gelehrtesten
Tonsetzer des früheren Mittelalters konnten nicht, was unsere Hirtinnen auf der
entlegensten Alpe: in Terzen singen. Durch die Harmonie aber ist der Tonkunst nicht
etwa ein neues Licht aufgegangen, sondern es ist zum erstenmal Tag geworden.
„Die ganze Tonschöpfung wurde von dieser Zeit an erst ausgeboren.“
(Nägeli.)
6.8Harmonie und Melodie fehlen also in der Natur. Nur
ein drittes Element in der Musik, dasjenige, von dem die beiden ersten getragen
werden, existirt schon vor und außer dem Menschen: der Rhythmus. Im
Galopp des Pferdes, dem Klappern der Mühle, dem Gesang der Amsel und Wachtel äußert
sich eine Einheit, zu welcher aufeinanderfolgende Zeittheilchen sich zusammenfassen
und ein anschauliches Ganze bilden. Nicht alle, aber viele Lautäußerungen der Natur
sind
[163]
rhythmisch. Und zwar herrscht in ihr das Gesetz des zweitheiligen
Rhythmus, als Hebung und Senkung, Anlauf und Auslauf. Was diesen Naturrhythmus von
der menschlichen Musik trennt, muß alsbald auffallen. In der Musik giebt
es nämlich keinen isolirten Rhythmus als solchen, sondern nur Melodie und Harmonie,
welche rhythmisch sich äußert. In der Natur dagegen trägt der Rhythmus weder Melodie
noch Harmonie, sondern nur unmeßbare Luftschwingungen. Der Rhythmus, das einzige
musikalische Urelement in der Natur, ist auch das erste, so im Menschen erwacht, im
Kinde, im Wilden am frühesten sich entwickelt. Wenn die Südsee-Insulaner mit
Metallstücken und Holzstäben rhythmisch klappern und dazu ein unfaßliches Geheul
ausstoßen, so ist das natürliche Musik, denn es ist eben keine
Musik. Was wir aber einen Tiroler Bauer singen hören, zu welchem anscheinend keine Spur von Kunst
gedrungen, ist durchaus künstliche Musik. Der Mann meint freilich, er
singe wie ihm der Schnabel gewachsen ist: aber damit dies möglich wurde, mußte die
Saat von Jahrhunderten wachsen.
6.9Wir hätten somit die nothwendigen
Elementarbestandtheile unserer Musik betrachtet und gefunden, daß der Mensch von der
ihn umgebenden Natur nicht musiciren lernte. In welcher Art
[164] und Folge sich
unser heutiges Tonsystem ausgebildet hat, lehrt die Geschichte der Tonkunst. Wir
haben diese Nachweisung vorauszusetzen und nur ihr Ergebniß festzuhalten, daß Melodie
und Harmonie, daß unsere Intervallenverhältnisse und Tonleiter, die Theilung von Dur
und Moll nach der verschiedenen Stellung des Halbtons, endlich die schwebende
Temperatur, ohne welche unsere (europäisch-abendländische) Musik unmöglich wäre, langsam und allmälig
entstandene Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. Die Natur hat dem Menschen
nur
die Organe und die Lust zum Singen mitgegeben, dazu die Fähigkeit, sich auf Grundlage
der einfachsten Verhältnisse nach und nach ein Tonsystem zu bilden. Nur diese
einfachsten Verhältnisse (Dreiklang, harmonische Progression) werden als unwandelbare
Grundpfeiler jedem künftigen Weiterbau bleiben. – Man hüte sich vor der
Verwechselung, als ob dieses (gegenwärtige) Tonsystem
selbst nothwendig in der Natur läge. Die Erfahrung, daß selbst Naturalisten
heutzutage mit den musikalischen Verhältnissen unbewußt und leicht hantieren wie mit
angeborenen Kräften, die sich von selbst verstehen, stempelt die herrschenden
Tongesetze keineswegs zu Naturgesetzen; es ist dies bereits Folge der unendlich
verbreiteten musikalischen Cultur.
Hand
bemerkt ganz richtig, daß darum auch unsere Kin
[165] der in der
Wiege schon besser singen, als erwachsene Wilde.
„Läge die Tonfolge der Musik in der Natur fertig vor, so sänge auch jeder
Mensch immer rein.“
44
6.10Wenn man unser Tonsystem ein „künstliches“ nennt, so gebraucht man dies Wort nicht in dem raffinirten Sinn einer willkürlichen conventionellen Erfindung. Es bezeichnet blos ein Gewordenes im Gegensatz zum Erschaffenen.
6.11Dies übersieht
Hauptmann
, wenn er den Begriff eines künstlichen Tonsystems einen
„durchaus nichtigen“
nennt,
„indem die Musiker eben so wenig haben Intervalle bestimmen und ein
Tonsystem erfinden können, als die Sprachgelehrten die Worte der Sprache und
die Sprachfügung erfunden haben.“
45 Gerade die
Sprache ist in demselben Sinne wie die Musik ein künstliches Erzeugniß, indem beide
nicht in der äußeren
[166] Natur
vorgebildet liegen, sondern allmälig geworden sind und erlernt werden müssen. Nicht
die Sprachgelehrten, aber die Nationen bilden sich ihre Sprache nach ihrem Charakter
und ändern sie vervollkommnend immerfort. So haben auch die „Tongelehrten“ unsere
Musik nicht „errichtet“, sondern lediglich das fixirt und begründet, was der
allgemeine, musikalisch befähigte Geist mit Vernünftigkeit, aber nicht mit
Nothwendigkeit unbewußt ersonnen hatte. 46 Aus diesem Proceß ergiebt sich, daß auch unser
Tonsystem im Zeitverlauf neue Bereicherungen und Veränderungen erfahren wird. Doch
sind innerhalb der gegenwärtigen Gesetze noch so vielfache und große Evolutionen
möglich, daß eine Aenderung im Wesen des Systems sehr fernliegend
erscheinen dürfte. Bestände z. B. die Bereicherung in der „Emancipation der
Vierteltöne“, wovon eine moderne Schriftstellerin schon Andeutungen bei
Chopin
finden will, 47 so würde Theorie, Compositionslehre und Aesthetik
der Musik eine total
[167] andere. Der
musikalische Theoretiker kann daher gegenwärtig den Ausblick auf diese Zukunft noch
kaum anders frei lassen, als durch die einfache Anerkennung ihrer Möglichkeit.
6.12Unserem Ausspruch, es gebe keine Musik in die
Natur, wird man den Reichthum mannigfaltiger Stimmen einwenden, welche die Natur so
wunderbar beleben. Sollte das Rieseln des Baches, das Klatschen der Meereswellen,
der
Donner der Lawinen, das Stürmen der Windsbraut nicht Anlaß und Vorbild der
menschlichen Musik gewesen sein? Hatten all die lispelnden, pfeifenden, schmetternden
Laute mit unserem Musikwesen nichts zu schaffen? Wir müssen in der That mit Nein
antworten. Alle diese Aeußerungen der Natur sind lediglich Schall und
Klang, d. h. in ungleichen Zeittheilen aufeinander folgende
Luftschwingungen. Höchst selten und dann nur isolirt bringt die Natur einen
Ton hervor, d. i. einen Klang von bestimmter, meßbarer Höhe und
Tiefe. Töne sind aber die Grundbedingungen aller Musik. Mögen diese Klangäußerungen
der Natur noch so mächtig oder reizend das Gemüth anregen, sie sind keine Stufe zur
menschlichen Musik, sondern lediglich elementarische Andeutungen einer solchen,
welche allerdings später für die ausgebildete menschliche Musik oft sehr kräftige
Anregungen bieten. Selbst die reinste Er
[168] scheinung des
natürlichen Tonlebens, der Vogelgesang, steht zur menschlichen Musik in keinem Bezug,
da er unserer Scala nicht angepaßt werden kann. Auch das Phänomen der Naturharmonie,
jedenfalls die einzige und unumstößliche Naturgrundlage, auf welcher die
Hauptverhältnisse unserer Musik beruhen, – ist auf seine richtige Bedeutung
zurückzuführen. Die harmonische Progression erzeugt sich auf der gleichbesaiteten
Aeolsharfe von selbst, gründet also auf einem Naturgesetz, allein das Phänomen selbst
hört man nirgend von der Natur unmittelbar erzeugt. Sobald nicht auf einem
musikalischen Instrument ein bestimmter, meßbarer Grundton angeschlagen wird,
erscheinen auch keine sympathischen Nebentöne, keine harmonische Progression. Der
Mensch muß also fragen, damit die Natur Antwort gebe. Die Erscheinung des Echo
erklärt sich noch einfacher. Es ist merkwürdig, wie selbst tüchtige Schriftsteller
sich von dem Gedanken einer eigentlichen „Musik“ in der Natur nicht losmachen können.
Selbst
Hand
, von dem wir absichtlich früher Beispiele citirten, welche seine richtige
Einsicht in das incommensurable, kunstunfähige Wesen der natürlichen
Schallerscheinungen darthun, bringt ein eigenes Kapitel
„von der Musik der Natur“
, deren Schallerscheinungen
„gewissermaßen“
auch Musik genannt werden müssen. Eben so
[169]
Krüger.
48 Wo es sich aber um
Principienfragen handelt, da giebt es kein „gewissermaßen“; was wir in der Natur
vernehmen, ist entweder Musik, oder es ist keine Musik. Das
entscheidende Moment kann nur in die Meßbarkeit des Tons gelegt werden.
Hand
legt den Nachdruck überall auf die
„geistige Beseelung“
,
„den Ausdruck inneren Lebens, innerer Empfindung“
,
„die Kraft der Selbstthätigkeit, wodurch unmittelbar ein Inneres zur
Aussprache gelangt.“
Nach diesem Princip müßte der Vogelsang Musik genannt werden, die mechanische
Spieluhr hingegen nicht; während gerade das Entgegengesetzte wahr ist.
6.13Die „Musik“ der Natur und die Tonkunst des Menschen sind zwei verschiedene Gebiete. Der Uebergang von der ersten zur zweiten geht durch die Mathematik. Ein wichtiger, folgenreicher Satz. Freilich darf man ihn nicht so denken, als hätte der Mensch seine Töne durch absichtlich angestellte Berechnungen geordnet; es geschah dies vielmehr durch unbewußte Anwendung ursprünglicher Größen- und Verhältnißvorstellungen, durch ein verborgenes Messen und Zählen, dessen Gesetzmäßigkeit erst später die Wissenschaft constatirte.
[170]
6.14Dadurch, daß in der Musik Alles commensurabel sein muß, in den Naturlauten aber nichts commensurabel ist, stehen diese beiden Schallreiche fast unvermittelt neben einander. Die Natur giebt uns nicht das künstlerische Material eines fertigen, vorgebildeten Tonsystems, sondern nur den rohen Stoff der Körper, die wir der Musik dienstbar machen. Nicht die Stimmen der Thiere, sondern ihre Gedärme sind uns wichtig, und das Thier, dem die Musik am meisten verdankt, ist nicht die Nachtigall, sondern das Schaf.
6.15Nach dieser Untersuchung, welche für das Verhältniß des Musikalisch-Schönen nur ein Unterbau, aber ein nothwendiger war, heben wir uns eine Stufe höher, auf ästhetisches Gebiet.
6.16Der meßbare Ton und das geordnete Tonsystem sind erst, womit der Componist schafft, nicht was er schafft. Wie Holz und Erz nur „Stoff“ waren für den Ton, so ist der Ton nur „Stoff“ (Material) für die Musik. Es giebt noch eine dritte und höhere Bedeutung von „Stoff“: Stoff im Sinne des behandelten Gegenstandes, der dargestellten Idee, des Sujets. Woher nimmt der Componist diesen Stoff? Woher erwächst einer bestimmten Tondichtung der Inhalt, der Gegenstand, welcher sie als Individuum hinstellt und von andern unterscheidet?
6.17Die Poesie, die Malerei,
die Sculp
[171]
tur haben ihren unerschöpflichen Quell von Stoffen in der uns umgebenden
Natur. Der Künstler findet sich durch irgend ein Naturschönes angeregt,
es wird ihm Stoff zu eigner Hervorbringung.
6.18In den bildenden Künsten ist das Vorschaffen der Natur am auffallendsten. Der Maler könnte keinen Baum, keine Blume zeichnen, wenn sie nicht schon in der äußeren Natur vorgebildet wären; der Bildhauer keine Statue, ohne die wirkliche Menschengestalt zu kennen und zum Muster zu nehmen. Dasselbe gilt von erfundenen Stoffen. Sie können nie im strengen Sinn „erfunden“ sein. Besteht nicht die „ideale“ Landschaft aus Felsen, Bäumen, Wasser und Wolkenzügen, lauter Dingen, die in der Natur vorgebildet sind? Der Maler kann nichts malen, was er nicht gesehen und genau beobachtet hat. Gleichviel ob er eine Landschaft malt oder ein Genrebild, ein Historiengemälde erfindet. Wenn uns Zeitgenossen einen „Huß“, „Luther“, „Egmont“ malen, so haben sie ihren Gegenstand nie wirklich gesehen aber für jeden Bestandtheil desselben müssen sie das Vorbild genau der Natur entnommen haben. Der Maler muß nicht diesen Mann, aber er muß viele Männer gesehen haben, wie sie sich bewegen, stehen, gehen, beleuchtet werden, Schatten werfen; der gröbste Vorwurf wäre gewiß die Unmöglichkeit oder Naturwidrigkeit seiner Figuren.
[172]
6.19Dasselbe gilt von der Dichtkunst, welche ein noch weit größeres Feld naturschöner Vorbilder hat. Die Menschen und ihre Handlungen, Gefühle, Schicksale, wie sie uns durch eigene Wahrnehmungen oder durch Tradition – denn auch diese gehört zu dem Vorgefundenen, dem Dichter Dargebotenen – gebracht werden, sind Stoff für das Gedicht, die Tragödie, den Roman. Der Dichter kann keinen Sonnenaufgang, kein Schneefeld beschreiben, keinen Gefühlszustand schildern, keinen Bauer, Soldaten, Geizigen, Verliebten auf die Bühne bringen, wenn er nicht die Vorbilder dazu in der Natur gesehen und studirt oder durch richtige Traditionen so in seiner Phantasie belebt hat, daß sie die unmittelbare Anschauung ersetzen.
6.20Stellen wir nun diesen Künsten die Musik entgegen, so erkennen wir, daß sie ein Vorbild, einen Stoff für ihre Werke nirgend vorfindet.
6.21 Es giebt kein Naturschönes für die Musik.
6.22Diesen Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten (nur die Baukunst findet gleichfalls kein Vorbild in der Natur) ist tiefgehend und folgenschwer.
6.23Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein
stetes (inneres oder wirkliches) Nachzeichnen, Nachformen, – etwas
nachzumusiciren giebt
[173] es in der Natur
nicht. Die Natur kennt keine Sonate, keine Ouvertüre, kein Rondo. Wohl aber
Landschaften, Genrebilder, Idyllen, Trauerspiele. Der aristotelische Satz von der Naturnachahmung in der
Kunst, welcher noch bei den Philosophen des vorigen Jahrhunderts gang und gäbe war,
ist längst berichtigt und bedarf, bis zum Ueberdruß abgedroschen, hier keiner
weiteren Erörterung. Nicht sklavisch nachbilden soll die Kunst die Natur, sie hat
sie
umzubilden. Der Ausdruck zeigt schon, daß vor der Kunst
etwas da sein mußte, was umgebildet wird. Dies ist eben das von der Natur dargebotene
Vorbild, das Naturschöne. Der Maler findet sich von einer reizenden Landschaft, einer
Gruppe, einem Gedicht, der Dichter von einer historischen Begebenheit, einem
Erlebniß, zur künstlichen Darstellung des Vorgefundenen veranlaßt. Bei welcher
Naturbetrachtung könnte aber der Tonsetzer jemals ausrufen: das ist ein
prächtiges Vorbild für eine Ouvertüre, eine Symphonie! Der Componist kann gar nichts
umbilden, er muß Alles neu erschaffen. Was der Maler,
der Dichter in Betrachtung des Naturschönen findet, das muß der Componist durch
Concentration seines Innern herausarbeiten. Er muß der guten Stunde warten, wo es
in
ihm anfängt zu singen und zu klingen: da wird er sich versenken und aus sich
[174]
heraus etwas schaffen, was in der Natur nicht seines Gleichen hat und daher auch,
ungleich den andern Künsten, geradezu nicht von dieser Welt ist.
6.24Es unterliegt keineswegs eine parteiische Begriffsbestimmung, wenn wir zu dem „Naturschönen“ für den Maler und Dichter den Menschen hinzurechneten, für den Musiker hingegen den kunstvoll aus der Menschenbrust quellenden Gesang verschwiegen. Der singende Hirt ist nicht Object, sondern schon Subject der Kunst. Besteht sein Lied aus meßbaren, geordneten, wenn noch so einfachen Tonfolgen, so istʼs ein Product des Menschengeistes, ob es nun ein Hirtenjunge erfunden hat oder Beethoven.
6.25Wenn daher ein Componist wirkliche Nationalmelodien
benützt, so ist dies kein Naturschönes, denn man muß bis zu Einem zurückgehen, der
sie erfunden hat, – woher hatte sie dieser? Fand er ein Vorbild dafür in
der Natur? Dies ist die berechtigte Frage. Die Antwort kann nur verneinend lauten.
Der Volksgesang ist kein Vorgefundenes, kein Naturschönes, sondern die erste Stufe
wirklicher Kunst, naive Kunst. Er ist für die Tonkunst ebensowenig ein
von der Natur erzeugtes Vorbild, wie die mit Kohle an Wachtstuben und Schuttböden
geschmierten Blumen und Soldaten natürliche Vorbilder für die Malerei sind. Beides
ist menschliches Kunstpro
[175] dukt. Für die
Kohlenfiguren lassen die Vorbilder in der Natur sich nachweisen, für den Volksgesang
nicht; man kann nicht hinter ihn zurückgehen.
6.26Zu einer sehr gangbaren Verwirrung gelangt man,
wenn man den Begriff des „Stoffs“ für die Musik in einem angewandten, höheren Sinne
nimmt und darauf hinweist, daß Beethoven wirklich eine Ouvertüre zu Egmont, – oder damit das Wörtchen „zu“ nicht an
dramatische Zwecke mahne, – eine Musik „Egmont“ geschrieben hat, Berlioz einen „König Lear“,Mendelssohn eine „Melusina“. Haben diese Erzählungen, fragt man, dem
Tondichter nicht ebenso den Stoff geliefert, wie dem Dichter? Keineswegs. Dem Dichter
sind diese Gestalten wirkliches Vorbild, das er umbildet, dem Componisten bieten sie
blos Anregung, und zwar poetische Anregung. Das Naturschöne
für den Tondichter müßte ein Hörbares sein, wie es für den Maler ein
Sichtbares, für den Bildhauer ein Greifbares ist. Nicht die Gestalt Egmontʼs, nicht seine
Thaten, Erlebnisse, Gesinnungen sind Inhalt der Beethovenʼschen Ouvertüre,
wie dies im Bilde „Egmont“, im Drama „Egmont“ der Fall ist. Der
Inhalt der Ouvertüre sind Tonreihen, welche der Componist vollkommen
frei nach musikalischen Denkgesetzen aus sich erschuf. Sie sind
[176] für die
ästhetische Betrachtung ganz unabhängig und selbstständig von der Vorstellung „Egmont“, mit
welcher sie lediglich die poetische Phantasie des Tonsetzers in Zusammenhang gebracht
hat, sei es daß diese Vorstellung auf eine unerforschliche Weise den Keim zur
Erfindung jener Tonreihen gelegt hat, sei es, daß er diese nachträglich seinem
Vorwurf entsprechend fand. Dieser Zusammenhang ist so lose und willkürlich, daß
niemals ein Hörer des Musikstückes auf dessen angeblichen Gegenstand verfallen würde,
wenn nicht der Autor durch die ausdrückliche Benennung unserer Phantasie
im vorhinein die bestimmte Richtung octroyirte.
Berliozʼ
großartige Ouvertüre hängt an und
für sich mit der Vorstellung „König Lear“ ebenso wenig zusammen, als
ein Straußʼscher Walzer. Man kann das nicht scharf genug aussprechen, da hierüber
die irrigsten Ansichten allgemein sind. Erst mit dem Augenblick erscheint der Straußʼsche
Walzer der Vorstellung „König Lear“ widerstrebend, die Berliozʼsche
Ouvertüre hingegen entsprechend, wo wir diese Musiken mit jener Vorstellung
vergleichen. Allein eben zu dieser Vergleichung existirt kein innerer
Anlaß, sondern nur eine ausdrückliche Nöthigung vom Autor. Durch eine bestimmte
Ueberschrift werden wir zur Vergleichung des Musikstückes mit einem außer ihm
stehenden Object genöthigt, wir müs
[177] sen es mit
einem bestimmten Maßstab messen, welcher nicht der musikalische ist.
6.27Man darf dann vielleicht sagen, Beethovenʼs Ouvertüre „Prometheus“ sei zu wenig großartig für diesen Vorwurf. Allein nirgend kann man ihr von Innen her beikommen, nirgend ihr eine musikalische Lücke oder Mangelhaftigkeit nachweisen. Sie ist vollkommen, weil sie ihren musikalischen Inhalt vollständig ausführt; ihr dichterisches Thema analog auszuführen ist eine zweite, ganz verschiedene Forderung. Diese entsteht und verschwindet mit dem Titel. Ueberdies kann ein solcher Anspruch an ein Tonwerk mit bestimmter Ueberschrift nur auf gewisse charakteristische Eigenschaften lauten: daß die Musik erhaben oder niedlich, düster oder froh klinge, von einfacher Exposition zu betrübtem oder freudigem Abschluß sich entwickle u. s. w. An die Dichtkunst oder Malerei stellt der Stoff die Forderung einer bestimmten concreten Individualität, nicht bloßer Eigenschaften. Darum wäre es recht wohl denkbar, daß Beethovenʼs Ouvertüre zu „Egmont“ ebenfalls „Wilhelm Tell“ oder „Jeanne dʼArc“ überschrieben sein könnte. Das Drama Egmont, das Bild Egmont lassen höchstens die Verwechslung zu, daß dies ein anderes Individuum in den gleichen Verhältnissen, nicht aber, daß es ganz andere Verhältnisse sind.
[178]
6.28Man sieht, wie eng das Verhältniß der Musik zum Naturschönen mit der ganzen Frage von ihrem Inhalt zusammenhängt.
6.29Noch einen Einwand wird man aus der musikalischen
Literatur herholen, um der Musik ein Naturschönes zu vindiciren. Beispiele nämlich,
daß Tonsetzer aus der Natur nicht blos den poetischen Anlaß geschöpft (wie in obigen
Historien), sondern wirklich hörbare Aeußerungen ihres Tonlebens nachgebildet haben:
der Hahnenruf in
Haydnʼs
Jahreszeiten, Kuckuk, Nachtigall und
Wachtelschlag in
Spohrʼs „Weihe der Töne“
und in
Beethovenʼs
Pastoralsymphonie. Allein wenn wir gleich
diese Nachahmung hören und in einem musikalischen Kunstwerk
hören, so haben sie doch darin keine musikalische Bedeutung, sondern eine poetische.
Es soll uns der Hahnenschrei alsdann nicht als schöne Musik, oder
überhaupt als Musik vorgeführt, sondern nur der Eindruck zurückgerufen werden,
welcher mit jener Naturerscheinung zusammenhängt.
„Ich habe Haydn’s Schöpfung – gesehen beinahe“
, schreibt Jean Paul
nach einer Aufführung dieses Tonwerks an
Thieriot
. Allgemein bekannte Stichwörter, Citate sind es, welche uns erinnern: es ist
früher Morgen, laue Sommernacht, Frühling. Ohne diese bloß beschreibende Tendenz hat
nie ein Componist Naturstimmen direkt zu wirklichen mu
[179] sikalischen
Zwecken verwenden können. Ein Thema können alle Naturstimmen der Erde
zusammen nicht hervorbringen, eben weil sie keine Musik sind, und
bedeutungsvoll erscheint es, daß die Tonkunst von der Natur nur Gebrauch machen kann,
wenn sie in die Malerei pfuscht. 49
[180]
7.1 Hat die Musik einen Inhalt?
7.2So lautet, seit man gewohnt ist, über unsere Kunst
nachzudenken, ihre hitzigste Streitfrage. Sie wurde für und wider entschieden.
Gewichtige Stimmen behaupten die Inhaltlosigkeit der Musik, sie gehören beinahe
durchaus den Philosophen:
Rousseau
,
Kant
,
Hegel
,
Herbart
,50
Kahlert
u. A. Von den zahlreichen Physiologen, welche diese Ueberzeugung
unterstützen, sind uns die durch musikalische Bildung
[181] hervorragenden
Denker
Lotze
und Helmholtz die wichtigsten. Die ungleich zahlreicheren Kämpfer fechten für
den Inhalt der Tonkunst; es sind die eigentlichen Musiker
unter den Schriftstellern, und das Gros der allgemeinen Ueberzeugung steht zu
ihnen.
7.3Fast mag es seltsam erscheinen, daß gerade
Diejenigen, welchen die technischen Bestimmungen der Musik vertraut sind, sich nicht
von dem Irrthum einer diesen Bedingungen widersprechenden Ansicht lossagen mögen,
die
man eher den abstracten Philosophen verzeihen könnte. Das kommt daher, weil es vielen
Musikschriftstellern in diesem Punkt mehr um die vermeintliche Ehre ihrer Kunst, als
um die Wahrheit zu thun ist. Sie befehden die Lehre von der Inhaltlosigkeit der Musik
nicht wie Meinung gegen Meinung, sondern wie Ketzerei gegen Dogma. Die gegnerische
Ansicht erscheint ihnen als unwürdiges Mißverstehen, als grober frevelnder
Materialismus. „Wie, die Kunst, die uns hoch erhebt und begeistert, der so viele edle
Geister ihr Leben gewidmet, die den höchsten Ideen dienstbar werden kann, sie sollte
mit dem Fluch der Inhaltlosigkeit beladen sein, bloßes Spielwerk der Sinne, leeres
Geklingel!?“ Mit derlei vielgehörten Ausrufungen, wie sie meist koppelweise
losgelassen werden, obwohl ein Satz zum andern nicht gehört, wird nichts
[182]
widerlegt noch bewiesen. Es handelt sich hier um keinen Ehrenpunkt, kein
Parteizeichen, sondern einfach um die Erkenntniß des Wahren, und zu dieser zu
gelangen, muß man sich vor Allem über die Begriffe klar sein die man bestreitet.
7.4Die Verwechslung der Begriffe: Inhalt,
Gegenstand,Stoff ist es, was in der Materie so viel
Unklarheit verursacht hat und noch immer veranlaßt, da jeder für denselben Begriff
eine andere Bezeichnung gebraucht, oder mit dem gleichen Wort verschiedene
Vorstellungen verbindet. „Inhalt“ im ursprünglichen und eigentlichen
Sinne ist: was ein Ding enthält, in sich hält. In dieser Bedeutung sind
die Töne, aus welchen ein Musikstück besteht, welche als dessen Theile
es zum Ganzen bilden, der Inhalt desselben. Daß sich mit dieser Antwort Niemand
zufrieden stellen mag, sie als etwas ganz Selbstverständliches abfertigend, hat
seinen Grund darin, daß man gemeiniglich „Inhalt“ mit „Gegenstand“ verwechselt. Bei
der Frage nach dem „Inhalt“ der Musik hat man die Vorstellung von
„Gegenstand“ (Stoff, Sujet) im Sinne, welchen man als die Idee, das
Ideale, den Tönen als „materiellen Bestandtheilen“ geradezu entgegensetzt. Einen
Inhalt in dieser Bedeutung, einen Stoff im Sinne des behandelten
Gegenstandes hat die Tonkunst in der That nicht.
Kahlert
stützt sich
[183] mit Recht
nachdrücklich darauf, daß sich von der Musik nicht, wie vom Gemälde, eine
„Wortbeschreibung“
liefern läßt (Aesth. 380), wenngleich seine weitere Annahme irrig ist, daß solche
Wortbeschreibung jemals eine
„Abhülfe für den fehlenden Kunstgenuß“
bieten könne. Aber eine erklärende Verständigung, um was es sich handelt, kann
sie bieten. Die Frage nach dem „Was“ des musikalischen Inhaltes müßte sich nothwendig
in Worten beantworten lassen, wenn das Musikstück wirklich einen „Inhalt“ (einen
Gegenstand) hätte. Denn ein „unbestimmter Inhalt“, den sich Jedermann
als etwas Anderes denken kann, der sich nur fühlen, nicht in Worten wiedergeben läßt,
ist eben kein Inhalt in der genannten Bedeutung.
7.5Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, diese haben keinen andern Inhalt als sich selbst. Sie erinnern abermals an die Baukunst und den Tanz, die uns gleichfalls schöne Verhältnisse ohne bestimmten Inhalt entgegenbringen. Mag nun die Wirkung eines Tonstücks Jeder nach seiner Individualität anschlagen und benennen, der Inhalt desselben ist keiner, als eben die gehörten Tonformen, denn die Musik spricht nicht blos durch Töne, sie spricht auch nur Töne.
7.6
Krüger
, wohl der kenntnißreichste Verfechter des musikalischen „Inhalts“ gegen Hegel
[184] und
Kahlert,
behauptet, die Musik gebe blos eine andere Seite desselben Inhalts,
welcher den übrigen Künsten, z. B. der Malerei zusteht.
„Jede plastische Gestalt,“
sagt er (Beiträge, 131),
„ist eine ruhende: sie giebt nicht die Handlung, sondern die gewesene
Handlung oder das Seiende. Also nicht: Apollo überwindet, sagt das Gemälde aus, sondern es zeigt den
Ueberwinder, den zornigen Kämpfer“
etc. Hingegen
„die Musik giebt zu jenen stillstehenden plastischen Substantiven das
Verbum, die Thätigkeit, das innere Wogen hinzu, und wenn wir dort als den
wahren ruhenden Inhalt erkannt haben: Zürnend, Liebend, so erkennen wir hier
nicht minder den wahren bewegenden Inhalt: „Zürnt, Liebt, Rauscht, Wogt,
Stürmt.“
Letzteres ist nur zur Hälfte richtig: „rauschen, wogen und stürmen“ kann die
Musik, aber „zürnen“ und „lieben“ kann sie nicht. Das sind schon hineingefühlte
Leidenschaften. Wir müssen hier auf unser zweites Kapitel zurückweisen.
Krüger
fährt fort, der Bestimmtheit des gemalten Inhalts die des
musicirten an die Seite zu stellen. Er sagt:
„Der Bildner stellt Orest von Furien verfolgt
dar: es erscheint auf der Außenfläche seines Leibes, in Auge, Mund, Stirn und
Haltung der Ausdruck des Flüchtigen, Düstern, Verzweifelten, neben ihm die
Gestalten des Fluchs, die ihn beherrschen, in gebietender, furchtbarer
[185]
Hoheit, ebenfalls äußerlich in verharrenden Umrissen, Gesichtszügen,
Stellungen. Der Tondichter stellt Orest den Verfolgten nicht im beruhenden Umriß hin, sondern nach der
Seite, die dem Bildner fehlt: er singt das Grausen und Beben seiner Seele, die
fliehend kämpfende Regung“
u. s. f. Dies ist meines Erachtens ganz falsch. Der Tonkünstler kann den
Orestes weder so noch so, er kann ihn
gar nicht darstellen.
7.7Man wende nicht ein, daß ja auch die bildenden
Künste uns die bestimmte, historische Person nicht zu geben vermögen, und wir die
gemalte Gestalt nicht als dieses Individuum erkennen würden, brächten
wir nicht die Kenntniß des Historisch-Thatsächlichen hinzu. Freilich ist es nicht
Orest
, der Mann mit diesen Erlebnissen und bestimmten biographischen
Momenten; diesen kann nur der Dichter darstellen, weil nur er zu
erzählen vermag. Allein das Bild „Orest“
zeigt uns doch unverkennbar einen Jüngling mit edlen Zügen, in griechischem Gewand, Angst und Seelenpein in den
Mienen und Bewegungen, es zeigt uns die furchtbaren Gestalten der Rachegöttinnen,
ihn
verfolgend und quälend. Dies Alles ist klar, unzweifelhaft, sichtlich erzählbar –
ob
nun der Mann Orest heiße oder anders. Nur die Motive: daß der Jüngling
einen Muttermord begangen u. s. w., sind nicht ausdrückbar. Was
[186] kann die
Tonkunst jenem sichtbaren (vom Historischen abstrahirten) Inhalt des Gemäldes an
Bestimmtheit entgegensetzen? Verminderte Septimaccorde, Mollthemen, wogende Bässe
u. dgl., kurz musikalische Formen, welche eben so gut ein Weib, anstatt eines
Jünglings, einen von Häschern anstatt von Furien Verfolgten, einen Eifersüchtigen,
Rachesinnenden, einen von körperlichem Schmerz Gequälten, kurz alles Erdenkliche
bedeuten können, wenn man schon das Tonstück etwas will bedeuten lassen.
7.8Es bedarf wohl auch nicht der ausdrücklichen Berufung auf den früher begründeten Satz, daß, wenn vom Inhalt und der Darstellungsfähigkeit der Tonkunst die Rede ist, nur von der reinen Instrumentalmusik ausgegangen werden darf. Niemand wird dies so weit vergessen, uns z. B. den Orestes in Gluckʼs „Iphigenia“ einzuwenden. Diesen „Orestes“ giebt ja nicht der Componist: die Worte des Dichters, Gestalt und Mimik des Darstellers, Costüm und Decorationen des Malers – dies istʼs, was den Orestes fertig hinstellt. Was der Musiker hinzugiebt, ist vielleicht das Schönste von Allem, aber es ist gerade das Einzige, was nichts mit dem wirklichen Orest zu schaffen hat: Gesang.
7.9
Lessing
hat mit wunderbarer Klarheit auseinandergesetzt, was der Dichter und was der
[187]
bildende Künstler aus der Geschichte des Laokoon zu machen vermag. Der
Dichter, durch das Mittel der Sprache, giebt den historischen, individuell bestimmten
Laokoon, der Maler und Bildhauer hingegen einen Greis mit
zwei Knaben (von diesem bestimmten Alter, Aussehen, Costüm u. s. f.) von
den furchtbaren Schlangen umwunden, in Mienen, Stellung und Geberden die Qual des
nahenden Todes ausdrückend. Vom Musiker sagt Lessing nichts. Ganz
begreiflich, denn Nichts ist es eben, was dieser aus dem Laokoon
machen kann.
7.10Wir haben bereits angedeutet, wie eng die Frage nach dem Inhalt der Tonkunst mit deren Stellung zum Naturschönen zusammenhängt. Der Musiker findet nicht das Vorbild für seine Kunst, welches den andern Künsten die Bestimmtheit und Erkennbarkeit ihres Inhalts gewährleistet. Eine Kunst, der das vorbildende Naturschöne abgeht, wird im eigentlichen Sinne körperlos sein. Das Urbild ihrer Erscheinungsform begegnet uns nirgend, fehlt daher in dem Kreis unserer gesammelten Begriffe. Es wiederholt keinen bereits bekannten, benannten Gegenstand, darum hat es für unser in bestimmte Begriffe gefaßtes Denken keinen nennbaren Inhalt.
7.11Vom Inhalt eines Kunstwerkes kann
eigentlich nur da die Rede sein, wo man diesen Inhalt
[188] einer
Form entgegenhält. Die Begriffe „Inhalt“ und „Form“ bedingen und
ergänzen einander. Wo nicht eine Form von einem Inhalt dem Denken trennbar erscheint,
da existirt auch kein selbstständiger Inhalt. In der Musik aber sehen wir Inhalt und
Form, Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit
verschmolzen. Dieser Eigenthümlichkeit der Tonkunst, Form und Inhalt ungetrennt zu
besitzen, stehen die dichtenden und bildenden Künste schroff gegenüber, welche
denselben Gedanken, dasselbe Ereigniß in verschiedener Form darstellen können. Aus
der Geschichte des Wilhelm Tell machte
Florian
einen historischen Roman,
Schiller
ein Drama,
Goethe
begann sie als Epos zu bearbeiten. Der Inhalt ist überall derselbe, in Prosa
aufzulösende, erzählbare, erkennbare, die Form ist verschieden. Die dem Meer
entsteigende Aphrodite ist der gleiche Inhalt unzähliger gemalter und
gemeißelter Kunstwerke, die durch die verschiedene Form nicht zu verwechseln sind.
Bei der Tonkunst giebt es keinen Inhalt gegenüber der Form, weil sie keine Form hat
außerhalb des Inhalts. Betrachten wir dies näher.
7.12Die selbstständige, ästhetisch nicht weiter
theilbare, musikalische Gedankeneinheit ist in jeder Composition das
Thema. Die primitiven Bestimmungen, die man der Musik
als solcher
[189] zuschreibt,
müssen sich immer am Thema, dem musikalischen Mikrokosmus, nachweisbar
finden. Hören wir irgend ein Hauptthema, z. B. zu Beethovenʼs B-dur-Symphonie. Was ist dessen Inhalt? Was seine
Form? Wo fängt diese an, wo hört jener auf? Daß ein bestimmtes Gefühl nicht Inhalt
des Satzes sei, hoffen wir dargethan zu haben, und wird in diesem wie in jedem andern
concreten Fall nur immer einleuchtender erscheinen. Was also will man den
Inhalt nennen? Die Töne selbst? Gewiß; allein sie sind eben schon
geformt. Was die Form? Wieder die Töne selbst, – sie aber sind schon
erfüllte Form.
7.13Jeder praktische Versuch, in einem Thema Form von
Inhalt trennen zu wollen, führt auf Widerspruch oder Willkür. Zum Beispiel: wechselt
ein Motiv, das von einem andern Instrument, oder einer höheren Octave wiederholt
wird, seinen Inhalt oder seine Form? Behauptet man, wie zumeist geschieht, das
Letztere, so bliebe als Inhalt des Motivs blos die Intervallenreihe als
solche, als Schema der Notenköpfe, wie sie in der Partitur dem Auge sich darstellt.
Dies ist aber keine musikalische Bestimmtheit, sondern ein Abstractum.
Es verhält sich damit, wie mit den gefärbten Glasfenstern eines Pavillons, durch
welche man dieselbe Gegend roth, blau, gelb
[190] erblicken kann.
Diese ändert hierdurch weder ihren Inhalt, noch ihre Form,
sondern lediglich die Färbung. Solch zahlloser Farbenwechsel derselben
Formen vom grellsten Contrast bis zur feinsten Schattirung ist der Musik ganz
eigenthümlich und macht eine der reichsten und ausgebildetsten Seiten ihrer
Wirksamkeit aus.
7.14Eine für Clavier entworfene Melodie, die ein Zweiter später instrumentirt, bekommt durch ihn ebenfalls eine neue Form, aber nicht erst Form; sie ist schon geformter Gedanke. Noch weniger wird man behaupten wollen, ein Thema ändere durch Transposition seinen Inhalt und behalte die Form, da sich bei dieser Ansicht die Widersprüche verdoppeln und der Hörer augenblicklich erwidern muß, er erkenne einen ihm bekannten Inhalt, nur „klinge er verändert.“
7.15Bei ganzen Compositionen, namentlich größerer
Ausdehnung, pflegt man freilich von deren Form und Inhalt zu sprechen. Dann gebraucht
man aber diese Begriffe nicht in ihrem ursprünglichen logischen Sinne, sondern schon
in einer specifisch musikalischen Bedeutung. Die „Form“ einer Symphonie,
Ouvertüre, Sonate, Arie, eines Chors etc. nennt man die Architektonik der verbundenen
Einzeltheile und Gruppen, aus welchen das Tonstück besteht, näher also: die Symmetrie
dieser Theile in ihrer Reihenfolge, Contrastirung,
[191] Wiederkehr und
Durchführung. Als den Inhalt begreift man aber dann die zu solcher Architektonik
verarbeiteten Themen. Hier ist also von einem Inhalt als „Gegenstand“
keine Rede mehr, sondern lediglich von einem musikalischen. Bei ganzen Tonstücken
wird daher „Inhalt“ und „Form“ in einer künstlerisch angewandten, nicht in der rein
logischen Bedeutung gebraucht; wollen wir diese an den Begriff der Musik
legen, so müssen wir nicht an einem ganzen, daher zusammengesetzten Kunstwerk
operiren, sondern an dessen letztem, ästhetisch nicht weiter theilbarem Kerne. Dies
ist das Thema, oder die Themen. Bei diesen läßt sich in gar keinem Sinne
Form und Inhalt trennen. Will man Jemand den „Inhalt“ eines Motivs namhaft machen,
so
muß man ihm das Motiv selbst vorspielen. So kann also der Inhalt eines
Tonwerks niemals gegenständlich, sondern nur musikalisch aufgefaßt werden, nämlich
als das in jedem Musikstück concret Erklingende. Da die Composition formellen
Schönheitsgesetzen folgt, so improvisirt sich ihr Verlauf nicht in willkürlich
planlosem Schweifen, sondern entwickelt sich in organisch übersichtlicher
Allmäligkeit wie reiche Blüthen aus Einer Knospe.
7.16Dies ist das Hauptthema, – der wahre
Stoff und Inhalt (Gegenstand) des ganzen Tongebildes. Alles darin ist freie Folge
und
Wirkung
[192] des Themas,
durch dieses bedingt und gestaltet, von ihm beherrscht und erfüllt. Es ist das
selbstständige Axiom, das zwar augenblicklich befriedigt, aber von unserm Geist
bestritten und entwickelt gesehen werden will, was denn in der musikalischen
Durchführung, analog einer logischen Entwicklung stattfindet. Wie die Hauptfigur
eines Romans bringt der Componist das Thema in die verschiedensten Lagen und
Umgebungen, in die wechselndsten Erfolge und Stimmungen, – alles Andere, wenn noch
so
contrastirend, ist in Bezug darauf gedacht und gestaltet.
7.17 Inhaltlos werden wir demnach etwa jenes freieste Präludiren nennen, bei welchem der Spieler, mehr ausruhend als schaffend, sich blos in Accorden, Arpeggioʼs, Rosalien ergeht, ohne eine selbstständige Tongestalt bestimmt hervortreten zu lassen. Solch freie Präludien werden als Individuen nicht erkennbar oder unterscheidbar sein, wir werden sagen dürfen, sie haben (im weiteren Sinne) keinen Inhalt, weil kein Thema.
7.18Das Thema resp. die Themen eines Tonstückes sind also sein wesentlicher Inhalt.
7.19In Aesthetik und Kritik wird auf das
Hauptthema einer Composition lange nicht das gehörige Gewicht gelegt.
Das Thema allein offenbart schon den Geist, der das ganze Werk geschaffen. Wenn ein
Beethoven
die Ouvertüre zur „Leonore“
[193] so anfängt,
oder ein Mendelssohn die Ouvertüre zur „Fingalshöhle“ so, da muß jeder Musiker, ohne von der weiteren Durchführung
noch eine Note zu wissen, erkennen, vor welchem Palast er steht. Klingt uns aber ein
Thema entgegen, wie das zur Fausta-Ouvertüre von Donizetti, oder „Louise Miller“ von Verdi, so bedarf es
ebenfalls keines weiteren Eindringens in das Innere, um uns zu überzeugen, daß wir
in
der Kneipe sind. In Deutschland legt
Theorie und Praxis einen überwiegenden Werth auf die musikalische Durchführung
gegenüber dem thematischen Gehalt. Was aber nicht (offenkundig oder versteckt) im
Thema ruht, kann später nicht organisch entwickelt werden, und weniger vielleicht
in
der Kunst der Entwickelung, als in der symphonischen Kraft und Fruchtbarkeit der
Themen liegt es, daß unsere Zeit keine Beethovenʼschen
Orchesterwerke mehr aufweist.
7.20Bei der Frage nach dem Inhalt der
Tonkunst muß man sich insbesondere hüten, das Wort in lobender Bedeutung zu nehmen.
Daraus, daß die Musik keinen Inhalt (Gegenstand) hat, folgt nicht, daß sie des
Gehalts entbehre. „Geistigen Gehalt“ meinen offenbar Diejenigen,
welche mit dem Eifer einer Partei für den „Inhalt“ der Musik fechten. Wir müssen hier
auf das im 3. Kapitel
Gesagte verweisen. Die
[194] Musik ist ein
Spiel, aber keine Spielerei. Gedanken und Gefühle rinnen wie Blut in den Adern des
ebenmäßig schönen Tonkörpers; sie sind nicht er, sind auch nicht
sichtbar, aber sie beleben ihn. Der Componist dichtet
und denkt. Nur dichtet und denkt er, entrückt aller gegenständlichen
Realität, in Tönen. Muß doch diese Trivialität hier ausdrücklich
wiederholt sein, weil sie selbst von Denjenigen, die sie principiell anerkennen, in
den Consequenzen allzuhäufig verläugnet und verletzt wird. Sie denken sich das
Componiren als Uebersetzung eines gedachten Stoffs in Töne, während doch die Töne
selbst die unübersetzbare Ursprache sind. Daraus daß der Tondichter gezwungen ist,
in
Tönen zu denken, folgt ja schon die Inhaltlosigkeit der Tonkunst, indem jeder
begriffliche Inhalt in Worten müßte gedacht werden können.
7.21So strenge wir bei der Untersuchung des Inhalts alle Musik über gegebene Texte, als dem reinen Begriff der Tonkunst widersprechend, ausschließen mußten, so unentbehrlich sind die Meisterwerke der Vocalmusik bei der Würdigung des Gehaltes der Tonkunst. Vom einfachen Lied bis zur gestaltenreichen Oper und der altehrwürdigen Gottesfeier durch Kirchenmusik hat die Tonkunst nie aufgehört, die theuersten und wichtigsten Bewegungen des Menschengeistes zu begleiten und somit indirekt zu verherrlichen.
[195]
7.22Nebst der Vindication des geistigen Gehaltes muß noch eine zweite Consequenz nachdrücklich hervorgehoben werden. Die gegenstandlose Formschönheit der Musik hindert sie nicht, ihren Schöpfungen Individualität aufprägen zu können. Die Art der künstlerischen Bearbeitung, so wie die Erfindung gerade dieses Themas ist in jedem Fall eine so einzige, daß sie niemals in einer höheren Allgemeinheit zerfließen kann, sondern als Individuum dasteht. Ein Motiv von Mozart oder Beethoven ruht so fest und unvermischbar auf eigenen Füßen, wie ein Vers Goetheʼs, ein Ausspruch Lessingʼs, eine Statue Thorwaldsenʼs, ein Bild Overbeckʼs. Die selbstständigen musikalischen Gedanken (Themen) haben die Sicherheit eines Citats und die Anschaulichkeit eines Gemäldes; sie sind individuell, persönlich, ewig.
7.23Wenn wir daher schon
Hegelʼs Ansicht von der Gehaltlosigkeit der Tonkunst nicht theilen
können, so scheint es uns noch irrthümlicher, daß er dieser Kunst nur die Aussprache
des „individualitätslosen Innern“ zuweist. Selbst von
Hegelʼs musikalischem Standpunkt, welcher die wesentlich formende,
objective Thätigkeit des Componisten übersieht, die Musik rein als freie Entäußerung
der Subjectivität auffassend, folgt nicht die „Individualitätslosigkeit“
derselben,
[196] da ja der
subjectiv producirende Geist wesentlich individuell erscheint.
7.24Wie die Individualität sich in der Wahl und Bearbeitung der verschiedenen musikalischen Elemente ausprägt, haben wir im 3. Kapitel berührt. Gegenüber dem Vorwurf der Inhaltlosigkeit also hat die Musik Inhalt, allein musikalischen, welcher ein nicht geringerer Funke des göttlichen Feuers ist, als das Schöne jeder andern Kunst. Nur dadurch aber, daß man jeden andern „Inhalt“ der Tonkunst unerbittlich negirt, rettet man deren „Gehalt.“ Denn aus dem unbestimmten Gefühle, worauf sich jener Inhalt im besten Fall zurückführt, ist ihr eine geistige Bedeutung nicht abzuleiten, wohl aber aus der bestimmten schönen Tongestaltung als der freien Schöpfung des Geistes aus geistfähigem Material.