[V]
V1.1Daß die bisherige „Aesthetik der Tonkunst“ einer durchgängigen Revision bedarf, wird kaum von Kundigen geläugnet werden.
V1.2Die Grundsätze hinzustellen, die eine solche Revision in ihrer kritischen und construirenden Thätigkeit festzuhalten hätte, ist die Aufgabe dieser Schrift.
V1.3Völlig fern liegt mir hiebei der unter den musikalisch-ästhetischen Monographien beinahe epidemische Dünkel, es schlummere in diesen wenigen Bogen eine ganze Aesthetik der Tonkunst. Zu einer solchen, – selbst in dem beschränkteren Sinne, in welchem ich sie für möglich halte, – war vor der Hand weder die Absicht, noch die Kraft ausreichend.
V1.4Genug wenn es mir glückte, siegreiche Mauerbrecher
gegen die verrottete Gefühlsästhetik auf den Kampfplatz zu tragen und einige
Grundsteine für den künftigen Neubau bereit zu legen. Ueber die mir sehr wohl
bewußten Lücken meiner Darstellung muß ich mir
[VI] mit der
Hoffnung hinweghelfen, daß für die hier entwickelten Grundsätze noch ausführlicher
Rede zu stehen mir einst vergönnt sein werde.
V1.5Kann dieser Versuch dazu beitragen, Genuß und Erkenntniß des Schönen in der Tonkunst dem allein richtigen (d. i. ästhetischen) Boden näher zu bringen, so soll er damit manche ihm in Aussicht stehende Ungnade für mein Gefühl vollkommen wett gemacht haben.
Dr. Eduard Hanslick.
[1]
1.1Die Zeit jener ästhetischen Systeme ist vorüber, welche das Schöne nur in Bezug auf die dadurch wachgerufenen „Empfindungen“ betrachtet haben. Der Drang nach objectiver Erkenntniß der Dinge, soweit sie menschlicher Forschung vergönnt ist, mußte eine Methode stürzen, welche von der subjectiven Empfindung ausging, um nach einem Spaziergang über die Peripherie des untersuchten Phänomens wieder zur Empfindung zurückzugelangen. Kein Pfad führt ins Centrum der Dinge, allein jeder muß dahin gerichtet sein. Der Muth und die Fähigkeit, den Dingen selbst an den Leib zu rücken, zu untersuchen, was losgelöst von den tausendfältig wechselnden Eindrücken, die sie auf den Menschen üben, ihr Bleibendes, Objectives, wandellos Giltiges sei, – sie charakterisiren die moderne Wissenschaft in ihren verschiedensten Zweigen.
1.2Diese objective Richtung konnte nicht ermangeln, sich auch der Erforschung des Schönen alsbald mitzutheilen. Die philosophische Behandlung der Aesthetik, welche auf metaphysischem Wege sich dem Wesen des Schönen zu nähern versucht und dessen letzte Elemente aufzeigt, ist ein Erwerb neuerer Zeit.
1.3Sollte sich nun immerhin auch in Behandlung
ästhetischer Fragen ein Umschwung in der Wissenschaft vorbereiten, welcher an der
Stelle des metaphysischen Princips eine der inductiven naturwissenschaftlichen
Methode verwandte Anschauung zu mächtigem Einfluß und wenigstens zeitlicher Oberhand
verhälfe, – vor der Hand stehen die jüngsten Spitzen unsrer Wissenschaft noch
unverdunkelt da und
[2]
behaupten für alle Zeit das unvergängliche Verdienst, die Herrschaft der
unwissenschaftlichen Empfindungs-Aesthetik vernichtet, und das Schöne in seinen
ureigenen, reinen Elementen durchforscht zu haben.
1.4Lagen einmal die Elemente des Schönen in ihrer Allgemeinheit vor, so war es an den Fachkundigen, die specifische Art zu erforschen, in welcher sich dieselben an den einzelnen Künsten verwirklichen und bestimmen.
1.5Die ästhetischen Principe der Malerei, Architektur, Musik mußten gewonnen und Special-Aesthetiken entwickelt werden. Letztere sind freilich in ganz andrer Weise zu begründen, als durch ein bloßes Anpassen des allgemeinen Schönheitsbegriffs, weil dieser in jeder Kunst eine Reihe neuer Unterschiede eingeht. Es muß jede Kunst in ihren technischen Bestimmungen gekannt, will aus sich selbst begriffen und beurtheilt sein. Die Special-Aesthetiken sowie ihre praktischen Ausläufer, die Kunstkritiken, müssen, bei aller Verschiedenheit ihrer Standpunkte, sich trotzdem in der Einen unverlierbaren Ueberzeugung vereinigen, daß in ästhetischen Untersuchungen vorerst das schöne Object, und nicht das empfindende Subject zu erforschen sei. Sie müssen mit der älteren Anschauungsweise brechen, welche die Untersuchung lediglich mit Rücksicht – beinahe aus Rücksicht – für die dadurch hervorgerufenen Gefühle vornahm, und die Philosophie des Schönen als eine Tochter der Empfindung (αίσδησιϛ) aus der Taufe hob.
1.6Die objective Anschauung ist heutzutage nicht mehr ein blos wissenschaftlicher Erwerb, sondern ziemlich allgemein ins künstlerische Bewußtsein gedrungen. Der moderne Poet oder Maler überredet sich kaum, Rechenschaft von dem Schönen seiner Kunst gelegt zu haben, wenn er untersuchte, welche „Gefühle“ dieses Landschaftsbild, jenes Lustspiel im Publikum heraufbeschwöre. Er sucht vielmehr in der eigenthümlichen Beschaffenheit des Kunstwerks selbst jene Elemente zu finden, welche es zu einem Schönen und gerade zu dieser bestimmten Art des Schönen stempeln. Die bloße Thatsache erweckten Wohlgefallens kann ihm nicht genügen: er wird der zwingenden Macht nachspüren, warum das Werk gefällt.
1.8Die Tonkunst allein hat diesen
wissenschaftlichen Standpunkt noch nicht zu erringen gewußt, und ist in ihrer
Aesthetik hinter den
[3] übrigen
Künsten entschieden zurückgeblieben. Die „Empfindungen“ treiben da den alten Spuk
bei
hellichtem Tage fort. In Leben und Literatur der Tonkunst wird das musikalisch Schöne
durchweg von Seite seines subjectiven Eindrucks behandelt, und Bücher, Kritiken,
Gespräche können täglich darthun, daß man übereinstimmend die Gefühle
für die Basis erkennt, welche das Ideal dieser Kunst trage, die Strahlen ihrer
Wirkung concentrire und die Grenzen des Urtheils über Musik durch die ihrigen
bezeichne.
1.9Die Musik – so wird uns gelehrt – kann nicht durch Begriffe den Verstand unterhalten, wie die Dichtkunst, ebensowenig durch sichtbare Formen das Auge, wie die bildenden Künste, also muß sie den Beruf haben, auf die Gefühle des Menschen zu wirken. „Die Musik hat es mit den Gefühlen zu thun.“ Dieses „zu Thun haben“ ist einer der charakteristischen Ausdrücke der bisherigen musikalischen Aesthetik. Worin der Zusammenhang der Musik mit den Gefühlen, bestimmter Musikstücke mit bestimmten Gefühlen bestehe, nach welchen Naturgesetzen er wirke, nach welchen Kunstgesetzen er zu gestalten sei, darüber ließen uns diejenigen vollkommen im Dunkeln, die eben damit „zu thun hatten.“ Gewöhnt man sein Auge ein wenig an dieses Dunkel, so gelangt man dahin, zu entdecken, daß in der herrschenden musikalischen Anschauung die Gefühle eine doppelte Rolle spielen.
1.10Fürs Erste wird als Zweck und Bestimmung der Musik aufgestellt, sie solle Gefühle oder „schöne Gefühle“ erwecken. Fürs Zweite bezeichnet man die Gefühle als den Inhalt, welchen die Tonkunst in ihren Werken darstellt.
1.11Beide Sätze haben das Aehnliche, daß der eine genau so falsch ist, wie der andere.
1.12Der erstere darf uns nicht lange beschäftigen, da
die neuere Philosophie den Irrthum längst widerlegt hat, als liege der Zweck eines
Schönen überhaupt in einer gewissen Tendenz auf das Fühlen der Menschen. Das Schöne
hat seine Bedeutung in sich selbst, es ist zwar schön nur für das
Wohlgefallen eines anschauenden Subjects, aber nicht durch dasselbe. Wie
die Schlange in Goetheʼs Märchen vollendet es seinen Kreis in sich allein, unbekümmert um
die magische Kraft, mit der es sogar das Todte wiederbelebt. Das
[4] Schöne
hat nichts Anderes zu thun als schön zu sein, mag es gleich immerhin leiden, daß wir
außer dem Anschauen – der eigentlich ästhetischen Thätigkeit – auch im
Fühlen und Empfinden ein Uebriges thun.
1.14„Gefühl“ und „Empfindung“, diese beiden unaufhörlich verwechselten Begriffe, müssen wir, ehe unsre Untersuchung beginnen kann, streng unterscheiden.
1.15 Empfindung ist das Wahrnehmen einer bestimmten Sinnesqualität: eines Tons, einer Farbe. Gefühl das Bewußtwerden einer Förderung oder Hemmung unsres Seelenzustandes, also eines Wohlseins oder Mißbehagens. Wenn ich den Geruch oder Geschmack eines Dinges, dessen Form, Farbe oder Ton mit meinen Sinnen einfach wahrnehme (percipire), so empfinde ich diese Qualitäten; wenn Wehmuth, Hoffnung, Frohsinn oder Haß mich merkbar über den gewöhnlichen Seelenzustand emporheben oder unter denselben herabdrücken, so fühle ich. (In dieser Begriffsbezeichnung stimmen die älteren Philosophen mit den neueren Physiologen überein, und wir mußten sie unbedingt den Benennungen der Hegel ʼschen Schule vorziehen, welche bekanntlich innere und äußere Empfindungen unterscheidet.)
1.16Das Schöne trifft zuerst unsere Sinne. Dieser Weg ist ihm nicht eigenthümlich, es theilt ihn mit allem überhaupt Erscheinenden. Die Empfindung ist Anfang und Bedingung des ästhetischen Gefallens und bildet erst die Basis des Gefühls, welches stets ein Verhältniß und oft die complicirtesten Verhältnisse voraussetzt. Empfindungen zu erregen bedarf es nicht der Kunst, ein einzelner Ton, eine einzelne Farbe kann das. Wie gesagt werden beide Ausdrücke willkürlich vertauscht, meistens aber in älteren Werken „Empfindung“ genannt, was wir als „Gefühl“ bezeichnen. Unsre Gefühle also, meinen jene Schriftsteller, solle die Musik erregen und uns abwechselnd mit Andacht, Liebe, Jubel, Wehmuth erfüllen.
1.17Solche Bestimmung hat aber in Wahrheit weder diese noch eine andere Kunst. Das Organ, womit das Schöne aufgenommen wird, ist nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als die Thätigkeit des reinen Schauens. (Vischerʼs Aesth. §. 384.)
1.18Nahezu merkwürdig ist es, wie die Musiker und
älteren Aesthe
[5]tiker sich nur in dem Contrast von „Gefühl“ und „Verstand“
bewegen, als läge nicht die Hauptsache gerade inmitten dieses
angeblichen Dilemmas. Aus der Phantasie des Künstlers entsteigt das Tonstück für die
Phantasie des Hörers. Freilich ist die Phantasie gegenüber dem Schönen nicht blos
ein
Schauen, sondern ein Schauen mit Verstand, d. i.
Vorstellen und Urtheilen, letzteres natürlich mit solcher Schnelligkeit, daß die
einzelnen Vorgänge uns gar nicht zum Bewußtsein kommen, und die Täuschung entsteht,
es geschehe unmittelbar, was doch in Wahrheit von vielfach vermittelnden
Geistesprocessen abhängt. Das Wort „Anschauung,“ längst von den Gesichtsvorstellungen
auf alle Sinneserscheinungen übertragen, entspricht überdies trefflich dem Acte des
aufmerksamen Hörens, welches ja in einem successiven Betrachten der Tonformen
besteht. Die Phantasie ist natürlich kein abgeschlossenes Gebiet: so wie sie ihren
Lebensfunken aus den Sinnesempfindungen zog, sendet sie wiederum ihre Radien schnell
an die Thätigkeit des Verstandes und des Gefühls aus. Dies sind für die echte
Auffassung des Schönen jedoch nur Grenzgebiete.
1.19In reiner Anschauung genießt der Hörer das erklingende Tonstück, jedes stoffliche Interesse muß ihm fern liegen. Ein solches ist aber die Tendenz, Affecte in sich erregen zu lassen. Ausschließliche Bethätigung des Verstandes durch das Schöne verhält sich logisch anstatt ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist noch bedenklicher, nämlich geradezu pathologisch.
1.20Alles das, von der allgemeinen Aesthetik längst entwickelt, gilt gleichmäßig für das Schöne aller Künste. Behandelt man also die Musik als Kunst, so muß man die Phantasie und nicht das Gefühl für die ästhetische Instanz derselben erkennen. Der bescheidene Vordersatz scheint aber darum sehr räthlich, weil bei dem wichtigen Nachdruck, welcher unermüdlich auf die durch Musik zu erzielende Sänftigung der menschlichen Leidenschaften gelegt wird, man in der That oft nicht weiß, ob von der Tonkunst als von einer polizeilichen, einer pädagogischen oder einer medicinischen Maßregel die Rede ist.
1.21Die Musiker sind aber weniger in dem Irrthume
befangen, alle Künste gleichmäßig den Gefühlen vindiciren zu wollen, als
sie darin vielmehr etwas specifisch der Tonkunst Eigenthümliches sehen.
Die
[6]
Kraft und Tendenz, auf die Gefühle des Hörers zu wirken, sei es eben, was die
Musik vor den übrigen Künsten charakterisire. Wo „Gefühl“ nicht
einmal von „Empfindung“ getrennt wurde, da kann von einem tieferen Eingehen in die
Unterschiede des Ersteren umsoweniger die Rede sein: sinnliche und intellectuelle
Gefühle, die chronische Form der Stimmung, die acute des
Affectes, Neigung und Leidenschaft sowie die eigenthümlichen
Färbungen dieser als „pathos“ der Griechen und „passio“ der neueren Lateiner, wurden
in bunter Mischung nivellirt, und von der Musik lediglich ausgesagt, sie sei speciell
die Kunst, Gefühle zu erregen.
1.22Allein ebensowenig wie wir diese Wirkung als die
Aufgabe der Künste überhaupt anerkannten, können wir in ihr eine specifische
Bestimmtheit der Musik erblicken. Einmal festgehalten, daß die
Phantasie das eigentliche Organ des Schönen ist, wird eine secundäre
Wirkung dieser auf das Gefühl in jeder Kunst vorkommen. Bewegt uns nicht
mächtig ein bedeutendes Historiengemälde? Welche Andacht erwecken Raphaelʼs Madonnen, welchʼ
sehnsüchtige und frohe Stimmungen die Landschaften eines Poussin? Wird der Anblick
des Straßburger
Münsters oder der griechischen
Marmorgestalten ohne Wirkung auf unser Fühlen bleiben? Dasselbe gilt von der Poesie,
ja von mancher außerästhetischen Thätigkeit, z. B. religiöser Erbauung, Eloquenz
u. a. Wir sehen, daß die übrigen Künste ebenfalls stark genug auf das Gefühl
einwirken. Den angeblich principiellen Unterschied derselben von der Musik müßte man
daher auf ein Mehr oder Weniger dieser Wirkung basiren. Ganz unwissenschaftlich an
sich, hätte dieser Ausweg obendrein die Entscheidung: ob man stärker und tiefer fühle
bei einer Mozartʼschen Symphonie oder bei einem Trauerspiel Shakespeareʼs, bei einem
Gedicht von Uhland oder einem Hummelʼschen Rondo, füglich Jedermann selbst zu
überlassen. Meint man aber, die Musik wirke „unmittelbar“ auf das Gefühl, die andern
Künste erst durch die Vermittlung von Begriffen, so fehlt man nur mit andern Worten,
weil, wie wir gesehen, die Gefühle auch von dem Musikalisch-Schönen nur in zweiter
Linie beschäftigt werden sollen, unmittelbar nur die Phantasie.
Unzählige Mal wird in musikalischen Abhandlungen die Analogie herbeigerufen, die
zweifellos zwischen der Musik und der Baukunst be
[7]steht. Ist aber je einem vernünftigen Architekten beigefallen, die Baukunst habe
den Zweck, Gefühle zu erregen, oder es seien diese der
Inhalt derselben?
1.23 Jedes wahre Kunstwerk wird sich in irgend eine Beziehung zu unserm Fühlen setzen, keines in eine ausschließliche. Man sagt also gar nichts für das ästhetische Princip der Musik Entscheidendes, wenn man sie durch ihre Wirkung auf das Gefühl charakterisirt.
1.24Dennoch will man dem Wesen der Musik immer von diesem Punkte aus beikommen. Dennoch wird stets die Besprechung eines Tonwerks mit der „Empfindung“ angehoben, die es hervorruft, und Lob oder Tadel nach dem Maß der eigenen subjectiven Affection bestimmt. Als wenn man das Wesen des Weines ergründete, indem man sich betrinkt! Die Erkenntniß eines Gegenstandes und dessen unmittelbare Wirkung auf unsre Subjectivität sind himmelweit verschiedene Dinge, ja man muß der letzteren in eben dem Maße sich zu entwinden wissen, als man der ersteren nahe kommen will. Das Verhalten unsrer Gefühlszustände zu irgend einem Schönen ist vielmehr Gegenstand der Psychologie als der Aesthetik. Sei die Wirkung der Musik so groß oder so klein als sie wolle – von ihr darf man nicht ausgehen, wenn man das Wesen dieser Kunst zu erforschen unternimmt. Hegel hat erschöpfend gezeigt, wie die Untersuchung der „Empfindungen,“ welche eine Kunst erweckt, ganz im Unbestimmten stehen bleibt und gerade vom eigentlichen, concreten Inhalt absieht. „Was empfunden wird,“ sagt er, „bleibt eingehüllt in der Form abstractester, einzelner Subjectivität und deshalb sind auch die Unterschiede der Empfindung ganz abstracte, keine Unterschiede der Sache selbst.“ (Aesthetik I, 42.)
1.25Eignet der Tonkunst wirklich eine specifische Kraft
des Eindruckes (wie wir sie bald näher betrachten werden), so muß man von diesem
Zauber um so vorsichtiger abstrahiren, um an das Wesen seiner Ursache zu gelangen.
Unterdessen vermengt man unablässig Gefühlsaffection und musikalische Schönheit,
anstatt sie in wissenschaftlicher Methode getrennt darzustellen. Man klebt an der
unsichern Wirkung musikalischer Erscheinungen anstatt in das Innere der Werke zu
dringen und aus den Gesetzen ihres eigenen Organismus zu erklären, was
ihr Inhalt ist, worin ihr Schönes besteht. Man be
[8]ginnt vom subjectiven Eindruck und folgert auf das Wesen der Kunst. Das sind
Rückschlüsse vom Unselbstständigen auf das Selbstständige, vom Bedingten auf das
Bedingende.
1.26Ueberdies ist der Zusammenhang eines Tonstücks mit der dadurch hervorgerufenen Gefühlsbewegung kein nothwendig causaler. Unter verschiedenen Nationalitäten, Temperamenten, Altersstufen und Verhältnissen, ja selbst unter Gleichheit aller dieser Bedingungen bei verschiedenen Individuen, wird dieselbe Musik sehr ungleich wirken. Wir brauchen gar nicht die Indianer und Karaiben zu incommodiren, die gewöhnlich beliebten Hilfstruppen, wenn es sich um die „Verschiedenheit des Geschmacks“ handelt, – es genügt Ein europäisches Concertpublikum, dessen eine Hälfte in Beethovenʼs Symphonien seine stärksten, höchsten Regungen geweckt fühlt, während die andere darin nur „schwerfällige Verstandesmusik“ und „gar kein Gefühl“ findet. In manchem Augenblick regt uns ein Musikstück zu Thränen auf, ein andermal läßt es kalt, und tausend äußere Verschiedenheiten können hinreichen, dessen Wirkung tausendfach zu verändern oder zu annulliren. Der Zusammenhang musikalischer Werke mit gewissen Stimmungen besteht nicht immer, überall, nothwendig, als ein absolut Zwingendes.
1.27Selbst dort, wo wir den wirklich vorhandenen Eindruck betrachten, entdecken wir in ihm oft statt des Nothwendigen Conventionelles. Nicht blos in Form und Sitte, auch am Denken und Fühlen bildet sich im Lauf der Zeiten vieles Uebereinstimmende, Ueberkommene, das uns im Wesen der Dinge selbst zu stecken scheint, welche dennoch kaum mehr davon wissen, als die Buchstabenzeichen von der Bedeutung, die sie eben nur für uns haben. Dies ist besonders bei Musikgattungen der Fall, welche bestimmten äußeren Zwecken dienen, als Kirchen-, Kriegs-, Theatercompositionen. In den letzteren findet man eine wahre Terminologie für die verschiedensten Gefühle, eine Terminologie, die den Componisten und Hörern eines Zeitalters so geläufig wird, daß sie im einzelnen Falle nicht den mindesten Zweifel darüber haben. Spätere Zeiten bekommen ihn aber. Ja, wir begreifen oft kaum, wie unsre Großeltern diese Tonreihe für einen adäquaten Ausdruck gerade dieses Affectes ansehen konnten.
[9]
1.28Jede Zeit und Gesittung bringt ein verschiedenes Hören, ein verschiedenes Fühlen mit sich. Die Musik bleibt dieselbe, allein es wechselt ihre Wirkung mit dem wechselnden Standpunkt conventioneller Befangenheit. Wie leicht und gern sich unser Fühlen überdies von den kleinlichsten Kunstgriffen überlisten läßt, davon erzählen unter Anderm die Instrumentalstücke mit besondern Mottos oder Ueberschriften. In den äußerlichsten Claviersächelchen, worin nichts steckt, „eitel Nichts, wohin mein Augʼ sich wendet,“ ist man alsbald geneigt, „Sehnsucht nach dem Meere,“ „Abend vor der Schlacht,“ „Sommertag in Norwegen“ und was des Unsinns mehr ist, zu erkennen, wenn nur das Titelblatt die Kühnheit besitzt, seinen Inhalt dafür auszugeben. Die Ueberschriften geben unserm Vorstellen und Fühlen eine Richtung, welche wir nur zu oft dem Charakter der Musik zuschreiben, eine Leichtgläubigkeit, gegen welche der Scherz einer Titelverwechselung nicht genug empfohlen werden kann.
1.29So besitzt denn die Wirkung der Musik auf das Gefühl weder die Nothwendigkeit, noch die Stetigkeit, noch endlich die Ausschließlichkeit, welche eine Erscheinung aufweisen müßte, um ein ästhetisches Princip begründen zu können.
1.30Die starken Gefühle selbst, welche Musik aus ihrem
Schlummer wachsingt, und allʼ die süßen, wie schmerzlichen Stimmungen, in die sie
uns
Halbträumende einlullt, wir möchten sie nicht um Alles unterschätzen. Zu den
schönsten, heilsamsten Mysterien gehört es ja, daß die Kunst solche Bewegungen ohne
irdischen Anlaß, recht von Gottes
Gnaden hervorzurufen vermag. Nur gegen die unwissenschaftliche Verwerthung dieser
Thatsachen für ästhetische Principien legen wir Verwahrung ein. Lust und
Trauer können durch Musik in hohem Grade erweckt werden; das ist richtig. Nicht in
noch höherem vielleicht durch den Gewinnst des großen Treffers oder die
Todeskrankheit eines Freundes? So lange man Anstand nimmt, deshalb ein Lotterieloos
den Symphonien, oder ein ärztliches Bülletin den Ouvertüren beizuzählen, so lange
darf man auch factisch erzeugte Affecte nicht als eine ästhetische Specialität der
Tonkunst oder eines bestimmten Tonstücks behandeln. Es wird einzig auf die
specifische Art ankommen, wie solche Affecte durch Musik
hervorgerufen werden. Wir werden im IV. und V. Kapitel den Ein
[10]wirkungen der Musik auf das Gefühl die aufmerksamste Betrachtung
widmen, und die positiven Seiten dieses merkwürdigen Verhältnisses
untersuchen. Hier, am Eingang unsrer Schrift, konnte die negative Seite, als Protest
gegen ein unwissenschaftliches Princip, nicht zu scharf hervorgekehrt werden.
1.31 Anmerkung. Es dünkt uns für den vorliegenden Zweck kaum nothwendig, den Ansichten, deren Bekämpfung uns beschäftigt, die Namen ihrer Autoren beizusetzen, da diese Ansichten keineswegs die Blüthe eigenthümlicher Ueberzeugungen, sondern vielmehr der Ausdruck einer allgemein gewordenen traditionellen Denkweise sind. Nur um einen Einblick in die ausgebreitete Herrschaft dieser Grundsätze zu gewähren, mögen einige Citate älterer und neuerer Musikschriftsteller hier Platz finden:
[11]
[12]
2.1Theils als Consequenz dieser Theorie, welche die Gefühle für das Endziel musikalischer Wirkung erklärt, theils als Correctiv derselben wird der Satz aufgestellt: die Gefühle seien der Inhalt, welchen die Tonkunst darzustellen habe.
2.2Die philosophische Untersuchung einer Kunst drängt zu der Frage nach dem Inhalt derselben. Jeder Kunst eignet ein Kreis von Ideen, welche sie mit ihren Ausdrucksmitteln, als Ton, Wort, Farbe, Stein darstellt. Das einzelne Kunstwerk verkörpert demnach eine bestimmte Idee als Schönes in sinnlicher Erscheinung. Diese bestimmte Idee, die sie verkörpernde Form, und die Einheit beider sind Bedingungen des Schönheitsbegriffs, von welchen keine wissenschaftliche Ergründung irgend einer Kunst sich mehr trennen kann.
2.3 Was Inhalt eines Werks der dichtenden oder bildenden Kunst sei, läßt sich mit Worten ausdrücken und auf Begriffe zurückführen. Wir sagen: dies Bild stellt ein Blumenmädchen vor, diese Statue einen Gladiator, jenes Gedicht eine That Rolandʼs. Das mehr oder minder vollkommene Aufgehen des so bestimmten Inhalts in der künstlerischen Erscheinung begründet dann unser Urtheil über die Schönheit des Kunstwerks.
2.4Als Inhalt der Musik hat man ziemlich
einverständlich die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle genannt,
weil man in diesen den Gegensatz zu begreiflicher Bestimmtheit und daher die richtige
Unterscheidung von dem Ideal der bildenden und dichtenden Kunst gefunden glaubte.
Demnach seien die Töne und ihr kunstreicher Zusammenhang blos Material,
Ausdrucksmittel, wodurch der Componist die Liebe, den Muth, die Andacht, das
Entzücken darstellt. Diese Gefühle in ihrer reichen Mannigfaltigkeit
seien die Idee, welche den irdischen Leib des Klanges angethan, um als musikalisches
[13]
Kunstwerk auf Erden zu wandeln. Was uns an einer reizenden Melodie, einer sinnigen
Harmonie ergötzt und erhebt, sei nicht diese selbst, sondern was sie bedeutet: das
Flüstern der Zärtlichkeit, das Stürmen der Kampflust.
2.5Um auf festen Boden zu gelangen, müssen wir vorerst solche altverbundene Metaphern schonungslos trennen: Das Flüstern? Ja; – aber keineswegs der „Sehnsucht;“ das Stürmen? Allerdings, doch nicht der „Kampflust“. In der That besitzt die Musik das Eine ohne das Andre; sie kann flüstern, stürmen, rauschen, – das Lieben und Zürnen aber trägt nur unser eigenes Herz in sie hinein.
2.6Die Darstellung eines Gefühles oder Affectes liegt gar nicht in dem eigenen Vermögen der Tonkunst.
2.7Es stehen nämlich die Gefühle in der Seele nicht isolirt da, so daß sie sich aus ihr gleichsam herausheben ließen von einer Kunst, welcher die Darstellung der übrigen Geistesthätigkeiten verschlossen ist. Sie sind im Gegentheil abhängig von physiologischen und pathologischen Voraussetzungen, sind bedingt durch Vorstellungen, Urtheile, kurz durch eben das ganze Gebiet verständigen und vernünftigen Denkens, welchem man das Gefühl so gern als ein Gegensätzliches gegenüberstellt.
2.8Was macht denn ein Gefühl zu diesem
bestimmten Gefühl? Zur Sehnsucht, Hoffnung, Liebe? Etwa die bloße Stärke
oder Schwäche, das Wogen der innern Bewegung? Gewiß nicht. Diese kann bei
verschiedenen Gefühlen gleich sein und auch wieder bei demselben Gefühl, in mehreren
Individuen, zu andern Zeiten verschieden. Nur auf Grundlage einer Anzahl – im Momente
starken Fühlens vielleicht unbewußter – Vorstellungen und Urtheile kann unser
Seelenzustand sich zu eben diesem bestimmten Gefühl verdichten. Das Gefühl der
Hoffnung ist untrennbar von der Vorstellung eines glücklicheren Zustandes, welcher
kommen soll und mit dem gegenwärtigen verglichen wird. Die Wehmuth vergleicht ein
vergangenes Glück mit der Gegenwart. Das sind ganz bestimmte Vorstellungen, Begriffe,
Urtheile. Ohne sie, ohne diesen Gedankenapparat kann man
das gegenwärtige Fühlen nicht „Hoffnung,“ nicht „Wehmuth“ nennen, er macht sie dazu.
Abstrahirt man von ihm, so bleibt eine unbe
[14]stimmte Bewegung, allenfalls die Empfindung allgemeinen Wohlbefindens,
oder Mißbehagens. Die Liebe kann ohne die Vorstellung einer geliebten,
individuellen Persönlichkeit, ohne den Wunsch und das Streben nach der Beglückung,
Verherrlichung, dem Besitz dieses Gegenstandes nicht gedacht werden. Nicht die Art
der bloßen Seelenbewegung, sondern ihr begrifflicher Kern, ihr wirklicher,
historischer Inhalt macht sie zur Liebe. Ihrer Dynamik nach
kann diese ebensogut sanft als stürmisch, ebensowohl froh als schmerzlich auftreten
und bleibt doch immer Liebe. Diese Betrachtung allein reicht hin, zu zeigen, daß
Musik nur jene verschiedenen begleitenden Adjectiva ausdrücken könne, nie das
Substantivum, die Liebe, selbst. Ein bestimmtes Gefühl (noch mehr eine Leidenschaft
und ein Affect) existirt als solches niemals ohne einen wirklichen historischen
Inhalt, der eben nur in Begriffen dargelegt werden kann. Begriffe kann die Musik als
„unbestimmte Sprache“ zugestandener Weise nicht wiedergeben – ist nicht die Folgerung
psychologisch unablehnbar, daß sie auch bestimmte Gefühle nicht auszudrücken vermag?
Die Bestimmheit der Gefühle ruht ja gerade in deren begrifflichem
Kern.
2.9Wie es komme, daß Musik dennoch Gefühle, wie
Wehmuth, Frohsinn u. dgl., erregen kann (nicht muß), das
wollen wir später, wo vom subjectiven Eindruck der Musik die Rede sein wird,
untersuchen. Hier mußte blos theoretisch festgestellt werden, ob die Musik fähig sei,
ein bestimmtes Gefühl darzustellen? Die Frage war zu verneinen, da die
Bestimmtheit der Gefühle von concreten Vorstellungen und Begriffen nicht getrennt
werden kann, welche letztere außer dem Gestaltungsbereich der Musik liegen. – Einen
Kreis von Ideen hingegen kann die Musik mit ihren eigensten Mitteln
reichlichst darstellen. Dies sind unmittelbar alle diejenigen, welche auf hörbare
Veränderungen der Zeit, der Kraft, der Proportionen sich beziehen, also die Idee des
Anschwellenden, des Absterbenden, des Eilens, Zögerns, des künstlich Verschlungenen,
des einfach Begleitenden u. dgl. – Es kann ferner der ästhetische Ausdruck einer
Musik anmuthig genannt werden, sanft, heftig, kraftvoll, zierlich, frisch: lauter
Ideen, welche in Tonverbindungen eine entsprechende sinnliche Erscheinung finden
können. Wir können diese Eigenschafts
[15]wörter daher unmittelbar von musikalischen Bildungen
gebrauchen, ohne an die ethische Bedeutung zu denken, welche sie für das menschliche
Seelenleben haben, und die eine geläufige Ideenassociation so schnell zur Musik
heranbringt, ja mit den rein musikalischen Eigenschaften unter der Hand zu
verwechseln pflegt.
2.10Die Ideen, welche der Componist darstellt, sind vor Allem und zuerst rein musikalische. Seiner Phantasie erscheint eine bestimmte schöne Melodie. Sie soll nichts Anderes sein, als sie selbst. Wie aber jede concrete Erscheinung auf ihren höheren Gattungsbegriff, auf die sie zunächst erfüllende Idee hinaufweist, und so fort immer höher und höher bis zur absoluten Idee, so geschieht es auch mit den musikalischen Ideen. So wird z. B. dieses sanfte, harmonisch ausklingende Adagio die Idee des Sanften, Harmonischen überhaupt zur schönen Erscheinung bringen. Die allgemeine Phantasie, welche gern die Ideen der Kunst in Bezug zum eigenen, menschlichen Seelenleben setzt, wird dies Ausklingen noch höher z. B. als den Ausdruck milder Resignation eines in sich versöhnten Gemüthes auffassen, und so fort bis zur Ahnung des Absoluten steigen.
2.11Auch die Poesie und bildende Kunst stellen vorerst ein Concretes dar. Erst mittelbar kann das Bild einer Blumenverkäuferin auf die allgemeinere Idee mädchenhafter Zufriedenheit und Anspruchslosigkeit, ein beschneiter Kirchhof auf die Idee der irdischen Vergänglichkeit hinaufweisen. Gerade so, nur mit ungleich unsicherer und willkürlicher Deutung kann der Hörer in diesem Musikstück die Idee jugendlichen Genügens, in jenem die Idee der Vergänglichkeit heraushören; allein ebensowenig als in den genannten Bildern sind diese abstracten Ideen der Inhalt des musikalischen Werkes; von einer Darstellung des „Gefühls der Vergänglichkeit,“ des „Gefühls der jugendlichen Genügsamkeit“ kann nun vollends keine Rede sein.
2.12Es giebt Ideen, welche durch die Tonkunst vollkommen repräsentirt werden und trotzdem nicht als Gefühl vorkommen, so wie umgekehrt Gefühle von solcher Mischung das Gemüth bewegen können, daß sie in keiner durch Musik darstellbaren Idee ihre adäquate Bezeichnung finden.
2.13 Was kann also die Musik von den Gefühlen darstellen, wo nicht deren Inhalt?
[16]
2.14Nur das Dynamische derselben. Sie vermag die Bewegung eines psychischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigernd, fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine Eigenschaft, ein Moment des Gefühls, nicht dieses selbst. Gemeiniglich glaubt man, das darstellende Vermögen der Musik genügend zu begrenzen, wenn man behauptet, sie könne keineswegs den Gegenstand eines Gefühles bezeichnen, wohl aber das Gefühl selbst, z. B. nicht das Object einer bestimmten Liebe, wohl aber „Liebe.“ Sie kann dies in Wahrheit ebensowenig. Nicht Liebe, sondern nur eine Bewegung kann sie schildern, welche bei der Liebe, oder auch bei einem andern Affect vorkommen kann, immer jedoch das Unwesentliche seines Charakters ist. „Liebe“ ist ein abstracter Begriff, so gut wie „Tugend“ und „Unsterblichkeit.“ Die Versicherung der Theoretiker, Musik habe keine abstracten Begriffe darzustellen, ist überflüssig; denn keine Kunst kann dies. Daß nur Ideen, d. i. lebendig gewordene Begriffe Inhalt künstlerischer Verkörperung sind, versteht sich von selbst. 1 Aber auch die Ideen, oder die Idee der Liebe, des Zornes, der Furcht können Instrumentalwerke nicht zur Erscheinung bringen, weil zwischen jenen Ideen und schönen Tonverbindungen kein nothwendiger Zusammenhang besteht. Welches Moment dieser Ideen istʼs denn also, dessen die Musik sich in der That so wirksam zu bemächtigen weiß? Es ist die Bewegung (natürlich in dem weiteren Sinne, der auch das Anschwellen und Abschwächen des einzelnen Tones oder Accordes als „Bewegung“ auffaßt). Sie bildet das Element, welches die Tonkunst mit den Gefühlszuständen gemeinschaftlich hat, und das sie schöpferisch in tausend Abstufungen und Gegensätzen zu gestalten vermag.
2.15Was uns außerdem in der Musik bestimmte Seelenzustände zu malen scheint, ist durchaus symbolisch.
2.16Wie die Farben, so besitzen nämlich die Töne schon
von Natur aus und in ihrer Vereinzelung symbolische Bedeutung, welche außer
[17]halb und vor aller künstlerischen Absicht wirkt. Jede Farbe athmet
eigenthümlichen Charakter: sie ist uns keine bloße Ziffer, welche durch den Künstler
lediglich eine Stellung erhält, sondern eine Kraft, schon von Natur aus in
sympathetischen Zusammenhang mit gewissen Stimmungen gesetzt. Wer kennt nicht die
Farbendeutungen, wie sie in ihrer Einfachheit gang und gäbe, oder durch feinere
Geister zu poetischem Raffinement gehoben werden? Wir verbinden Grün mit dem Gefühl
der Hoffnung, Blau mit der Treue.
Rosenkranz
erkennt in Rothgelb
„anmuthige Würde,“
in Violett
„philisterhafte Freundlichkeit“
u. s. w. (Psychologie, 2. Aufl. S. 102.)
2.17In ähnlicher Weise sind uns die elementaren Stoffe der Musik: Tonarten, Accorde und Klangfarben schon an sich Charaktere. Wir haben auch eine nur zu geschäftige Auslegekunst für die Bedeutung musikalischer Elemente; Schubartʼs Symbolik der Tonarten bietet in ihrer Art ein Seitenstück zu Goetheʼs Deutung der Farben. Es folgen jedoch diese Elemente (Töne, Farben) in ihrer künstlerischen Verwendung ganz anderen Gesetzen, als jener Ausdruck ihrer isolirten Erscheinung. So wenig auf einem großen Historienbild jedes Roth uns Freude, jedes Weiß Unschuld bedeutet, ebensowenig wird in einer Sinfonie alles As-dur uns eine schwärmerische, alles H-moll eine menschenfeindliche Stimmung erwecken, oder jeder Dreiklang Befriedigung, jeder verminderte Septaccord Verzweiflung. Auf ästhetischem Boden neutralisiren sich derlei elementare Selbstständigkeiten unter der Gemeinsamkeit höherer Gesetze. Von einem Ausdrücken oder Darstellen ist solche Naturbeziehung weit entfernt. „Symbolisch“ nannten wir sie, indem sie den Inhalt keineswegs unmittelbar darstellt, sondern eine von diesem wesentlich verschiedene Form bleibt. Wenn wir im Gelben Eifersucht, in G-dur Heiterkeit, in der Cypresse Trauer sehen, so hat diese Deutung einen physiologisch-psychologischen Zusammenhang mit Bestimmtheiten dieser Gefühle, allein es hat ihn eben nur unsere Deutung, nicht die Farbe, die Pflanze, der Ton an und für sich. Man kann daher weder von einem Accord an sich sagen, er stelle ein bestimmtes Gefühl dar, noch weniger thut er das im Zusammenhang des Kunstwerkes.
2.18Ein anderes Mittel zu dem angeblichen Zweck, außer der Analogie der Bewegung und der Symbolik der Töne, hat die reine Musik nicht.
[18]
2.19Läßt sich somit ihr Unvermögen, bestimmte Gefühle darzustellen, leicht aus der Natur der Töne deduciren, so scheint es fast unbegreiflich, daß es auf dem Erfahrungswege nicht noch viel schneller ins allgemeine Bewußtsein gedrungen ist. Versuche Jemand, dem noch so viel Gefühlssaiten aus einem Instrumentalstück anklingen, mit klaren Gründen nachzuweisen, welcher Affect den Inhalt desselben bilde? Die Probe ist unerläßlich. – Hören wir z. B. Beethovenʼs Ouvertüre zu „Prometheus.“ Was das aufmerksame Ohr des Kunstfreundes in stetiger Folge aus ihr vernimmt, ist ungefähr Folgendes: Die Töne des 1. Taktes perlen rasch und leise aufwärts, wiederholen sich genau im 2.; der 3. und 4. Takt führen denselben Gang in größerem Umfang weiter, die Tropfen des in die Höhe getriebenen Springbrunnens perlen herab, um in den nächsten vier Takten dieselbe Figur und dasselbe Figurenbild auszuführen. Vor dem geistigen Sinn des Hörers erbaut sich also in der Melodie die Symmetrie zwischen dem 1. und dem 2. Takte, dann dieser beiden Takte zu den zwei folgenden, endlich der vier ersten Takte als Eines großen Bogens gegen den gleich großen correspondirenden der folgenden vier Takte. Der den Rhythmus markirende Baß bezeichnet den Anfang der ersten drei Takte mit je einem Schlag, den vierten mit zwei Schlägen, in gleicher Weise bei den folgenden vier Takten. Hier ist also der vierte Takt gegen die drei ersten eine Verschiedenheit, welche durch die Wiederholung in den nächsten vier Takten symmetrisch wird und das Ohr als ein Zug der Neuheit im alten Gleichgewicht erfreut. Die Harmonie in dem Thema zeigt uns wieder das Correspondiren Eines großen mit zwei kleinen Bogen: dem C dur-Dreiklang in den vier ersten Takten entspricht der Secundaccord im fünften und sechsten, dann der Quintsext-Accord im siebenten und achten Takt. Dies wechselseitige Correspondiren zwischen Melodie, Rhythmus und Harmonie erzeugt ein symmetrisches und doch abwechslungsvolles Bild, welches durch die Klangfarben der verschiedenen Instrumente und den Wechsel der Tonstärke noch reichere Lichter und Schatten erhält.
[19]
2.20Einen weiteren Inhalt als den eben ausgedrückten vermögen wir durchaus nicht in dem Thema zu erkennen, am wenigsten ein Gefühl zu nennen, welches es darstellte oder im Hörer erwecken müßte. Solche Zergliederung macht ein Gerippe aus blühendem Körper, geeignet, alle Schönheit, aber auch alle falsche Deutelei zu zerstören.
2.21Wie mit diesem, ganz zufällig gewählten Motiv geht es mit jedem andern Instrumentalthema. Eine große Klasse von Musikfreunden hält es blos für einen charakteristischen Fehler der „klassischen“ Musik, den Affecten abhold zu sein, und giebt von vornherein zu, daß Niemand in einer der 48 Fugen und Präludien aus J. S. Bachʼs „wohltemperirtem Clavier“ ein Gefühl werde nachweisen können, das den Inhalt derselben bilde. Gut, – der Beweis wäre dadurch schon hergestellt, daß die Musik nicht Gefühle erwecken oder zum Gegenstand haben muß. Das ganze Gebiet der Figuralmusik fiele hinweg. Müssen aber große, historisch wie ästhetisch begründete Kunstgattungen ignorirt werden, um einer Theorie Haltbarkeit zu erschleichen, dann ist diese falsch. Ein Schiff muß untergehen, sobald es auch nur Ein Leck hat.
2.22Wem dies nicht genügt, der mag ihr immerhin den
ganzen Boden ausschlagen. Er spiele das Thema irgend einer Mozartʼschen oder Haydnʼschen
Sinfonie, eines Beethovenʼschen Adagioʼs, eines Mendelssohnʼschen Scherzoʼs, eines Schumannʼschen oder Chopinʼschen
Clavierstückes, den Stamm unserer gehaltvollsten Musik; oder auch die populärsten
Ouvertürenmotive von Auber, Donizetti, Flotow. Wer tritt hinzu und getraut sich, ein
bestimmtes Gefühl als Inhalt dieser Themen aufzuzeigen? Der Eine wird „Liebe“ sagen.
Mög
[20]lich. Der Andere meint „Sehnsucht“. Vielleicht. Der Dritte fühlt
„Andacht“. Niemand kann das widerlegen. Und so fort. Heißt dies nur ein bestimmtes
Gefühl darstellen, wenn Niemand weiß, was eigentlich
dargestellt wird? Ueber die Schönheit und Schönheiten des Musikstücks
werden wahrscheinlich Alle übereinstimmend denken, von dem Inhalt Jeder
verschieden. Darstellen heißt aber einen Inhalt klar, anschaulich
produciren, ihn uns vor Augen „daher stellen.“ Derlei Grundbegriffe können nicht
streng genug genommen werden. Wie mag man nun dasjenige als das von einer Kunst
Dargestellte bezeichnen, welches, das ungewisseste, vieldeutigste
Element derselben, einem ewigen Streit unterworfen ist?
2.23Wir haben absichtlich Instrumentalsätze zu Beispielen gewählt. Denn nur was von der Instrumentalmusik behauptet werden kann, gilt von der Tonkunst als solcher. Wenn irgend eine allgemeine Bestimmtheit der Musik untersucht wird, etwas so ihr Wesen und ihre Natur kennzeichnen, ihre Gränzen und Richtung feststellen soll, so kann nur von der Instrumentalmusik die Rede sein. Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es; denn nur sie ist reine, absolute Tonkunst. Ob man nun die Vocal- oder die Instrumentalmusik an Werth und Wirkung vorziehen wolle, – eine unwissenschaftliche Procedur, bei der meist flache Willkür das Wort führt – man wird stets einräumen müssen, daß der Begriff „Tonkunst“ in einem auf Textworte componirten Musikstück nicht rein aufgehe. In einer Vocalcomposition kann die Wirksamkeit der Töne nie so genau von jener der Worte, der Handlung, der Decoration getrennt werden, daß die Rechnung der verschiedenen Künste sich streng sondern ließe. Sogar Tonstücke mit bestimmten Ueberschriften oder Programmen müssen wir ablehnen, wo es sich um den „Inhalt“ der Musik handelt. Die Vereinigung mit der Dichtkunst erweitert die Macht der Musik, aber nicht ihre Gränzen.
2.24Wir haben in der Vocalcomposition ein untrennbar
verschmolzenes Product vor uns, aus dem es nicht mehr möglich ist, die Größe der
einzelnen Factoren zu bestimmen. Wenn es sich um die Wirkung der
Dichtkunst handelt, so wird es Niemand einfallen, die
Oper als Beleg hervorzuheben; es braucht größerer Verleugnung
[21] aber
nur derselben Einsicht, um bei den Grundbestimmungen musikalischer
Aesthetik ein Gleiches zu thun.
2.25Die Vocalmusik illuminirt die Zeichnung des Gedichts. 2 Wir haben in den musikalischen Elementen Farben von größter Pracht und Zartheit erkannt, von symbolischer Bedeutsamkeit obendrein. Sie werden vielleicht ein mittelmäßiges Gedicht zur innigsten Offenbarung des Herzens umwandeln. Trotzdem sind es die Töne nicht, welche in einem Gesangsstücke darstellen, sondern der Text. Die Zeichnung, nicht das Colorit bestimmt den dargestellten Gegenstand. Wir appelliren an das Abstractionsvermögen des Hörers, das sich irgend eine dramatisch wirksame Melodie abgelöst von aller dichterischen Bestimmung rein musikalisch vorstellen wolle. Nehmen wir z. B. das Thema aus dem zweiten Finale der „Hugenotten:“
[22]
2.26Darin liegt gar kein weiterer psychischer Ausdruck, als der einer raschen, leidenschaftlichen Bewegung. Der Text desselben: „Schändlich ist es, unerhört, ha, wie konnten sie es wagen!“ welcher ganz vortrefflich paßt, könnte ohne den mindesten Verstoß gegen den Ausdruck der Musik mit dem geraden Gegentheil vertauscht werden, und im Sinn der bekannten Librettopoesie etwa lauten: „O Geliebte, ich habʼ dich wieder, welche Wonne, welchʼ Entzücken!“
2.27Man kann also von diesem dramatisch so effectvollen Motiv nur behaupten, daß es seinem Text nicht widerspreche, nicht aber, daß Zorn und Rache den Inhalt desselben bilde, indem ein ganz entgegengesetzter Affect gleich richtigen Ausdruck darin findet.
2.28Das Thema des Duetts zwischen Florestan und Leonore in Beethovenʼs „Fidelio“, welches als Muster schwungvoller Freude in Ansehen steht, kann den verschiedensten Leidenschaften Ausdruck verleihen, und mit ganz denselben Tönen, in welchen Florestan jubelt: „O namenlose Freude!“ könnte Pizarro wüthen: „Er soll mir nicht entkommen!“
2.29Die ausdrucksvollsten Gesangstellen werden, losgelöst von ihrem Text uns höchstens rathen lassen, welches Gefühl sie ausdrücken. Sie gleichen Silhouetten, deren Original wir meistens erst erkennen, wenn man uns gesagt hat, wer das sei.
2.30Was hier an Einzelnem gezeigt wurde, erweist sich
ebenso an größerem und größtem Umfang. Man hat ganzen Gesangstücken oft andere Texte
unterlegt. Wenn man Meyerbeerʼs „Hugenotten“ mit Veränderung des Schauplatzes, der Zeit, der Personen, der
Begebenheiten und der Worte als „Ghibellinen in Pisa
“ aufführt, so stört ohne Zweifel die ungeschickte Mache, die
dramatische Lahmheit einer solchen Umarbeitung, allein der rein
musikalische Ausdruck wird nicht im Mindesten beleidigt. Und doch
soll das religiöse Ge
[23]fühl, der Glaubensfanatismus geradezu die Springfeder der „Hugenotten“ bilden, welche in den
„Ghibellinen“ ganz entfällt. Der Choral
Lutherʼs
darf hier nicht eingewendet werden: er ist ein Citat. Als
Musik paßt er zu jeder Confession. – Hat der Leser nie das fugirte Allegro aus der
Ouvertüre zur „Zauberflöte“ als
Vocalquartett sich zankender Handelsjuden gehört? Mozartʼs Musik, an der
nicht eine Note geändert ist, paßt zum Entsetzen gut auf den niedrigkomischen Text,
und man kann sich in der Oper nicht herzlicher an dem Ernst der Composition erfreuen,
als man hier über die Komik derselben lachen muß. Derlei Belege für das weite
Gewissen jedes musikalischen Motivs und jedes menschlichen Affectes ließen sich
zahllos vorbringen. Die Stimmung religiöser Andacht gilt mit Recht für eine der
musikalisch am wenigsten vergreifbaren. Nun giebt es unzählige deutsche Dorf- oder Marktkirchen, wo zur heil.
Wandlung das „Alphorn“ von Proch oder
die Schlußarie aus der „Somnambula“ (mit
dem koketten Decimensprung
„in meine Arme“
) oder Aehnliches auf der Orgel vorgetragen wird. Jeder Deutsche, der nach Italien kommt,
hört mit Staunen in den Kirchen die bekanntesten Opernmelodien von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi. Diese
und noch weltlichere Stücke, wenn sie nur halbwegs placiden Charakters klingen, sind
weit entfernt, die Gemeinde in ihrer Andacht zu stören, im Gegentheil pflegt Alles
aufs Aeußerste erbaut zu sein. Wäre die Musik an sich im Stande, religiöse Andacht
als Inhalt darzustellen, so würde solch ein quid pro quo eben so unmöglich sein, als
daß der Prediger statt seiner Exhorte eine
Tieck
ʼsche Novelle oder einen Parlamentsact von der Kanzel recitirte.
2.31Man sieht, daß die Vocalmusik, deren Theorie niemals das Wesen der Tonkunst bestimmen kann, auch praktisch nicht im Stande ist, die aus dem Begriff der Instrumentalmusik gewonnenen Grundsätze Lügen zu strafen.
2.32Der von uns bekämpfte Satz ist übrigens so in
Fleisch und Blut der gangbaren ästhetisch-musikalischen Anschauung gedrungen, daß
auch alle seine Descendenten und Seitenverwandte sich gleicher Unantastbarkeit
erfreuen. Dazu gehört die Theorie von der Nachahmung sichtbarer oder unmusikalisch
hörbarer Gegenstände durch die Tonkunst. Mit lehrsamer Wohlweisheit wird uns bei der
Frage von
[24] der „Tonmalerei“ immer wieder versichert: die Musik könne keineswegs
die außer ihrem Bereich liegende Erscheinung selbst malen, sondern nur
das Gefühl, welches dadurch in uns erzeugt wird. Gerade umgekehrt. Die
Musik kann nur die äußere Erscheinung nachzuahmen trachten, niemals aber das durch
sie bewirkte specifische Fühlen. Das Fallen der Schneeflocken, das Flattern der
Vögel, den Aufgang der Sonne kann ich nur so musikalisch malen, daß ich analoge,
diesen Phänomenen dynamisch verwandte Gehörseindrücke hervorbringe. In Höhe, Stärke,
Schnelligkeit, Rhythmus der Töne bietet sich dem Ohr eine Figur, deren
Eindruck jene Analogie mit der bestimmten Gesichtswahrnehmung hat, welche
Sinnesempfindungen verschiedener Gattung gegen einander erreichen können. Wie es
physiologisch ein „Vicariren“ eines Sinnes für den andern bis zu einer bestimmten
Grenze giebt, so auch ästhetisch ein gewisses Vicariren eines Sinneneindruckes für
den andern. Da zwischen der Bewegung im Raum und jener in der Zeit, zwischen der
Farbe, Feinheit, Größe eines Gegenstandes und der Höhe, Klangfarbe, Stärke eines
Tones wohlbegründete Analogie herrscht, so kann man in der That einen Gegenstand
musikalisch malen, – das „Gefühl“ aber in Tönen schildern zu wollen, das der fallende
Schnee, der krähende Hahn, der zuckende Blitz in uns hervorbringt, ist einfach
lächerlich.
2.33Obgleich, meines Erinnerns, alle musikalischen
Theoretiker auf dem Grundsatz: die Musik könne bestimmte Gefühle darstellen,
stillschweigend folgern und weiter bauen, so hinderte doch manche ein
richtiges Gefühl, ihn geradezu anzuerkennen. Der Mangel begrifflicher
Bestimmtheit in der Musik störte sie und ließ sie den Satz dahin ändern: die Tonkunst
habe nicht etwa bestimmte, wohl aber „unbestimmte Gefühle“ zu erwecken
und darzustellen. Vernünftiger Weise kann man damit nur meinen, die Musik solle die
Bewegung des Fühlens, abgezogen von dem Inhalt desselben, dem
Gefühlten, enthalten; das also, was wir das Dynamische der Affecte
genannt, und der Musik vollständig eingeräumt haben. Dies Element der Tonkunst ist
aber kein „Darstellen unbestimmter Gefühle.“ Denn „Unbestimmtes“ „darstellen“ ist
ein
Widerspruch. Seelenbewegungen als Bewegungen an sich, ohne Inhalt, sind kein
Gegenstand künstlerischer Verkörperung, weil diese ohne die Frage: was
[25] bewegt
sich, oder wird bewegt, nirgend Hand anlegen kann. Das Richtige an dem Satz, nämlich
die involvirte Forderung, Musik solle kein bestimmtes Gefühl schildern,
ist ein lediglich negatives Moment. Was aber ist das
Positive, das Schöpferische im musikalischen Kunstwerk? Ein
unbestimmtes Fühlen als solches ist kein Inhalt; soll eine Kunst sich
dessen bemächtigen, so kommt Alles darauf an, wie es
geformt wird. Jede Kunstthätigkeit besteht aber in dem
Individualisiren allgemeiner Ideen, in dem Prägen des
Bestimmten aus dem Unbestimmten, des Besondern aus dem Allgemeinen.
Die Theorie der „unbestimmten Gefühle“ verlangt das gerade Gegentheil. Man ist hier
noch schlimmer daran, als bei dem früheren Satz; man soll glauben, daß die Musik
etwas darstelle, und weiß doch niemals was? Sehr einfach ist von hier der kleine
Schritt zu der Erkenntniß, daß die Musik gar keine, weder bestimmte noch
unbestimmte Gefühle schildert. Welcher Musiker hätte aber diese durch unvordenklichen
Besitz ersessene Reichsdomäne seiner Muse aufgeben wollen? 3
2.34Unser Resultat ließe vielleicht noch der Meinung Raum, daß die Darstellung bestimmter Gefühle für die Musik zwar ein Ideal sei, das sie niemals ganz erreichen, dem sie sich aber immer mehr nähern könne und solle. Die vielen genialen Redensarten von der Tendenz der Musik, die Schranken ihrer Unbestimmtheit zu durchbrechen und concrete Sprache zu werden, die beliebten Lobpreisungen solcher Musik, an welcher man dies Bestreben wahrnimmt, oder wahrzunehmen vermeint, sprechen für die wirkliche Verbreitung solcher Ansicht.
[26]
2.35Allein noch entschiedener, als wir die Möglichkeit musikalischer Gefühlsdarstellung bekämpften, haben wir die Meinung abzuwehren, als könne diese jemals das ästhetische Princip der Tonkunst abgeben.
2.36Das Schöne in der Musik würde mit der Genauigkeit der Gefühlsdarstellung auch dann nicht congruiren, wenn diese möglich wäre. Nehmen wir diese Möglichkeit für einen Moment an, um uns praktisch zu überzeugen.
2.37Offenbar können wir diese Fiction nicht an der Instrumentalmusik versuchen, welche die Nachweisung bestimmter Affecte von selbst verwehrt, sondern nur an der Vocalmusik, der das Betonen vorgezeichneter Seelenzustände zukommt.
2.38Hier bestimmen die dem Componisten vorliegenden
Worte das zu schildernde Object; die Musik hat die Macht es zu
beleben, zu commentiren, ihm in mehr oder weniger hohem Grade den Ausdruck
individueller Innerlichkeit zu verleihen. Sie thut dies durch möglichste
Charakteristik der Bewegung und Zuspitzung der den Tönen innewohnenden Symbolik. Faßt
sie als Hauptgesichtspunkt den Text ins Auge, und nicht die eigene ausgeprägte
Schönheit, so kann sie es zu hoher Individualisirung, ja zu dem Scheine bringen, sie
allein stelle wirklich das Gefühl dar, welches in den Worten bereits unverrückbar,
wenngleich steigerungsfähig vorlag. Diese Tendenz erreicht in der Wirkung etwas
Aehnliches dem vergeblichen „Darstellen eines Affectes als Inhalt des
bestimmten Musikstücks.“ Gesetzt der Fall, jene wirkliche und diese angebliche Kraft
der Tonkunst wären congruent, die Gefühlsdarstellung möglich und
Inhalt der Musik, so würden wir folgerichtig solche Compositionen die
vollkommensten nennen, welche die Aufgabe am bestimmtesten lösen. Allein
wer kennt nicht Tonwerke von höchster Schönheit ohne solchen Inhalt?
Umgekehrt giebt es Vocalcompositionen, welche ein bestimmtes Gefühl aufs Genaueste,
innerhalb der eben erklärten Grenzen abzuconterfeien suchen, und welchen die
Wahrheit dieses Schilderns über jedes andere Princip geht. Bei
näherer Betrachtung derselben gelangen wir zu dem Ergebniß, daß das rücksichtslose
Anschmiegen solcher musikalischen Schilderung meist in umgekehrtem Verhältniß steht
zu ihrer selbstständigen Schönheit, daß also die
[27] declamatorisch-dramatische Genauigkeit und die musikalische
Vollendung nur die Hälfte Weges mit einander fortschreiten, dann aber sich
trennen.
2.39Am deutlichsten zeigt dies das Recitativ, als diejenige Form, welche am unmittelbarsten und bis auf den Accent des einzelnen Wortes sich dem declamatorischen Ausdruck anschmiegt, nicht mehr anstrebend, als einen getreuen Abguß bestimmter, meist rasch wechselnder Gemüthszustände. Dies müßte, als wahre Verkörperung jener Lehre, die höchste, vollkommenste Musik sein; in der That aber sinkt diese im Recitativ ganz zur Dienerin herab, sie verliert jede selbstständige Bedeutung. Ein Beweis, daß der Ausdruck bestimmter Seelenvorgänge mit der Aufgabe der Musik nicht congruirt, sondern in ihrer letzten Consequenz derselben hemmend entgegensteht. Man spiele ein längeres Recitativ mit Hinweglassung der Worte, und frage dann nach seinem musikalischen Werth und Bedeuten? Diese Probe muß aber jede Musik aushalten, welcher allein wir die hervorgebrachte Wirkung zuschreiben sollen.
2.40Keineswegs auf das Recitativ beschränkt, können wir vielmehr an den höchsten und erfülltesten Kunstformen dieselbe Bestätigung finden, wie die musikalische Schönheit stets geneigt sei, dem speciell Ausdrückenden zu weichen, weil jene ein selbstständiges Entfalten, dieses ein dienendes Verleugnen erheischt.
2.41Dem declamatorischen Princip im Recitativ
entspricht das dramatische in der Oper. Die Finale in Mozartʼs Opern stehen im
richtigsten Einklang mit ihrem Text. Hört man sie ohne diesen, so werden
Mittelglieder etwa unklar bleiben, die Hauptpartien und deren Ganzes aber an sich
schöne Musik sein. Das gleichmäßige Genügen an die musikalischen und die dramatischen
Anforderungen gilt bekanntlich darum mit Recht für das Ideal der Oper. Daß jedoch
das
Wesen derselben eben dadurch ein steter Kampf ist zwischen dem Princip
der dramatischen Genauigkeit und dem der musikalischen Schönheit, ein unaufhörliches
Concediren des einen an das andere, dies ist meines Wissens nie erschöpfend
entwickelt worden. Nicht die Unwahrheit, daß sämmtliche handelnde Personen
singen, macht das Princip der Oper schwankend und schwierig, – solche
Illusionen geht die Phantasie mit großer Leichtigkeit ein – die unfreie Stellung
[28] aber,
welche Musik und Text zu einem fortwährenden Ueberschreiten oder Nachgeben zwingt,
macht, daß die Oper wie ein constitutioneller Staat auf einem steten Kampfe zweier
berechtigter Gewalten beruht. Dieser Kampf, in dem der Künstler bald das eine, bald
das andere Princip muß siegen lassen, ist der Punkt, aus welchem alle
Unzulänglichkeiten der Oper entspringen, und alle Kunstregeln auszugehen haben,
welche eben für die Oper Entscheidendes sagen wollen. In ihre
Consequenzen verfolgt, müssen das musikalische und das dramatische Princip einander
nothwendig durchschneiden. Nur sind die beiden Linien lang genug, um dem menschlichen
Auge eine beträchtliche Strecke hindurch parallel zu scheinen.
2.42Dasselbe gilt vom Tanze, wie wir in jedem Ballet beobachten können. Je mehr er die schöne Rhythmik seiner Formen verläßt, um mit Gestikulation und Mimik sprechend zu werden, bestimmte Gedanken und Gefühle auszudrücken, desto mehr nähert er sich der formlosen Bedeutsamkeit der bloßen Pantomime. Die Steigerung des dramatischen Princips im Tanze wird im selben Maß eine Verletzung seiner plastisch-rhythmischen Schönheit. Ganz, wie ein gesprochenes Drama oder ein reines Instrumentalwerk, vermag eine Oper nie dazustehen. Darum wird das Augenmerk des echten Operncomponisten wenigstens ein stetes Verbinden und Vermitteln sein, niemals ein principiell unverhältnißmäßiges Vorherrschen des einen oder des andern Momentes. Im Zweifel wird er sich aber für die Bevorzugung der musikalischen Forderung entscheiden, denn die Oper ist vorerst Musik, nicht Drama. Man kann dies leicht an der eigenen, sehr verschiedenen Intention ermessen, mit der man ein Drama besucht, oder aber eine Oper desselben Sujets. Die Vernachlässigung des musikalischen Theils wird uns immer weit empfindlicher treffen. 4
2.43Die größte kunstgeschichtliche Bedeutung des
berühmten Streites zwischen den Gluckisten und den
Piccinisten liegt für uns darin, daß dabei der innere Conflict der
Oper durch den Widerstreit ihrer beiden Factoren, des musikalischen
und des dramatischen, zum erstenmal ausführlich zur Sprache kam. Freilich geschah
dies ohne ein wissenschaftliches Bewußtsein von der principiellen unermeßlichen
Bedeutung des Entscheides. Wer, wie Schreiber dieser Zeilen, sich die lohnende Mühe
nicht gereuen läßt, auf die Quellen jenes Musikstreites selbst zurückzugehen, 5 wird wahrnehmen, wie darin auf der reichen Skala
zwischen Grobheit und Schmeichelei die ganze witzige Fechtergewandtheit französischer Polemik herrscht, zugleich
aber eine solche Unmündigkeit in der Auffassung des principiellen Theiles, ein
solcher Mangel an tieferem Wissen, daß für die musikalische Aesthetik ein
Resultat aus diesen langjährigen Debatten nicht zu Tage steht. – Die
bevorzugtesten Köpfe:
Suard
und Abbé Arnaud
auf Gluckʼs Seite,
Marmontel
und
La Harpe
wider ihn, gingen zwar wiederholt über die Kritik Gluckʼs hinaus zu einer
principiellen Beleuchtung des dramatischen Princips in der Oper und
seines Verhältnisses zum musikalischen, allein sie behandelten dieses
Verhältniß wie eine Eigenschaft der Oper unter vielen, nicht aber als das innerste
Lebensprincip derselben. Sie hatten keine Ahnung, daß von der Entscheidung dieses
Verhältnisses die ganze Existenz der Oper abhänge. Merkwürdig ist, wie ganz nahe
insbesondere Gluckʼs Gegner einigemal dem Punkte sind, von dem aus der Irrthum des
dramatischen Princips vollkommen erschaut und besiegt werden mag. So sagt de la Harpe
im Journal de
Politique et de Litérature vom 5. October 1777:
„On objecte, quiʼil nʼest pas naturel, de chanter un air de cette nature
dans une situation passionnée, que cʼest un moyen dʼarrêter la scène et de nuir
à lʼeffet. Je trouve ces objections absolument illusoires.
[30]
Dʼabord, dès quʼon admet le chant, il faut lʼadmettre le plus beau possible, et
il nʼest pas plus naturel de chanter mal, que de chanter bien. Tous les arts
sont fondées sur des conventions, sur des données. Quand je viens à lʼopéra,
cʼest pour entendre la musique. Je nʼignore pas, quʼ
Alceste
ne faisait ses Adieux à
Admète
en chantant un air; mais comme Alceste est sur le théâtre pour chanter, si je retrouve sa douleur et
son amour dans un air bien melodieux, je jouirai de son chant en mʼintéréssant
à son infortune.“
Sollte man glauben, daß La Harpe selbst nicht erkannte, wie prächtig er da
auf festem Boden stand? Denn bald darauf läßt er sich beikommen, das Duo zwischen
Agamemnon und Achilles in der „Iphigenia“ aus dem Grunde zu bekämpfen,
„weil es sich durchaus nicht mit der Würde dieser beiden Helden vertrage,
daß sie zu gleicher Zeit redeten.“
Damit hatte er jenen festen Boden, das Princip der musikalischen
Schönheit, verlassen und verrathen, das Princip des Gegners stillschweigend, ja
unbewußt anerkennend.
2.44Je consequenter man das dramatische
Princip in der Oper rein halten will, ihr die Lebensluft der musikalischen Schönheit
entziehend, desto siecher schwindet sie dahin, wie ein Vogel unter der Luftpumpe.
Man
muß nothwendig bis zum rein gesprochenen Drama zurückkommen, womit man
wenigstens den Beweis hat, daß die Oper wirklich unmöglich ist, wenn man
nicht dem musikalischen Princip (mit vollem Bewußtsein seiner
realitätfeindlichen Natur) die Oberherrschaft in der Oper einräumt. In der wirklichen
künstlerischen Ausübung ist diese Wahrheit auch niemals geleugnet worden, und selbst
der strengste Dramatiker,
Gluck
, stellt zwar die falsche Theorie auf: Die Opernmusik habe nichts Anderes zu
sein, als eine gesteigerte Declamation, in der Ausübung bricht aber die
musikalische Natur des Mannes oft genug durch, und stets zum großen
Vortheil seines Werkes. Dasselbe gilt von Richard Wagner
, der, auf Gluckʼschen Grundsätzen fortbauend, sich manchʼ eitles Gerede hätte ersparen
können, hätte er in den Schriften des
Gluck
ʼschen Musikstreites sich informirt, wie viel von der Frage bereits längst
besprochen und erledigt worden war. Richard Wagnerʼs künstlerische
Principien haben in Julian Schmidtʼs „Geschichte der deutschen Nationalliteratur,“
2. Band, eine so vortreffliche Beurthei
[31]lung erfahren, daß wir gern darauf hinweisen können. Für unsren
Zusammenhang ist nur scharf hervorzuheben, daß der Hauptgrundsatz
Wagnerʼs, wie er ihn im ersten Band von „Oper und Drama“ ausspricht:
„Der Irrthum der Oper als Kunstgenre besteht darin, daß ein Mittel (die
Musik) zum Zweck, der Zweck (das Drama) aber zum Mittel gemacht wird,“
– gänzlich auf falschem Boden steht. Denn eine Oper, in der die Musik immer
und wirklich nur als Mittel zum dramatischen Ausdruck gebraucht wird,
ist ein musikalisches Unding.
2.45Je näher wir diese Ehe zur linken Hand betrachten, welche die musikalische Schönheit mit dem bestimmt vorgeschriebenen Inhalt eingeht, desto trügerischer kommt uns ihre Unauflöslichkeit vor.
2.46Wie kommt es, daß wir in den Beispielen aus Fidelio, den Hugenotten u. A. manche kleine Aenderung vornehmen können, welche die Richtigkeit des Gefühlsausdrucks nicht im Mindesten schwächend, doch die Schönheit des Motivs sogleich vernichtet? Das wäre unmöglich, wenn die letztere in der ersteren läge. Wie kommt es, daß manches Gesangstück, welches seinen Text tadellos ausdrückt, uns unleidlich schlecht erscheint? Vom Standpunkt des Gefühlsprincips kann man ihm nicht beikommen. Was bleibt also für das Princip des Schönen in der Tonkunst, nachdem wir die Gefühle, als dafür unzureichend, abgelehnt?
2.47Ein ganz andres selbstständiges Element, das wir sogleich näher betrachten wollen.
3.1Wir sind bisher negativ zu Werke gegangen und haben lediglich die irrige Voraussetzung abzuwehren gesucht, daß das Schöne der Musik in dem Darstellen von Gefühlen bestehen könne.
3.2Nun haben wir den positiven Gehalt zu jenem Umriß hinzuzubringen, indem wir die Frage beantworten, welcher Natur das Schöne einer Tondichtung sei?
3.3
Es ist ein specifisch Musikalisches. Darunter verstehen
[32] wir ein
Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von Außen her kommenden Inhaltes,
einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt. Die sinnvollen
Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr Zusammenstimmen und Widerstreben, ihr
Fliehen und sich Erreichen, ihr Aufschwingen und Ersterben, – dies ist, was in freien
Formen vor unser geistiges Anschauen tritt und als schön gefällt.
3.4Das Urelement der Musik ist Wohllaut, ihr Wesen Rhythmus. Rhythmus im Großen, als die Uebereinstimmung eines symmetrischen Baues, und Rhythmus im Kleinen, als die wechselnd-gesetzmäßige Bewegung einzelner Glieder im Zeitmaß. Das Material, aus dem der Tondichter schafft, und dessen Reichthum nicht verschwenderisch genug gedacht werden kann, sind die gesammten Töne, mit der in ihnen ruhenden Möglichkeit zu verschiedener Melodie, Harmonie und Rhythmisirung. Unausgeschöpft und unerschöpflich waltet vor Allem die Melodie, als Grundgestalt musikalischer Schönheit; mit tausendfachem Verwandeln, Umkehren, Verstärken bietet ihr die Harmonie immer neue Grundlagen; beide vereint bewegt der Rhythmus, die Pulsader musikalischen Lebens, und färbt der Reiz mannigfaltiger Klangfarben.
3.5Frägt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen. Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbstständiges Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel oder Material zur Darstellung von Gefühlen und Gedanken, wenn sie gleich in hohem Grad jene symbolische, die großen Weltgesetze wiederspiegelnde Bedeutsamkeit besitzen kann, welche wir in jedem Kunstschönen vorfinden.
3.6 Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.
3.7In welcher Weise uns die Musik schöne
Formen ohne den Inhalt eines bestimmten Affectes bringen kann, zeigt uns
recht treffend ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die
Arabeske. Wir erblicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend,
dort kühn emporstrebend, sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen
correspondirend, scheinbar incommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein
Gegen- oder Seitenstück begrüßend,
[33] eine
Sammlung kleiner Einzelnheiten, und doch ein Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske
nicht todt und ruhend, sondern in fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen
entstehend. Wie die starken und die feinen Linien einander verfolgen, aus kleiner
Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann wieder senken, sich erweitern,
zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und Anspannung das Auge stets neu
überraschen! Da wird das Bild schon höher und würdiger. Denken wir uns vollends diese
lebendige Arabeske als thätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der die
ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung ergießt, wird
dieser Eindruck dem musikalischen nicht sehr nahekommend sein?
3.8Jeder von uns hat als Kind sich wohl an dem wechselnden Farben- und Formenspiel eines Kaleidoscops ergötzt. Ein solches Kaleidoscop auf incommensurabel höherer Erscheinungsstufe ist Musik. Sie bringt in stets sich entwickelnder Abwechslung schöne Formen und Farben, sanft übergehend, scharf contrastirend, immer symmetrisch und in sich erfüllt. Der Hauptunterschied ist, daß solch unserm Ohr vorgeführtes Tonkaleidoscop sich als unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes giebt, jenes sichtbare aber als ein sinnreich-mechanisches Spielzeug. Will man nicht blos im Gedanken, sondern in Wirklichkeit die Erhebung der Farbe zur Musik vollziehen, und die Mittel der einen Kunst in die Wirkungen der andern einbetteln, so geräth man auf die abgeschmackte Spielerei des „Farbenclaviers,“ oder der „Augenorgel,“ deren Erfindung jedoch beweist, wie die formelle Seite beider Erscheinungen auf gleicher Basis ruhe.
3.9Sollte irgend ein gefühlvoller Musikfreund unsre Kunst durch Analogien, wie die obige herabgewürdigt finden, so entgegnen wir, es handle sich blos darum, ob die Analogien richtig seien oder nicht. Herabgewürdigt wird nichts dadurch, daß man es besser kennen lernt.
3.10Wenn man die Fülle von Schönheit nicht zu erkennen
verstand, die im rein Musikalischen lebt, so trägt die Unterschätzung des
Sinnlichen viel Schuld, welcher wir in älteren Aesthetiken zu Gunsten der
Moral und des Gemüths, in Hegel zu Gunsten der „Idee“ begegnen. Jede Kunst
geht vom Sinnlichen aus und webt darin.
[34] Die
„Gefühlstheorie“ verkennt dies, sie übersieht das Hören gänzlich und
geht unmittelbar ans Fühlen. Die Musik schaffe für das Herz, meinen sie,
das Ohr aber sei ein triviales Ding.
3.11Ja, was sie eben Ohr nennen, – für das „Labyrinth“ oder die „Eustachische Trompete“ dichtet kein Beethoven. Aber die Phantasie, die auf Gehörempfindungen organisirt ist, und welcher der Sinn etwas ganz anderes bedeutet, als ein bloßer Trichter an die Oberfläche der Erscheinungen, sie genießt in bewußter Sinnlichkeit die klingenden Figuren, die sich aufbauenden Töne und lebt frei unmittelbar in deren Anschauung.
3.12Es ist von außerordentlicher Schwierigkeit, dies selbstständige Schöne in der Tonkunst, dies specifisch Musikalische zu schildern. Da die Musik kein Vorbild in der Natur besitzt und keinen begrifflichen Inhalt ausspricht, so läßt sich von ihr nur mit trocknen technischen Bestimmungen, oder mit poetischen Fictionen erzählen. Ihr Reich ist in der That „nicht von dieser Welt.“ Allʼ die phantasiereichen Schilderungen, Charakteristiken, Umschreibungen eines Tonwerks sind bildlich oder irrig. Was bei jeder andern Kunst noch Beschreibung, ist bei der Tonkunst schon Metapher. Die Musik will nun einmal als Musik aufgefaßt sein, und kann nur aus sich selbst verstanden, in sich selbst genossen werden.
3.13Keineswegs ist das „Specifisch-Musikalische“ als
blos akustische Schönheit, oder proportionale Dimension zu verstehen, – Zweige, die
es als untergeordnet in sich begreift, – noch weniger kann von einem „ohrenkitzelnden
Spiel in Tönen“ die Rede sein und ähnlichen Bezeichnungen, womit der Mangel an
geistiger Beseelung hervorgehoben zu werden pflegt. Dadurch, daß wir auf
musikalische Schönheit dringen, haben wir den geistigen Gehalt nicht
ausgeschlossen, sondern ihn vielmehr bedingt. Denn wir anerkennen keine Schönheit
ohne Geist. Indem wir aber das Schöne in der Musik wesentlich in Formen
verlegt haben, ist schon angedeutet, daß der geistige Gehalt in engstem Zusammenhang
mit diesen Tonformen stehe. Der Begriff der „Form“ findet in der Musik eine ganz
eigenthümliche Verwirklichung. Die Formen, welche sich aus Tönen bilden,
sind nicht leere, sondern erfüllte, nicht bloße Linienbegrenzung eines Vacuums,
sondern sich von innen heraus gestaltender Geist.
[35] Der
Arabeske gegenüber ist dennoch die Musik in der That ein Bild, allein
ein solches, dessen Gegenstand wir nicht in Worte fassen und unsern Begriffen
unterordnen können. In der Musik ist Sinn und Folge, aber musikalische;
sie ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu
übersetzen nicht im Stande sind. Es liegt eine tiefsinnige Erkenntniß
darin, daß man auch in Tonwerken von „Gedanken“ spricht, und wie in der Rede
unterscheidet da das geübte Urtheil leicht echte Gedanken von bloßen Redensarten.
Ebenso erkennen wir das vernünftig Abgeschlossene einer Tongruppe, indem wir sie
einen „Satz“ nennen. Fühlen wir doch so genau, wie bei jeder logischen
Periode, wo ihr Sinn zu Ende ist, obgleich die Wahrheit beider ganz incommensurabel
dasteht.
3.14Das befriedigend Vernünftige, das an und für sich in musikalischen Formbildungen liegen kann, beruht in gewissen primitiven Grundgesetzen, welche die Natur in die Organisation des Menschen und in die äußern Lauterscheinungen gelegt hat. Das Urgesetz der „harmonischen Progression“ istʼs vorzugsweise, welches analog der Kreisform bei den bildenden Künsten den Keim der wichtigsten Weiterbildungen und die – leider fast unerklärte – Erklärung der verschiedenen musikalischen Verhältnisse in sich trägt.
3.15Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in geheimen, auf Naturgesetze gegründeten Verbindungen und Wahlverwandtschaften. Diese den Rhythmus, die Melodie und Harmonie unsichtbar beherrschenden Wahlverwandtschaften verlangen in der menschlichen Musik ihre Befolgung und stempeln jede ihnen widersprechende Verbindung zu Willkür und Häßlichkeit. Sie leben, wenngleich nicht in der Form wissenschaftlichen Bewußtseins, instinctiv in jedem gebildeten Ohr, welches demnach das Organische, Vernunftgemäße einer Tongruppe, oder das Widersinnige, Unnatürliche derselben durch bloße Anschauung empfindet, ohne daß ein logischer Begriff den Maßstab oder das tertium comparationis hierzu abgeben würde.
3.16In dieser negativen, innern Vernünftigkeit, welche dem Tonsystem durch Naturgesetze inwohnt, wurzelt dessen weitere Fähigkeit zur Aufnahme positiven Schönheitsgehaltes.
3.17Das Componiren ist ein Arbeiten des Geistes in
geistfähigem Material. Wie reichhaltig wir dies musikalische Material befunden
[36] haben,
so elastisch und durchdringbar erweist es sich für die künstlerische Phantasie. Diese
baut nicht wie der Architekt auf rohem, schwerfälligem Gestein, sondern auf der
Nachwirkung vorher verklungener Töne. Geistigerer, feinerer Natur, als jeder andre
Kunststoff nehmen die Töne willig jedwede Idee des Künstlers in sich auf. Da nun die
Tonverbindungen, in deren Verhältnissen das musikalisch Schöne ruht, nicht durch
mechanisches Aneinanderreihen, sondern durch freies Schaffen der Phantasie gewonnen
werden, so prägt sich die geistige Kraft und Eigenthümlichkeit dieser bestimmten
Phantasie dem Erzeugniß als Charakter auf. Schöpfung eines denkenden und
fühlenden Geistes hat demnach eine musikalische Composition in hohem Grade die
Fähigkeit, selbst geist- und gefühlvoll zu sein. Diesen geistigen Gehalt werden wir
in jedem musikalischen Kunstwerk fordern, doch darf er in kein andres Moment
desselben verlegt werden, als in die Tonbildungen selbst. Unsre Ansicht
über den Sitz des besondren Geistes und Gefühls einer Composition verhält sich zu
der
gewöhnlichen Meinung, wie die Begriffe Immanenz und
Transcendenz. Jede Kunst hat zum Ziel, eine in der Phantasie des
Künstlers lebendig gewordene Idee zur äußern Erscheinung zu bringen. Dies Ideelle
in
der Musik ist ein tonliches; nicht etwa begriffliches, welches erst in
Töne zu übersetzen wäre. Nicht der Vorsatz, eine bestimmte Leidenschaft musikalisch
zu schildern, sondern die Erfindung einer bestimmten Melodie ist der springende
Punkt, aus welchem jedes weitere Schaffen des Componisten seinen Ausgang nimmt. Durch
jene primitive, geheimnißvolle Macht, in deren Werkstätte das Menschenauge nun und
nimmermehr dringen wird, erklingt in dem Geist des Componisten ein Thema, ein Motiv.
Hinter die Entstehung dieses ersten Samenkorns können wir nicht
zurückgehen, wir müssen es als einfache Thatsache hinnehmen. Ist es einmal in die
Phantasie des Künstlers gefallen, so beginnt sein Schaffen, welches von diesem
Hauptthema ausgehend und sich stets darauf beziehend, das Ziel verfolgt, es in allen
seinen Beziehungen darzustellen. Das Schöne eines selbstständigen einfachen Themaʼs
kündigt sich in dem ästhetischen Gefühl mit jener Unmittelbarkeit an, welche keine
andere Erklärung duldet, als höchstens die innere Zweckmäßigkeit der
Erscheinung, die Harmonie ihrer Theile, ohne Beziehung
[37] auf ein
außerhalb existirendes Drittes. Es gefällt uns an sich wie die Arabeske, die Säule,
oder wie Produkte des Naturschönen, wie Blatt und Blume.
3.18Nichts irriger und häufiger, als die Anschauung, welche „schöne Musik“ mit und ohne geistigen Gehalt unterscheidet. Sie stellt sich die kunstreich zusammengefügte Form als etwas für sich selbst Bestehendes, die hineingegossene Seele gleichfalls als etwas Selbstständiges vor und theilt nun consequent die Compositionen in gefüllte und leere Champagnerflaschen. Der musikalische Champagner hat aber das Eigenthümliche: er wächst mit der Flasche.
3.19Ein bestimmter musikalischer Gedanke ist ohne Weiteres durch sich geistvoll, der andre gemein; diese abschließende Cadenz klingt würdig, durch Veränderung von zwei Noten wird sie platt. Mit voller Richtigkeit bezeichnen wir ein musikalisches Thema als großartig, graciös, innig, geistlos, trivial; – allʼ diese Ausdrücke bezeichnen aber den musikalischen Charakter der Stelle. Zur Charakterisirung dieses musikalischen Ausdrucks eines Motivs wählen wir häufig Begriffe aus unserem Gemüthsleben, als „stolz, mißmuthig, zärtlich, beherzt, sehnend.“ Wir können die Bezeichnungen aber auch aus andern Erscheinungskreisen nehmen, und eine Musik „duftig, frühlingsfrisch, nebelhaft, frostig“ nennen. Gefühle sind also zur Bezeichnung musikalischen Charakters nur Phänomene wie andre, welche Aehnlichkeiten dafür bieten. Derlei Epitheta mag man im Bewußtsein ihrer Bildlichkeit brauchen, ja man kann ihrer nicht entrathen, nur hüte man sich zu sagen: diese Musik schildert Stolz u. s. f.
3.20Die genaue Betrachtung aller musikalischen Bestimmtheiten eines Themaʼs überzeugt uns aber, daß es – bei aller Unerforschlichkeit der letzten, ontologischen Gründe, – doch eine Anzahl näherliegender Ursachen gibt, mit welchen der geistige Ausdruck einer Musik in genauem Zusammenhang steht. Jedes einzelne musikalische Element (d. h. jedes Intervall, jede Klangfarbe, jeder Accord, jeder Rhythmus u. s. f.) hat seine eigenthümliche Physiognomie, seine bestimmte Art zu wirken. Unerforschlich ist der Künstler, erforschlich das Kunstwerk.
3.21 & 3.22Dasselbe Thema klingt anders über dem
Dreiklang, als über einem Septaccord, ein Melodienschritt in die Septime trägt ganz
[38]
andren Charakter als die Sexte; der Rhythmus, der ein Motiv begleitet, ob laut oder
leise, von dieser oder jener Klanggattung, ändert dessen specifische Färbung, kurz,
jeder einzelne musikalische Faktor einer Stelle trägt dazu mit Nothwendigkeit bei,
daß sie gerade diesen geistigen Ausdruck annimmt, so und nicht anders
auf den Hörer wirkt. Was die
Halevy
ʼsche Musik bizarr, die
Auber
ʼsche graciös macht, was die Eigenthümlichkeit bewirkt, an der wir sogleich
Mendelssohn
,
Spohr
erkennen, dies Alles läßt sich auf rein musikalische
Bestimmungen zurückführen, ohne Berufung auf das räthselhafte Gefühl.
Warum die häufigen Quintsext-Accorde, die engen, diatonischen Themen
bei
Mendelssohn
, die Chromatik und Enharmonik bei
Spohr
, die kurzen, zweitheiligen Rhythmen bei
Auber
u. s. w. gerade diesen bestimmten, unvermischbaren Eindruck erzeugen, dies
kann freilich weder die Psychologie, noch die Physiologie beantworten.
3.23Wenn man jedoch nach der nächsten bestimmenden Ursache fragt, und darauf kömmt es ja in der Kunst vorzüglich an, so liegt die leidenschaftliche Einwirkung eines Themaʼs nicht in dem vermeintlich übermäßigen Schmerz des Componisten, sondern in dessen übermäßigen Intervallen, nicht in dem Zittern seiner Seele, sondern im Tremolo der Pauken, nicht in seiner Sehnsucht, sondern in der Chromatik. Der Zusammenhang Beider soll keineswegs ignorirt, vielmehr bald näher betrachtet werden, festzuhalten ist aber, daß der wissenschaftlichen Untersuchung über die Wirkung eines Themaʼs nur jene musikalischen Faktoren unwandelbar und objectiv vorliegen, niemals die vermuthliche Stimmung, welche den Componisten dabei erfüllte. Will man von dieser unmittelbar auf die Wirkung des Werkes folgern, oder diese aus jener erklären, so kann der Schlußsatz vielleicht richtig ausfallen, aber das wichtigste Mittelglied der Deduction, nämlich die Musik selbst, wurde übersprungen.
3.24Die praktische Kenntniß des Charakters
jedes musikalischen Elementes hat der tüchtige Componist, sei es in mehr instinctiver
oder bewußter Weise, inne. Zur wissenschaftlichen Erklärung der verschiedenen
musikalischen Wirkungen und Eindrücke gehört jedoch eine theoretische
Kenntniß der genannten Charaktere von ihrer reichsten Zusammensetzung bis in das
letzte unterscheidbare Element. Der be
[39]stimmte Eindruck, mit welchem eine Melodie Macht über uns gewinnt, ist
nicht schlechthin „räthselhaftes, geheimnißvolles Wunder,“ das wir nur „fühlen und
ahnen“ dürfen, sondern unausbleibliche Consequenz der musikalischen Faktoren, welche
in dieser bestimmten Verbindung wirken. Ein knapper oder weiter Rhythmus, diatonische
oder chromatische Fortschreitung, – Alles hat seine charakteristische Physiognomie
und besondre Art uns anzusprechen; so daß es dem gebildeten Musiker eine ungleich
deutlichere Vorstellung von dem Ausdruck eines ihm fremden Tonstücks gibt, daß z. B.
zu viel verminderte Septaccorde und Tremolo darin seien, als die poetischeste
Schilderung der Gefühlskrisen, welche der Referent dabei durchgemacht.
3.25Die Erforschung der Natur jedes einzelnen
musikalischen Elementes, seines Zusammenhanges mit einem bestimmten Eindruck (– nur
der Thatsache, nicht des letzten Grundes –) endlich die Zurückführung dieser
speciellen Beobachtungen auf allgemeine Gesetze: das wäre jene „philosophische
Begründung der Musik,“ welche so viele Autoren ersehnen, ohne uns nebenbei
mitzutheilen, was sie darunter eigentlich verstehen. Die psychische und physische
Einwirkung jedes Accords, jedes Rhythmus, jedes Intervalls wird aber nimmermehr
erklärt, indem man sagt: dieser ist Roth, jener Grün, oder dieser Hoffnung, jener
Mißmuth, sondern nur durch Subsumirung der specifisch musikalischen Eigenschaften
unter allgemeine ästhetische Kategorien und dieser unter Ein oberstes Princip. Wären
dergestalt die einzelnen Faktoren in ihrer Isolirung erklärt, so müßte weiter gezeigt
werden, wie sie einander in den verschiedensten Combinationen bestimmen
und modificiren. Der Harmonie und der contrapunktischen
Begleitung haben die meisten Tongelehrten eine vorzügliche Stellung zu dem geistigen
Gehalt der Composition eingeräumt. Nur ging man in dieser Vindication
viel zu oberflächlich und atomistisch zu Werke. Man setzte die Melodie
als Eingebung des Genies, als Trägerin der Sinnlichkeit und des Gefühls (– bei dieser
Gelegenheit erhielten die Italiener ein gnädiges Lob –), im Gegensatz
zur Melodie wurde die Harmonie als Trägerin des gediegenen Gehaltes
aufgeführt, als erlernbar und Produkt des Nachdenkens. Es ist seltsam, wie lange man
sich mit einer so dürftigen Anschauungsweise zufrieden stellen konnte. Beiden
Behauptungen
[40] liegt ein Richtiges zu Grunde, doch gelten sie weder in dieser
Allgemeinheit, noch kommen sie in solcher Isolirung vor. Der Geist ist Eins und die
musikalische Erfindung eines Künstlers gleichfalls. Melodie und Harmonie eines
Themaʼs entspringen zugleich in Einer Rüstung aus dem Haupt des Tondichters. Weder
das Gesetz der Unterordnung noch des Gegensatzes trifft das Wesen des
Verhältnisses der Harmonie zur Melodie. Beide können hier gleichzeitige
Entfaltungskraft ausüben, dort sich einander freiwillig unterordnen, – in dem einen
wie dem andern Fall kann die höchste geistige Schönheit erreicht werden. Istʼs etwa
die (ganz fehlende) Harmonie in den Hauptmotiven zu Beethovenʼs Coriolan- und Mendelssohnʼs Hebriden-Ouvertüre, was ihnen den Ausdruck
gedankenreichen Tiefsinns verleiht? Wird man
Rossiniʼs Thema „o Mathilde“ oder ein neapolitanisches Volkslied mit mehr Geist erfüllen,
wenn man einen basso continuo, oder complicirte Accordenfolgen an die Stellen des
nothdürftigen Harmoniegeländes setzt? Diese Melodie mußte mit
dieser Harmonie zugleich erdacht werden, mit diesem
Rhythmus und dieser Klanggattung. Der geistige Gehalt kommt nur dem
Verein Aller zu, und die Verstümmlung Eines Gliedes verletzt den
Ausdruck auch der übrigen. Das Vorherrschen der Melodie oder der
Harmonie, oder des Rhythmus kommt dem Ganzen zu Gute, und hier allen Geist in den
Accorden, dort alle Trivialität in deren Mangel zu finden, ist baare Schulmeisterei.
Die Camelie kommt duftlos zu Tage, die Lilie farblos, die Rose prangt für beide Sinne
– das läßt sich nicht übertragen, und ist doch jede von ihnen schön!
3.26So hätte die „philosophische Begründung der Musik“ vorerst zu erforschen, welche nothwendigen geistigen Bestimmtheiten mit jedem musikalischen Element verbunden sind, und wie sie mit einander zusammenhängen. Die doppelte Forderung eines streng wissenschaftlichen Geripps und einer höchst reichhaltigen Casuistik machen die Aufgabe zu einer sehr schwierigen, aber kaum unüberwindlichen, es wäre denn, daß man das Ideal einer „exacten“ Musikwissenschaft, nach dem Muster der Chemie oder Physiologie erstrebte!
3.27Die Art, wie der Akt des Schaffens im Tondichter
vorgeht, gibt uns den sichersten Einblick in das Eigenthümliche des musikalischen
[41]
Schönheitsprincips. Diese schaffende Thätigkeit ist eine durchaus analytische. Eine
musikalische Idee entspringt primitiv in des Tondichters Phantasie,
er spinnt sie weiter, – es schießen immer mehr und mehr Krystalle an, bis unmerklich
die Gestalt des ganzen Gebildes in ihren Hauptformen vor ihm steht, und nur die
künstlerische Ausführung prüfend, messend, abändernd hinzuzutreten hat. An die
Darstellung eines bestimmten Inhaltes denkt der Tonsetzer nicht. Thut er es, so
stellt er sich auf einen falschen Standpunkt, mehr neben als in der Musik. Seine
Composition wird die Uebersetzung eines Programms in Töne, welche dann
ohne jenes Programm unverständlich bleiben. Wir verkennen weder noch unterschätzen
wir
Berliozʼ außerordentliches Talent, wenn wir an dieser Stelle seinen
Namen nennen.
3.28Wie aus dem gleichen Marmor der eine Bildhauer bezaubernde Formen, der andre eckiges Ungeschick heraushaut, so gestaltet sich die Tonleiter unter verschiedenen Händen zur Beethovenʼschen Symphonie, oder zur Verdiʼschen. Was unterscheidet die Beiden? Etwa, daß die eine höhere Gefühle, oder dieselben Gefühle richtiger darstellt? Nein, sondern daß sie schönere Tonformen bildet. Nur dies macht eine Musik gut oder schlecht, daß ein Componist ein geistsprühendes Thema einsetzt, der andre ein bornirtes, daß der Erstere nach allen Beziehungen immer neu und bedeutend entwickelt, der Letztere seines wo möglich immer schlechter macht, die Harmonie des einen wechselvoll und originell sich entfaltet, während die zweite vor Armuth nicht vom Flecke kommt, der Rhythmus hier ein lebenswarm hüpfender Puls ist, dort ein Zapfenstreich.
3.29Es gibt keine Kunst, welche so bald und so viele
Formen verbraucht, wie die Musik. Modulationen, Cadenzen,
Intervallenfortschreitungen. Harmonienfolgen nützen sich in 50, ja 30 Jahren
dergestalt ab, daß der geistvolle Componist sich deren nicht mehr bedienen kann und
fortwährend zur Erfindung neuer, rein musikalischer Züge gedrängt wird. Man kann von
einer Menge Compositionen, die hoch über den Alltagstand ihrer Zeit stehen, ohne
Unrichtigkeit sagen, daß sie einmal schön waren. Die Phantasie des
geistreichen Künstlers wird nun aus den geheim-ursprünglichen
Beziehungen der musikalischen Elemente und ihrer unzählbar möglichen Com
[42]binationen die feinsten, verborgensten entdecken, sie wird Tonformen
bilden, die aus freister Willkür erfunden und doch zugleich durch ein unsichtbar
feines Band mit der Nothwendigkeit verknüpft erscheinen. Solche Werke oder
Einzelnheiten derselben werden wir ohne Bedenken „geistreich“ nennen. Hiermit
berichtigt sich leicht
Oulibicheffʼs mißverständliche Ansicht, eine Instrumentalmusik
könne nicht geistreich sein, indem
„für einen Componisten der Geist einzig und allein in einer gewissen
Anwendung seiner Musik auf ein directes oder
indirectes Programm bestehe.“
Es wäre unsrer Ansicht nach ganz richtig, das berühmte dis in dem Allegro der
„Don Juan“-Ouvertüre oder den
absteigenden Unisonogang darin einen geistreichen Zug zu nennen, – nun und nimmermehr
hat aber das erstere (wie Oulibicheff meint)
„die feindliche Stellung Don Juanʼs gegen das
Menschengeschlecht,“
und letzterer die Väter, Gatten, Brüder und Liebhaber der von Don Juan verführten Frauen vorgestellt. Sind alle diese Deutungen an sich
schon vom Uebel, so werden sie es doppelt bei
Mozart
, welcher, – die musikalischste Natur, so die Kunstgeschichte aufzuweisen hat,
– Alles was er nur berührt hat in Musik verwandelte.
Oulibicheff
sieht auch in der G-moll-Symphonie die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe in 4
verschiedenen Phasen genau ausgedrückt. Die G-moll-Symphonie ist Musik und weiter nichts. Das ist jedenfalls genug. Man
suche nicht die Darstellung bestimmter Seelenprocesse oder Ereignisse in Tonstücken,
sondern vor Allem Musik, und man wird rein genießen, was sie vollständig
gibt. Wo das Musikalisch-Schöne fehlt, wird das Hineinklügeln einer großartigen
Bedeutung es nie ersetzen, und dieses ist unnütz, wo jenes existirt. Auf alle Fälle
bringt es die musikalische Auffassung in eine ganz falsche Richtung. Dieselben Leute,
welche der Musik eine Stellung unter den Offenbarungen des menschlichen Geistes
vindiciren wollen, welche sie nicht hat und nie erlangen wird, weil sie nicht im
Stande ist, Ueberzeugungen mitzutheilen, – dieselben Leute haben auch
den Ausdruck „Intention“ in Schwang gebracht. In der Tonkunst gibtʼs keine
„Intention“ in dem beliebten technischen Sinne. Was nicht zur Erscheinung kommt, ist
in der Musik gar nicht da, was aber zur Erscheinung gekommen ist, hat aufgehört,
bloße Intention zu sein. Der Ausspruch: „Er hat Intentionen,“ wird meist in lobender
Absicht angewandt, – mir däucht er eher ein Tadel, welcher in trockenes Deutsch
übersetzt etwa lauten würde: Der Künstler möchte wohl, jedoch er kann nicht.
Kunst kommt aber von Können, wer nichts kann, – hat
„Intentionen.“
[43]
3.30Wie das Schöne eines Tonstücks lediglich in dessen musikalischen Bestimmungen wurzelt, so folgen auch die Gesetze seiner Construction nur diesen. Es herrschen darüber eine Menge schwankender, irriger Ansichten, von welchen hier nur Eine angeführt werden mag.
3.31Dies ist nämlich die aus der Gefühlsanschauung hervorgegangene landläufige Theorie der Sonate und Symphonie. Der Tonsetzer, heißt es, habe vier von einander verschiedene Seelenzustände, die aber mit einander (wie?) zusammenhängen, in den einzelnen Sätzen der Sonate darzustellen. Um den unläugbaren Zusammenhang der Sätze zu rechtfertigen und ihre verschiedene Wirkung zu erklären, zwingt man ordentlich den Zuhörer, ihnen bestimmte Gefühle als Inhalt zu unterlegen. Die Deutung paßt manchmal, öfter auch nicht, niemals mit Nothwendigkeit. Dies aber wird immer mit Nothwendigkeit passen, daß vier Tonsätze zu einem Ganzen verbunden sind, welche nach musikalisch-ästhetischen Gesetzen sich abzuheben und zu steigern haben. Wir verdanken dem phantasiereichen Maler M. v. Schwind eine sehr anziehende Illustration der Clavierphantasie op. 80 von Beethoven , deren einzelne Sätze der Künstler als zusammenhängende Ereignisse derselben Hauptpersonen auffaßte und bildlich darstellte. Gerade so wie der Maler Scenen und Gestalten aus den Tönen heraussieht, so legt der Zuhörer Gefühle und Ereignisse hinein. Beides hat damit einen gewissen Zusammenhang, aber keinen nothwendigen, und nur mit diesem haben es wissenschaftliche Gesetze zu thun.
3.32Man pflegt oft anzuführen, daß Beethoven beim Entwurf
mancher seiner Compositionen sich bestimmte Ereignisse oder Seelenzustände gedacht
haben soll. Wo Beethoven oder irgend ein andrer Tonsetzer diesen Vorgang beobachtete,
benützte er ihn blos als Hülfsmittel, sich durch den Zusammenhang eines objectiven
Ereignisses das Festhalten der musikalischen Einheit zu erleichtern. Diese Einheit
der musikalischen Stimmung istʼs, was die vier Sätze einer Sonate als
organisch verbunden charakterisirt, nicht aber der Zusammenhang mit
[44] dem vom
Componisten gedachten Objecte. Wo dieser seiner Phantasie solchʼ
poetisches Gängelband versagte, und rein musikalisch erfand (– dies ist die Regel
–)
da wird man keine andre Einheit der Theile finden, als eine musikalische. Es ist
ästhetisch gleichgültig, ob sich Beethoven allenfalls bei seinen sämmtlichen
Compositionen bestimmte Vorwürfe gewählt, wir kennen sie nicht, sie sind daher für
das Werk nicht existirend. Dieses selbst ohne allen Commentar istʼs was vorliegt,
und
wie der Jurist aus der Welt herausfingirt, was nicht in den Acten liegt, so ist für
die ästhetische Beurtheilung nicht vorhanden, was außerhalb des Kunstwerks lebt.
Erscheinen uns die Sätze einer Composition als einheitlich, so muß diese
Zusammengehörigkeit in musikalischen Bestimmungen seinen Grund
haben.
3.33Einem möglichen Mißverstehen wollen wir schließlich dadurch begegnen, daß wir unsern Begriff des „Musikalisch-Schönen“ nach drei Seiten feststellen. Das „Musikalisch-Schöne“ in dem von uns vorgenommenen specifischen Sinn beschränkt sich nicht auf das „Classische,“ noch enthält es eine Bevorzugung desselben vor dem „Romantischen.“ Es gilt sowohl in der einen als der andern Richtung, beherrscht Bach so gut als Beethoven , Mozart so gut als Schumann . Was es sei, das die Musik dieser Meister so gänzlich verschieden färbt, gäbe eine höchst fruchtbare Untersuchung, die wir uns jedoch für einen geeigneteren Ort vorbehalten müssen, da sie eine ausführliche Entwicklung der Begriffe „classisch“ und „romantisch,“ sowie eine historische Darstellung der Verschiedenheit des musikalischen Ideals erheischt. Unsere Thesis also enthält auch nicht die Andeutung einer Parteinahme. Der ganze Verlauf der gegenwärtigen Untersuchung spricht überhaupt kein Sollen aus, sondern betrachtet nur ein Sein; kein bestimmtes musikalisches Ideal läßt sich daraus als das wahrhaft Schöne deduciren, sondern blos nachweisen, was in jeder auch in den entgegengesetztesten Schulen in gleicher Weise das Schöne ist.
3.34Es ist nicht lange her, seit man angefangen hat,
Kunstwerke im Zusammenhang mit den Ideen und Ereignissen der Zeit zu betrachten,
welche sie erzeugte. Dieser unläugbare Zusammenhang besteht auch für die Musik. Eine
Manifestation des menschlichen Gei
[45]stes muß sie auch in Wechselbeziehung zu dessen übrigen Thätigkeiten
stehen: zu den gleichzeitigen Schöpfungen der dichtenden und bildenden Kunst, den
poetischen, socialen, wissenschaftlichen Zuständen ihrer Zeit, endlich den
individuellen Erlebnissen und Ueberzeugungen des Autors. Die Betrachtung und
Nachweisung dieses Zusammenhangs an einzelnen Tonkünstlern und Tonwerken ist demnach
wohl berechtigt und ein wahrer Gewinn. Doch muß man dabei sich stets in Erinnerung
halten, daß ein solches Parallelisiren künstlerischer Specialitäten mit bestimmten
historischen Zuständen ein kunstgeschichtlicher, keineswegs ein rein
ästhetischer Vorgang ist. So nothwendig die Verbindung der
Kunstgeschichte mit der Aesthetik von methodologischem Standpunkt erscheint, so muß
doch jede dieser beiden Wissenschaften ihr eigenstes Wesen vor einer unfreien
Verwechselung mit der andern rein erhalten. Mag der Historiker eine künstlerische
Erscheinung im Großen und Ganzen auffassend, in
Spontini
den „Ausdruck des französischen
Kaiserreichs,“ in
Rossini
die „politische Restauration“ erblicken, – der Aesthetiker hat
sich lediglich an die Werke dieser Männer zu halten, zu untersuchen, was
daran schön sei und warum? Die ästhetische Untersuchung weiß nichts und
darf nichts wissen von den persönlichen Verhältnissen und der geschichtlichen
Umgebung des Componisten, nur was das Kunstwerk selbst ausspricht, wird sie hören
und
glauben. Sie wird demnach in
Beethovenʼs Symphonien, auch ohne Namen und Biographie des Autors zu
kennen, ein Stürmen, Ringen, unbefriedigtes Sehnen, kraftbewußtes Trotzen
herausfinden, allein daß der Componist republikanisch gesinnt, unverheirathet, taub
gewesen, und allʼ die andern Züge, welche der Kunsthistoriker beleuchtend hinzuhält,
wird jene nimmermehr aus den Werken lesen und zur Würdigung derselben verwerthen
dürfen. Die Verschiedenheit der Weltanschauung eines
Bach
,
Mozart
,
Haydn
zu vergleichen, und den Contrast ihrer Compositionen darauf zurückzuführen,
mag für eine höchst anziehende, verdienstliche Unternehmung gelten, doch sie wird
Fehlschlüssen um so ausgesetzter sein, je strenger sie den Causalnexus darlegen
wollte. Die Gefahr der Uebertreibung ist bei Annahme dieses Princips außerordentlich
groß. Man kann da leicht den losesten Einfluß der Gleichzeitigkeit als eine innere
Nothwendigkeit darstellen und die
[46] ewig
unübersetzbare Tonsprache deuten, wie manʼs eben braucht. Es wird rein auf die
schlagfertige Durchführung desselben Paradoxons ankommen, daß es im Munde des
geistreichen Mannes eine Weisheit, in jenem des schlichten ein Unsinn erscheint.
3.35Auch Hegel hat in Besprechung der Tonkunst oft irregeführt, indem er seinen vorwiegend kunstgeschichtlichen Standpunkt unmerklich mit dem rein ästhetischen verwechselt und in der Musik Bestimmtheiten nachweist, die sie an sich niemals hatte. „Einen Zusammenhang“ hat der Charakter jedes Tonstückes mit dem seines Autors gewiß, allein er steht für den Aesthetiker nicht zu Tage; – die Idee des nothwendigen Zusammenhangs aller Erscheinungen kann in ihrer concreten Nachweisung bis zur Carricatur übertrieben werden. Es gehört heutzutage ein wahrer Heroismus dazu, dieser picanten und geistreich repräsentirten Richtung entgegenzutreten und auszusprechen, daß das „historische Begreifen“ und das „ästhetische Beurtheilen“ verschiedene Dinge sind. 6 Objectiv aber steht fest erstens: daß die Verschiedenartigkeit des Ausdrucks der verschiedenen Werke und Schulen auf einer durchgreifend verschiedenen Stellung der musikalischen Elemente beruhe, und zweitens: daß, was an einer Composition, sei es die strengste Bach ʼsche Fuge, oder das träumerischeste Notturno von Chopin mit Recht gefällt, musikalisch schön sei.
3.36Noch weniger als mit dem Classischen kann das „Musikalisch-Schöne“ mit dem Architektonischen zusammenfallen, das es als Zweig in sich faßt. Die starre Erhabenheit schwer übereinander gethürmter Figuration, die kunstreiche Verschlingung vieler Stimmen, von denen keine frei und selbstständig ist, weil es alle sind, heben ihre unvergängliche Berechtigung. Doch sind jene großartig düstern Stimmpyramiden der alten Italiener und Niederländer ebensosehr nur ein kleiner, kleiner Fleck auf dem Gebiete der musikalischen Schönheit, als die vielen zierlich ausgearbeiteten Salzfässer und silbernen Leuchter des ehrwürdigen Sebastian Bach.
[47]
3.37Viele Aesthetiker halten den musikalischen Genuß durch das Wohlgefallen am Regelmäßigen und Symmetrischen ausreichend erklärt, worin doch niemals ein Schönes, vollends ein Musikalisch-Schönes bestand. Das abgeschmackteste Thema kann vollkommen symmetrisch gebaut sein. „Symmetrie“ ist ja nur ein Verhältnißbegriff und läßt die Frage offen: „Was ist es denn, das hier symmetrisch erscheint? – Die regelmäßige Anordnung geistloser, abgenützter Theilchen wird sich gerade in den allerschlechtesten Compositionen nachweisen lassen. Der musikalische Sinn verlangt immer neue symmetrische Bildungen.
3.38Zuletzt hat für die Musik diese Platonische Ansicht Oerstedt an dem Beispiel des Kreises entwickelt, dem er positive Schönheit vindicirt. Sollte der Treffliche niemals die ganze Entsetzlichkeit einer kreisrunden Composition an sich erlebt haben?
3.39Vorsichtiger vielleicht als nothwendig sei endlich noch hinzugefügt, daß die musikalische Schönheit mit dem Mathematischen nichts zu thun habe. Die Vorstellung, welche Laien (darunter auch gefühlvolle Schriftsteller) von der Rolle hegen, welche die Mathematik in der musikalischen Composition spielt, ist eine merkwürdig vage. Nicht zufrieden damit, daß die Schwingungen der Töne, der Abstand der Intervalle, das Consoniren und Dissoniren sich auf mathematische Verhältnisse zurückführe, sind sie überzeugt, auch das Schöne einer Tondichtung gründe sich auf Zahlen. Das Studium der Harmonielehre und des Contrapunktes gilt für eine Art Cabbala, welche die „Berechnung“ der Composition lehrt.
3.40Wenn für die Erforschung des physikalischen Theils
der Tonkunst die Mathematik einen unentbehrlichen Schlüssel liefert, so möge im
fertigen Tonwerk hingegen ihre Bedeutung nicht überschätzt werden. In einer
Tondichtung, sei sie die schönste oder die schlechteste, ist gar nichts mathematisch
berechnet. Schöpfungen der Phantasie sind keine Rechenexempel. Alle
Monochord-Experimente, Klangfiguren, Intervallproportionen u. dgl. gehören nicht
hierher, das ästhetische Bereich fängt erst an, wo jene
Elementarverhältnisse in ihrer Bedeutung aufgehört haben. Die Mathematik regelt blos
den elementaren Stoff zu geistfähiger Behandlung und spielt verborgen in den
einfachsten Verhältnissen, aber der musikalische Gedanke kommt
[48] ohne
sie ans Licht. Wenn
Oerstedt
fragt:
„Sollte wohl die Lebenszeit mehrerer Mathematiker hinreichen, alle
Schönheiten einer
Mozart
’schen Symphonie zu berechnen?“
7 so bekenne ich, daß ich das nicht verstehe. Was soll
denn oder kann berechnet werden? Etwa das Schwingungsverhältniß jedes Tones zum
nächstfolgenden, oder die Längen der einzelnen Perioden gegen einander, oder was
sonst? Was eine Musik zur Tondichtung macht, und sie aus der Reihe physikalischer
Experimente hebt, ist ein Freies, Geistiges, daher unberechenbar. Am musikalischen
Kunstwerk hat die Mathematik einen ebenso kleinen, oder ebenso großen
Antheil, wie an den Hervorbringungen der übrigen Künste. Denn Mathematik muß am Ende
auch die Hand des Malers und Bildhauers führen, Mathematik webt im Gleichmaß der
Vers- und Strophenlängen, Mathematik im Bau des Architekten, in den Figuren des
Tänzers. In jeder genauen Kenntniß muß die Anwendung der Mathematik, als
Vernunftthätigkeit, eine Stelle finden.
3.41Nur eine wirklich positive, schaffende Kraft muß man ihr nicht einräumen wollen, wie dies manche Musiker, diese Conservativen der Aesthetik, gerne möchten. Es ist mit der Mathematik ähnlich, wie mit der Erzeugung der Gefühle im Zuhörer, – sie findet bei allen Künsten statt, aber großer Lärm darüber ist blos bei der Musik.
3.42Auch mit der Sprache hat man die Musik häufig zu parallelisiren und die Gesetze der ersteren für die letztere aufzustellen versucht.
3.43Die Verwandtschaft des Gesanges mit
der Sprache lag nahe genug, mochte man sich nun an die Gleichheit der physiologischen
Bedingungen halten oder an den gemeinsamen Charakter als Entäußerung des Innern durch
die menschliche Stimme. Die analogen Beziehungen sind zu auffällig, als daß wir hier
darauf einzugehen hätten, es sei demnach nur ausdrücklich eingeräumt, daß wo es sich
bei der Musik wirklich blos um die subjective Entäußerung eines inneren Dranges
handelt, in der That die Gesetzlichkeit des sprechenden Menschen
theilweise maßgebend für den singenden sein wird. Daß der in
Leidenschaft Gerathende mit der Stimme steigt, während die Stimme des sich
beruhigenden Redners fällt; daß Sätze
[49]
besonderen Gewichtes langsam, gleichgiltige Nebensachen schnell gesprochen werden,
dies und Aehnliches wird der Gesangscomponist, insbesondere der
dramatische, nicht unbeachtet lassen dürfen. Allein man hat sich mit
diesen begrenzten Analogien nicht begnügt, sondern die Musik selbst als
eine (unbestimmtere oder feinere) Sprache aufgefaßt und nun ihre
Schönheitsgesetze aus der Natur der Sprache abstrahiren wollen. Jede Eigenschaft und
Wirkung der Musik wurde auf Aehnlichkeiten mit der Sprache zurückgeführt. Wir sind
der Ansicht, daß, wo es sich um das Specifische einer Kunst handelt, ihre
Unterschiede von verwandten Gebieten wichtiger sind, als die
Aehnlichkeiten. Unbeirrt durch diese oft verlockenden, aber das eigentliche Wesen
der
Musik gar nicht treffenden Analogien muß die ästhetische Untersuchung unablässig zu
dem Punkte vordringen, wo Sprache und Musik sich unversöhnlich scheiden. Nur aus
diesem Punkte werden der Tonkunst wahrhaft fruchtbringende Bestimmungen sprießen
können. Der wesentliche Grundunterschied besteht aber darin, daß in der Sprache der
Ton nur Mittel zum Zweck eines diesem Mittel ganz
fremden Auszudrückenden ist, während in der Musik der Ton als
Selbstzweck auftritt. Die selbstständige Schönheit der Tonformen hier und
die absolute Herrschaft des Gedankens über den Ton als bloßes Ausdrucksmittel dort,
stehen sich so ausschließend gegenüber, daß eine Vermischung der beiden Principe eine
logische Unmöglichkeit ist.
3.44Der Schwerpunkt des Wesens liegt also ganz wo anders bei der Sprache und bei der Musik, und um diesen Schwerpunkt gruppiren sich alle übrigen Eigenthümlichkeiten. Alle specifisch musikalischen Gesetze werden sich um die selbstständige Bedeutung und Schönheit der Töne drehen, alle sprachlichen Gesetze um die correcte Verwendung des Lautes zum Zweck des Ausdruckes.
3.45Die schädlichsten und verwirrendsten Anschauungen
sind aus dem Bestreben hervorgegangen, die Musik als eine Art Sprache aufzufassen;
sie weisen uns täglich praktische Folgen auf. So mußte es hauptsächlich Componisten
von schwacher Schöpferkraft geeignet erscheinen, die ihnen unerreichbare
selbstständige musikalische Schönheit als ein falsches, sinnliches Princip anzusehen,
und die charakteristische Bedeutsamkeit der Musik dafür aufs Schild zu heben. Ganz
abge
[50]sehen von Richard Wagnerʼs Opern findet man in den kleinsten
Instrumentalsächelchen oft Unterbrechungen des melodischen Flusses durch abgerissene
Cadenzen, recitativische Sätze u. dgl., welche den Hörer befremdend sich anstellen,
als bedeuteten sie etwas Besonderes, während sie in der That nichts
bedeuten, als Unschönheit. Von modernen Compositionen, welche fortwährend den großen
Rhythmus durchbrechen, um mysteriöse Zwischensätze oder gehäufte Contraste
vorzudrängen, pflegt man zu rühmen: es strebe darin die Musik ihre engen Grenzen
durchzubrechen und zur Sprache sich zu erheben. Uns ist ein solches Lob
immer sehr zweideutig erschienen. Die Grenzen der Musik sind durchaus nicht eng, aber
sehr genau festgesteckt. Die Musik kann sich niemals „zur Sprache erheben,“ –
herablassen müßte man eigentlich von musikalischem Standpunkt sagen, indem die Musik
ja offenbar eine gesteigerte Sprache sein müßte. 8
3.46Das vergessen auch unsere Sänger, welche in
Momenten größten Affectes Worte, ja Sätze sprechend herausstoßen und
damit die höchste Steigerung der Musik gegeben zu haben glauben. Sie übersehen, daß
der Uebergang vom Singen zum Sprechen stets ein Sinken ist, so wie der höchste
normale Sprechton noch immer tiefer klingt als selbst die tieferen Gesangstöne
desselben Organes. Ebenso schlimm als diese praktischen Folgen, ja noch schlimmer,
weil nicht alsogleich durch das Experiment geschlagen, sind die
Theorien, welche der Musik die Entwicklungs- und Constructionsgesetze
der Sprache aufdringen wollen, wie es in älterer Zeit
Rousseau
und
Rameau
gethan, in neuerer Zeit von den Jüngern R.
Wagnerʼs versucht wird. Es wird dabei das wahrhafte Herz der Musik,
die in sie selbst befriedigte Formschönheit, durchstoßen und dem Phantom der
„Bedeutung“ nachgejagt. Eine Aesthetik der Tonkunst müßte es daher zu ihren
wichtigsten Aufgaben zählen, die Grundverschiedenheit zwischen dem Wesen der Musik
und dem der Sprache unerbittlich
[52]
darzulegen, und in allen Folgerungen das Princip festzuhalten, daß wo es sich um
Specifisch-Musikalisches handelt, die Analogien mit der Sprache jede Anwendung
verlieren.
4.1Erachten wir es gleich als Princip und erste Aufgabe der musikalischen Aesthetik, daß sie die usurpirte Herrschaft des Gefühls unter die berechtigte der Schönheit stelle, so behaupten doch die affirmativen Aeußerungen des Fühlens im praktischen Musikleben eine zu auffallende und wichtige Rolle, um durch bloße Unterordnung abgethan zu werden.
4.2 & 4.3Nachdem nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als Thätigkeit des reinen Schauens, das Organ ist, aus welchem und für welches alles Kunstschöne entsteht, so erscheint auch das musikalische Kunstwerk als ein von unserm Fühlen nicht bedingtes, specifisch ästhetisches Gebild, das die wissenschaftliche Betrachtung abgelöst von dem psychologischen Beiwerk seines Entstehens und Wirkens in seiner inneren Beschaffenheit erfassen muß. In der Wirklichkeit erweist sich aber dies begrifflich von unserm Fühlen unabhängige, selbstständige Kunstwerk als wirksame Mitte zwischen zwei lebendigen Kräften: seinem Woher und seinem Wohin, d. i. dem Componisten und dem Hörer. In dem Seelenleben dieser Beiden kann die künstlerische Thätigkeit der Phantasie nicht so zu reinem Metall ausgeschieden sein, wie sie in dem fertigen, unpersönlichen Kunstwerk vorliegt, – vielmehr wirkt sie dort stets in enger Wechselbeziehung mit Gefühlen und Empfindungen. Das Fühlen wird somit vor und nach der Schöpfung des Kunstwerkes, vorerst im Tondichter, dann im Hörer eine Bedeutung behaupten, der wir unsere Aufmerksamkeit nicht entziehen dürfen.
4.4Betrachten wir den Componisten. Ihn
wird während des Schaffens eine gehobene Stimmung erfüllen, wie sie zur Befreiung
des
Schönen aus dem Schacht der Phantasie kaum entbehrlich gedacht werden kann. Daß diese
gehobene Stimmung, nach der In
[53]dividualität des Künstlers, mehr oder minder die Färbung des werdenden
Kunstwerks annehmen, daß sie bald hoch, bald mäßiger fluthen wird, nie aber bis zum
überwältigenden Affecte, der das künstlerische Hervorbringen vereitelt, daß die klare
Besinnung hierbei wenigstens gleiche Wichtigkeit behauptet mit der Begeisterung, –
das sind bekannte, der allgemeinen Kunstlehre angehörige Bestimmungen. Was speciell
das Schaffen des Tonsetzers betrifft, so muß festgehalten werden, daß es
ein stetes Bilden ist, ein Formen in Tonverhältnissen.
Nirgend erscheint die Souverainetät des Gefühls, welche man so gern der Musik
andichtet, schlimmer angebracht, als wenn man sie im Componisten während des
Schaffens voraussetzt, und dieses als ein begeistertes Extemporiren auffaßt. Die
schrittweis vorgehende Arbeit, durch welche ein Musikstück, das dem Tondichter
anfangs nur in Umrissen vorschwebte, bis in die einzelnen Takte zur bestimmten
Gestalt ausgemeißelt wird, allenfalls gleich in der empfindlichen vielgestaltigen
Form des Orchesters, ist so besonnen und complicirt, daß sie kaum verstehen kann,
wer
nicht selbst einmal Hand daran gelegt. Nicht blos etwa fugirte oder contrapunktliche
Sätze, in welchen wir abmessend Note gegen Note halten, das fließendste Rondo, die
melodiöseste Arie erfordert, wie es unsere Sprache bedeutsam nennt, ein „Ausarbeiten“
ins Kleinste. Die Thätigkeit des Componisten ist eine in ihrer Art
plastische und jener des bildenden Künstlers vergleichbar. Eben so
wenig als dieser darf der Tondichter mit seinem Stoff unfrei verwachsen sein, denn
gleich ihm hat er ja sein (musikalisches) Ideal objectiv hinzustellen, zur reinen
Form zu gestalten.
4.5Das dürfte von
Rosenkranz
vielleicht übersehen worden sein, wenn er den Widerspruch bemerkt aber
ungelöst läßt, warum die Frauen, welche doch von Natur vorzugsweise auf
das Gefühl angewiesen sind, in der Composition nichts leisten? 9 Der Grund liegt – außer den allgemeinen Bedingungen, welche
Frauen von geistigen Hervorbringungen ferner halten – eben in dem plastischen Moment
des Componirens, das eine Entäußerung der Subjectivität nicht minder,
wenn gleich in verschiedener Richtung erheischt,
[54] als die
bildenden Künste. Wenn die Stärke und Lebendigkeit des Fühlens wirklich maßgebend
für
das Tondichten wäre, so würde der gänzliche Mangel von Componistinnen neben so
zahlreichen Schriftstellerinnen und Malerinnen schwer zu erklären sein. Nicht das
Gefühl componirt, sondern die speciell musikalische, künstlerisch geschulte Begabung.
Ergötzlich klingt es daher, wenn F. L.
Schubart
die
„meisterhaften Andantes“
des Componisten
Stanitz
ganz ernsthaft als eine natürliche
„Folge seines gefühlvollen Herzens“
darstellt 10 oder Christian
Rolle
uns versichert,
„ein leutseliger, zärtlicher Charakter mache uns geschickt, langsame Sätze
zu Meisterstücken zu bilden.“
11
4.6Ohne innere Wärme ist nichts Großes, noch Schönes im Leben vollbracht worden. Das Gefühl wird beim Tondichter, wie bei jedem Poeten, sich reich entwickelt vorfinden, nur ist es nicht der schaffende Factor in ihm. Gesetzt selbst, ein starkes, bestimmtes Pathos erfüllte ihn gänzlich, so wird dasselbe Anlaß und Weihe manches Kunstwerks werden, allein – wie wir aus der Natur der Tonkunst wissen, welche einen bestimmten Affect darzustellen weder die Fähigkeit noch den Beruf hat – niemals dessen Gegenstand.
4.7Ein inneres Singen, nicht ein inneres Fühlen treibt den musikalisch Talentirten zur Erfindung eines Tonstücks. Es ist Regel, daß die Composition rein musikalisch erdacht wird, und ihr Charakter kein Ergebniß der persönlichen Gefühle des Componisten ist. Nur ausnahmsweise extemporirt dieser die Melodien als Ausdruck eines bestimmten, ihn eben erfüllenden Affectes. Der Charakter dieses Affectes, einmal vom Kunstwerk aufgesogen, interessirt aber sodann nur mehr als musikalische Bestimmtheit, als Charakter des Stücks, nicht mehr des Componisten.
4.8Wir haben die Thätigkeit des Componirens als ein
Bilden aufgefaßt; als solches ist sie wesentlich
objectiv. Der Tonsetzer formt ein selbstständiges Schöne. Der
unendlich ausdrucksfähige, geistige Stoff der Töne läßt es zu, daß die Subjectivität
des in ihnen Bildenden sich in der Art seines Formens auspräge. Da
[55] schon
den einzelnen musikalischen Elementen ein charakteristischer Ausdruck eignet, so
werden vorherrschende Charakterzüge der Componisten: Sentimentalität, Energie,
Nettigkeit, sich durch die consequente Bevorzugung gewisser Tonarten, Rhythmen,
Uebergänge recht wohl nach den allgemeinen Momenten abdrücken, welche
die Musik wiederzugeben fähig ist. Was der gefühlvolle und was der geistreiche
Componist bringt, der graziöse oder der erhabene, ist zuerst und vor Allem
Musik (objectives Gebilde). Principiell untergeordnet bleibt das
subjective Moment immer, nur wird es nach Verschiedenheit der
Individualität in ein verschiedenes Größenverhältniß zu dem objectiven treten. Man
vergleiche vorwiegend subjective Naturen, denen es um Aussprache ihrer gewaltigen
oder sentimentalen Innerlichkeit zu thun ist (Beethoven, Spohr), im Gegensatz zu
klar Formenden (Mozart, Mendelssohn). Ihre Werke werden sich von einander durch unverkennbare
Eigenthümlichkeiten unterscheiden, und als Gesammtbild die Individualität ihrer
Schöpfer abspiegeln, doch wurden sie alle, die einen wie die andern, als
selbstständiges Schöne, rein musikalisch um ihretwillen erschaffen, und erst
innerhalb der Grenzen dieses künstlerischen Bildens mehr oder weniger subjectiv
ausgestattet. Ins Extrem gesteigert, läßt sich daher wohl eine Musik denken, welche
blos Musik, aber keine, die blos Gefühl wäre.
4.9Nicht das thatsächliche Gefühl des Componisten, als
eine blos subjective Affection, ist es, was die gleiche Stimmung in den Hörern
wachruft. Räumt man der Musik solchʼ eine zwingende Macht ein, so anerkennt man
dadurch etwas Objectives in ihr, denn nur dieses zwingt in allem
Schönen. Dies Objective sind hier die musikalischen Bestimmtheiten eines
Tonstücks. Streng ästhetisch können wir von irgend einem Thema sagen: es
klinge stolz oder trübe, nicht aber: es sei ein Ausdruck der stolzen
oder trüben Gefühle des Componisten. Noch ferner liegen dem Charakter eines Tonwerkes
die socialen und politischen Verhältnisse, welche seine Zeit beherrschten. Jener
musikalische Ausdruck des Themaʼs ist nothwendige Folge seiner so und
nicht anders gewählten Tonfactoren, daß diese Wahl aus psychologischen oder
kulturgeschichtlichen Ursachen hervorging, müßte an dem bestimmten Werke (nicht blos
aus Jahreszahl und Geburtsort) nachgewiesen werden, und nachgewiesen, wäre dieser
[56]
Zusammenhang zunächst eine lediglich historische oder biographische Thatsache. Die
ästhetische Betrachtung kann sich auf keine Umstände stützen, die
außerhalb des Kunstwerkes selbst liegen.
4.10So gewiß die Individualität des Componisten in seinen Schöpfungen einen symbolischen Ausdruck finden wird, so irrig wäre es, aus diesem persönlichen Moment Begriffe ableiten zu wollen, die ihre wahrhafte Begründung nur in der Objectivität des künstlerischen Bildens finden. Dahin gehört der Begriff des Styls. 12
4.11Wir möchten den Styl in der Tonkunst von Seite seiner musikalischen Bestimmtheiten aufgefaßt wissen, als die vollendete Technik, wie sie im Ausdruck des schöpferischen Gedankens als Gewöhnung erscheint. Der Meister bewährt „Styl,“ indem er die klar erfaßte Idee verwirklichend, alles Kleinliche, Unpassende, Triviale wegläßt und so in jeder technischen Einzelheit die künstlerische Haltung des Ganzen übereinstimmend wahrt. Mit Vischer (Aesthetik §. 527) würden wir das Wort „Styl“ auch in der Musik absolut gebrauchen und, absehend von den historischen oder individuellen Eintheilungen, sagen: Dieser Componist hat Styl, in dem Sinne als man von Jemand sagt: er hat Charakter.
4.12Die architektonische Seite des
Musikalisch-Schönen tritt bei der Stylfrage recht deutlich in den Vordergrund. Eine
höhere Gesetzlichkeit, als die der bloßen Proportion, wird der Styl
eines Tonstücks durch einen einzigen Takt verletzt, der, an sich untadelhaft, nicht
zum Ausdruck des Ganzen stimmt. Genau so wie eine unpassende Arabeske im Bauwerk,
nennen wir styllos eine Cadenz oder Modulation, welche als Inconsequenz aus der
einheitlichen Durchführung des Grundgedankens abspringt. Einen äußerst richtigen
Blick hat
Nägeli
bewährt, als er in einigen Instrumentalwerken von
Mozart
„Styllosigkeiten“ nachwies und dabei nicht vom Cha
[57]rakter des Componisten, sondern von objectiv musikalischen
Bestimmungen ausging, freilich ohne den Begriff selbst zu erklären oder zu
begründen.
4.13In der Composition eines Musikstückes findet daher eine Entäußerung des eigenen, persönlichen Affectes nur insoweit statt, als es die Grenzen einer vorherrschend objectiven, formenden Thätigkeit zulassen.
4.14Der Act, in welchem die unmittelbare Ausströmung eines Gefühls in Tönen vor sich gehen kann, ist nicht sowohl die Erfindung eines Tonwerkes, als vielmehr die Reproduction desselben. Daß für den philosophischen Begriff das componirte Tonstück, ohne Rücksicht auf dessen Aufführung, das fertige Kunstwerk ist, darf uns nicht hindern, die Spaltung der Musik in Composition und Reproduction, eine der folgenreichsten Specialitäten unserer Kunst, überall zu beachten, wo sie zur Erklärung eines Phänomens beiträgt.
4.15In der Untersuchung des subjectiven Eindrucks der
Musik macht sie sich ganz vorzugsweise geltend. Dem Spieler ist es
gegönnt, sich des Gefühls, das ihn eben beherrscht, unmittelbar durch sein Instrument
zu befreien und in seinen Vortrag das wilde Stürmen, das sehnliche Ausbrennen, die
heitere Kraft und Freude seines Innern zu hauchen. Schon das körperlich
Innige, das durch meine Fingerspitzen die innere Bebung unvermittelt an die Saite
drückt oder den Bogen reißt oder gar im Gesange selbsttönend wird, macht den
persönlichsten Erguß der Stimmung im Musiciren recht eigentlich möglich. Eine
Subjectivität wird hier unmittelbar in Tönen tönend wirksam, nicht blos
stumm in ihnen formend. Der Componist schafft langsam, unterbrochen, der Spieler in
einem unaufhaltsamen Flug; der Componist für das Bleiben, der Spieler für den
erfüllten Augenblick. Das Tonwerk wird geformt, die Aufführung erleben
wir. So liegt denn das Gefühlsentäußernde und erregende Moment der Musik im
Reproductionsact, welcher den electrischen Funken aus dunklem Geheimniß lockt und
in
das Herz der Zuhörer überspringen macht. Freilich kann der Spieler nur das bringen,
was die Composition enthält, allein diese erzwingt wenig mehr als die Richtigkeit
der
Noten. „Der Geist des Tondichters sei es ja nur, den der Spieler errathe
und offenbare“ – wohl, aber eben diese Aneignung
[58] im
Moment des Wiederschaffens ist sein, des Spielers, Geist. Dasselbe Stück
belästigt oder entzückt, je nachdem es zu tönender Wirklichkeit belebt wird. Es ist
wie derselbe Mensch, einmal in seiner verklärendsten Begeisterung, das andremal in
mißmuthiger Alltäglichkeit aufgefaßt. Die künstlichste Spieluhr kann das Gefühl des
Hörers nicht bewegen, doch der einfachste Musikant wird es, wenn er mit voller Seele
bei seinem Liede ist.
4.16Zur höchsten Unmittelbarkeit befreit sich die Offenbarung eines Seelenzustandes durch Musik, wo Schöpfung und Ausführung in Einen Act zusammenfallen. Dies geschieht in der freien Phantasie. Wo diese nicht mit formell künstlerischer, sondern mit vorwiegend subjectiver Tendenz (pathologisch in höherem Sinn) auftritt, da kann der Ausdruck, welchen der Spieler den Tasten entlockt, ein wahres Sprechen werden. Wer dies censurfreie Sprechen, dies entfesselte Sichselbstgeben mitten in strengem Bannkreise je an sich selbst erlebt hat, der wird ohne Weiteres wissen, wie da Liebe, Eifersucht, Wonne und Leid unverhüllt und doch unfahndbar hinausrauschen aus ihrer Nacht, ihre Feste feiern, ihre Sagen singen, ihre Schlachten schlagen, bis der Meister sie zurückruft, beruhigt, beunruhigend.
4.17Durch die entbundene Bewegung des Spielers theilt sich der Ausdruck des Gespielten dem Hörer mit. Wenden wir uns zu diesem.
4.18Wir sehen ihn von einer Musik ergriffen, froh oder wehmüthig bewegt, weit über das blos ästhetische Wohlgefallen hinaus im Innersten emporgetragen oder erschüttert. Die Existenz dieser Wirkungen ist unleugbar, wahrhaft und echt, oft die höchsten Grade erreichend, zu bekannt endlich, als daß wir ihr ein beschreibendes Verweilen widmen dürften. Es handelt sich hier nur um zweierlei: worin im Unterschied von andern Gefühlsbewegungen der specifische Charakter dieser Gefühlserregung durch Musik liege? und wieviel von dieser Wirkung ästhetisch sei?
4.19Müssen wir auch das Vermögen, auf die Gefühle zu
wirken, allen Künsten ausnahmslos zuerkennen, so ist doch die Art und
Weise, wie die Musik es ausübt, etwas Specifisches, nur ihr
Eigenthümliches nicht abzusprechen. Musik wirkt auf den Gemüthszustand rascher und
intensiver, als irgend ein anderes Kunstschöne. Mit wenigen Accorden können wir einer
Stimmung überliefert sein,
[59] welche
ein Gedicht erst durch längere Exposition, ein Bild durch anhaltendes Hineindenken
erreichen würde, obgleich diesen beiden, im Vortheil gegen die Tonkunst, der ganze
Kreis der Vorstellungen dienstbar ist, von welchen unser Denken die Gefühle von Lust
oder Schmerz abhängig weiß. Nicht nur rascher, auch unmittelbarer und intensiver ist
die Einwirkung der Töne. Die andern Künste überreden, die Musik überfällt uns. Diese
ihre eigenthümliche Gewalt auf unser Gemüth erfahren wir am stärksten, wenn wir uns
in einem Zustand größerer Aufregung oder Herabstimmung befinden.
4.20In Gemüthszuständen, wo weder Gemälde, noch Gedichte, weder Statuen noch Bauten mehr im Stande sind, uns zu theilnehmender Aufmerksamkeit zu reizen, wird Musik noch Macht über uns haben, ja gerade heftiger als sonst. Wer in schmerzhaft aufgeregter Stimmung Musik hören oder machen muß, dem schwingt sie wie Essig in der Wunde. Keine Kunst kann da so tief und scharf in unsere Seele schneiden. Form und Charakter des Gehörten verlieren ganz ihre Bedeutung, sei es nächtigtrübes Adagio oder ein hellfunkelnder Walzer, wir können uns nicht loswinden von seinen Klängen, – nicht mehr das Tonstück fühlen wir, sondern die Töne selbst, die Musik als gestaltlos dämonische Gewalt, wie sie mit Zauberaugen glühend an die Nerven unseres ganzen Leibes rückt.
4.21Als
Goethe
in hohem Alter noch einmal die Gewalt der Liebe erfuhr, da erwachte in ihm
zugleich eine nie gekannte Empfänglichkeit für Musik. Er schreibt über jene
wunderbaren Marienbader Tage (1823) an
Zelter
:
„Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! Die Stimme der
Milder, das Klangreiche der Szymanowska, ja sogar die öffentlichen
Exhibitionen des hiesigen Jägercorps falten mich auseinander, wie man eine
geballte Faust freundlich flach läßt. Ich bin völlig überzeugt, daß ich im
ersten Takte Deiner Singakademie den Saal verlassen müßte.“
Zu einsichtsvoll, um nicht den großen Antheil nervöser Aufregung
in dieser Erscheinung zu erkennen, schließt Goethe mit den Worten:
„Du würdest mich von einer krankhaften Reizbarkeit heilen, die denn doch
eigentlich als die Ursache jenes Phänomens anzusehen ist.“
13 Diese Beobachtungen
[60] müssen
uns schon aufmerksam machen, daß in den musikalischen Wirkungen auf das Gefühl ein
fremdes, nicht rein ästhetisches Element mit im Spiele sei. Eine rein ästhetische
Wirkung wendet sich an die volle Gesundheit des Nervenlebens, und zählt auf kein
krankhaftes Mehr oder Weniger desselben.
4.22Die intensivere Einwirkung der Musik auf gesunde und ihre alleinige Einwirkung auf krankhafte Nervensysteme vindicirt ihr in der That einen Machtüberschuß vor den anderen Künsten. Wenn wir aber die Natur dieses Machtüberschusses untersuchen, so erkennen wir, daß er ein qualitativer sei und daß die eigenthümliche Qualität auf physiologischen Bedingungen ruhe. Der sinnliche Factor, der bei jedem Schönheitsgenuß den geistigen trägt, ist bei der Tonkunst größer, als in den andern Künsten. Die Musik, durch ihr körperloses Material die geistigste, von Seite ihres gegenstandlosen Formenspiels die sinnlichste Kunst, zeigt in dieser geheimnißvollen Vereinigung zweier Gegensätze ein lebhaftes Assimilationsbestreben mit den Nerven, diesen nicht minder räthselhaften Organen des unsichtbaren Telegraphendienstes zwischen Leib und Seele.
4.23Die intensive Wirkung der Musik auf das Nervenleben ist als Thatsache von der Psychologie wie von der Physiologie vollständig anerkannt. Leider fehlt noch eine ausreichende Erklärung derselben. Es vermag die Psychologie nimmermehr das Magnetisch-Zwingende des Eindrucks zu ergründen, den gewisse Accorde, Klangfarben und Melodien auf den ganzen Organismus des Menschen üben, weil es dabei zuvörderst auf eine specifische Reizung der Nerven ankommt. Ebensowenig hat die im Triumph fortschreitende Wissenschaft der Physiologie etwas Entscheidendes über unser Problem gebracht und pflegt bei der Untersuchung des Hörens vielmehr den Schall und Klang überhaupt, als insbesondere den musikalisch verwendeten, im Auge zu haben.
4.24Was die musikalischen Monographen dieses
Zwittergegenstandes betrifft, so ziehen sie es fast durchgängig vor, die Tonkunst
durch Ausbreitung glänzender Schaustücke in einen imposanten Nimbus von
Wunderthätigkeit zu bringen, als in wissenschaftlicher Forschung den Zusammenhang
der
Musik mit unserm Nervenleben auf sein Wahres und Nothwendiges zurückzuführen. Dies
allein aber thut uns
[61] Noth,
und weder die Ueberzeugungstreue eines Doctor
Albrecht
, welcher seinen Patienten Musik als schweißtreibendes Mittel verschrieb, noch
der Unglaube Oerstedtʼs, der das Heulen eines Hundes bei gewissen Tonarten durch
rationelle Prügel erklärt, mittelst welcher derselbe zum Heulen abgerichtet worden
sei. 14
4.25Manchem Musikfreund dürfte es unbekannt sein, daß wir eine ganze Literatur über die körperlichen Wirkungen der Musik und deren Anwendung zu Heilzwecken besitzen. An interessanten Curiositäten reich, doch in der Beobachtung unzuverlässig, in der Erklärung unwissenschaftlich, suchen die meisten dieser Musico-Mediciner eine sehr zusammengesetzte und beiläufige Eigenschaft der Tonkunst zu selbstständiger Wirksamkeit aufzustelzen.
4.26Von Pythagoras , der (nach Caelus Aemilianus) zuerst Wunderkuren durch Musik in Kalabrien verrichtete, bis auf unsere Tage taucht zeitweilig immer wieder, mehr durch neue Beispiele als durch neue Ideen bereichert, die Lehre auf, man könne die aufregende oder lindernde Wirkung der Töne auf den körperlichen Organismus als Heilmittel gegen zahlreiche Krankheiten in Anwendung bringen. Peter Lichtenthal erzählt ausführlich in seinem „Musikalischen Arzt,“ wie durch die Macht der Töne Gicht, Hüftweh, Epilepsie, Starrsucht, Pest, Fieberwahnsinn, Convulsionen, Nervenfieber, ja sogar „Dummheit (stupidas)“ geheilt worden sei. 15
4.27Rücksichtlich der Begründung ihrer Theorie lassen sich diese Schriftsteller in zwei Klassen theilen.
4.28Die Einen argumentiren vom Körper aus
und gründen die Heilkraft der Musik auf die physische Einwirkung der Schallwellen,
welche sich durch den Gehörnerv den übrigen Nerven mittheile und durch solchʼ
allgemeine Erschütterung eine heilsame Reaction des ge
[62]störten Organismus hervorrufe. Die Affecte, welche zugleich sich
bemerkbar machen, seien nur eine Folge dieser nervösen Erschütterung, indem
Leidenschaften nicht blos gewisse körperliche Veränderungen hervorrufen, sondern
diese auch ihrerseits die ihnen entsprechenden Leidenschaften zu erzeugen
vermögen.
4.29Nach dieser Theorie, welcher (unter dem Vortritt des Engländers Webb ) Nicolai , Schneider , Lichtenthal , J. J. Engel , Sulzer u. A. anhängen, würden wir durch die Tonkunst nicht anders bewegt, als etwa unsere Fenster und Thüren, die bei einer starken Musik zu zittern beginnen. Als unterstützend werden Beispiele angeführt, wie der Bediente Boyleʼs, dem die Zähne zu bluten anfingen, sobald er eine Säge wetzen hörte, oder viele Personen, welche beim Kratzen einer Messerspitze auf Glas Convulsionen bekommen.
4.30Das ist nun keine Musik. Daß diese mit jenen so heftig auf die Nerven wirkenden Erscheinungen dasselbe Substrat, den Schall theilt, wird uns für spätere Folgerungen wichtig genug werden, hier ist – einer materialistischen Ansicht gegenüber – lediglich hervorzuheben, daß die Tonkunst erst da anfange, wo jene isolirten Klangwirkungen aufhören, übrigens auch die Wehmuth, in welche ein Adagio den Hörer versetzen kann, mit der körperlichen Empfindung eines schrillen Mißklanges gar nicht zu vergleichen ist.
4.31Die andere Hälfte unserer Autoren (unter ihnen Kausch und die meisten Aesthetiker) erklärt die heilkräftigen Wirkungen der Musik von der psychologischen Seite aus. Musik – so argumentiren sie – erzeugt Affecte und Leidenschaften in der Seele, Affecte haben heftige Bewegungen im Nervensystem zur Folge, heftige Bewegungen im Nervensystem verursachen eine heilsame Reaction im kranken Organismus. Dies Raisonnement, auf dessen Sprünge gar nicht erst hingedeutet zu werden braucht, wird von der genannten idealen „psychologischen“ Schule gegen die frühere materielle so standhaft verfochten, daß sie, unter der Autorität des Engländers Whytt , sogar aller Physiologie zu Trotz den Zusammenhang des Gehörnervs mit den übrigen Nerven läugnet, wornach eine körperliche Uebertragung des durch das Ohr empfangenen Reizes auf den Gesammtorganismus freilich unmöglich wird.
4.32Der Gedanke, durch Musik bestimmte Affecte, als
Liebe, Weh
[63]muth, Zorn, Entzücken, in der Seele zu erregen, welche den
Körper durch wohlthätige Aufregung heilen, klingt so übel nicht. Uns fällt dabei
stets das köstliche Parere ein, welches einer unserer berühmtesten Naturforscher über
die sogenannten „Goldbergerʼschen electromagnetischen Ketten“ abgab. Er
sagte: es sei nicht ausgemacht, ob ein electrischer Strom gewisse Krankheiten zu
heilen vermöge, – das aber sei ausgemacht, daß die „Goldbergerʼschen Ketten“ keinen
electrischen Strom zu erzeugen im Stande sind. Auf unsere Tondoctoren angewandt,
heißt dies: Es ist möglich, daß bestimmte Gemüthsaffecte eine gückliche
Krisis in leiblichen Krankheiten herbeiführen, – allein es ist nicht möglich, durch
Musik beliebige Gemüthsaffecte hervorzubringen.
4.33Darin kommen beide Theorien, die psychologische und die physiologische, überein, daß sie aus bedenklichen Voraussetzungen noch bedenklichere Ableitungen folgern und endlich die bedenklichste praktische Schlußfolgerung daraus ziehen. Logische Ausstellungen mag sich eine Heilmethode etwa gefallen lassen, aber daß sich bis jetzt noch immer kein Arzt bewogen findet, seine Typhuskranken in Meyerbeerʼs „Propheten“ zu schicken, oder statt der Lanzette ein Waldhorn herauszuziehen, das ist gewiß unangenehm.
4.34Die körperliche Wirkung der Musik ist weder an sich so stark, noch so sicher, noch von psychischen und ästhetischen Voraussetzungen so unabhängig, noch endlich so willkürlich behandelbar, daß sie als wirkliches Heilmittel in Betracht kommen könnte.
4.35Jede mit Beihilfe von Musik vollführte Cur trägt
den Charakter eines Ausnahmefalles, dessen Gelingen niemals der Musik allein
zuzuschreiben war, sondern zugleich von speciellen, vielleicht ganz individuellen
körperlichen und geistigen Bedingungen abhing. Es däucht uns sehr bemerkenswerth,
daß
die einzige Anwendung von Musik, welche wirklich in der Medicin vorkommt, nämlich
in
der Behandlung von Irrsinnigen, vorzugsweise auf die geistige Seite der musikalischen
Wirkung reflectirt. Die moderne Psychiatrie verwendet bekanntlich Musik in vielen
Fällen und mit glücklichem Erfolge. Dieser beruht aber weder auf der materiellen
Erschütterung des Nervensystems, noch auf der Erregung von Leidenschaften, sondern
auf dem besänftigend aufheiternden Einfluß, welchen das halb zerstreuende, halb
fesselnde Ton
[64]spiel auf ein verdüstertes oder überreiztes Gemüth auszuüben
vermag. Lauscht der Geisteskranke auch dem Sinnlichen, nicht dem Künstlerischen des
Tonstücks, so steht er doch, da er mit Aufmerksamkeit hört, schon auf
einer, wenn gleich untergeordneten Stufe ästhetischer Auffassung.
4.36Was nun alle diese musikalisch-medicinischen Werke für die richtige Erkenntniß der Tonkunst beitragen? Die (schon durch ihre bloße Existenz dargethane) Thatsache einer von jeher beobachtenden starken physischen Erregung bei allen durch Musik hervorgerufenen „Affecten“ und „Leidenschaften.“ Steht einmal fest, daß ein integrirender Theil der durch Musik erzeugten Gemüthsbewegung physisch ist, so folgt weiter, daß dies Phänomen, als wesentlich in unserm Nervenleben vorkommend, auch von dieser seiner körperlichen Seite erforscht werden müsse. Es kann demnach der Musiker über dies Problem sich keine wissenschaftliche Ueberzeugung bilden, ohne sich mit den Ergebnissen bekannt zu machen, bei welchen der gegenwärtige Standpunkt der Physiologie in Untersuchung des Zusammenhangs der Musik mit den Gefühlen hält.
4.37Verfolgen wir, ohne Benützung des anatomischen
Details, den Gang, welchen eine Melodie nehmen muß, um auf unsere Gemüthsstimmung
zu
wirken. Zuerst treffen die Töne den Gehörsnerv. Die Physiologie, in Verbindung mit
der Anatomie und Akustik weisen die Bedingungen nach, unter welchen unser Ohr einen
Ton vernehmen kann oder nicht, wie viel Luftschwingungen zum höchsten oder tiefsten
wahrnehmbaren Ton erforderlich sind, in welcher Stärke und Schnelligkeit sich diese
Luftstöße zum Akusticus fortpflanzen. Diese und ähnliche dahin gehörende Kenntnisse
darf die Aesthetik voraussetzen. Nicht der entstehende, sondern erst der
fertige, vom Ohr aufgenommene Ton und dieser erst in Verbindung mit andern, gehört
ihr an. Der Weg vom vibrirenden Instrument bis zum Gehörnerv ist, vollends für das
ästhetische Interesse, hinreichend aufgeklärt, obwohl schon hier die Schwierigkeit
hemmend eintritt, daß wir am menschlichen Ohr nicht experimentiren können und mit
akustischen Apparaten uns begnügen müssen. 16 Unerklärt ist aber der Nerven
[65]proceß, wodurch die percipirte Tonreihe, Lust oder Unlust erzeugend,
zum Gefühl wird. Die Physiologie weiß, daß das, was wir als Ton
empfinden, eine Molecularbewegung in der Nervensubstanz ist, und zwar wenigstens eben
so gut als im Akusticus in den Centralorganen. 17 Sie weiß, daß die Fasern des
Gehörnervs mit anderen Nerven zusammenhängen, und seine Reize auf sie übertragen,
daß
das Gehör namentlich mit dem kleinen und großen Gehirn, dem Kehlkopf, der Lunge, dem
Herzen in Verbindung stehe. Unbekannt ist ihr aber die specifische Art, wie
Musik auf diese Nerven wirkt, noch mehr die Verschiedenheit, mit
welcher bestimmte musikalische Factoren, Accorde, Rhythmen, Instrumente
auf verschiedene Nerven wirken. Vertheilt sich eine musikalische Gehörsempfindung
auf
alle mit dem Akusticus zusammenhängenden Nerven, oder nur auf einige? Mit welcher
Intensität, mit welcher Schnelligkeit? Von welchen musikalischen Elementen wird das
Gehirn, von welchen werden die zum Herzen oder zur Lunge führenden Nerven am meisten
afficirt? Unläugbar ist, daß Tanzmusik in jungen Leuten, deren natürliches
Temperament nicht durch die Uebung der Civilisation ganz zurückgehalten wird, ein
Zucken im Körper, namentlich in den Füßen hervorruft. Es wäre einseitig, den
physiologischen Einfluß von Marsch- und Tanzmusik zu läugnen, und ihn
lediglich auf psychologische Ideenassociation reduciren zu wollen. Was
daran psychologisch ist, – die wachgerufene Erinnerung an das schon bekannte
Vergnügen des Tanzes, – entbehrt nicht der Erklärung, allein diese reicht für sich
keineswegs aus. Nicht weil sie Tanzmusik ist, hebt sie die Füße, sondern sie ist
Tanzmusik, weil sie die Füße hebt. Wer in der Oper ein wenig um sich blickt, wird
bald bemerken, wie bei lebhaften, faßlichen Melodien die Damen unwillkürlich mit dem
Kopfe hin- und herschaukeln, nie wird man dies aber bei einem Adagio sehen, sei es
noch so ergreifend oder melodisch. Läßt sich daraus schließen, daß
[66] gewisse
musikalische, namentlich rhythmische Verhältnisse auf motorische Nerven wirken,
andere nur auf Empfindungsnerven? Wann ist das Erstere, wann das Letzere der Fall?
18 Erleidet das
Solargeflecht, welches traditionell für einen vorzugsweisen Sitz des Empfindens gilt,
bei der Musik eine besondere Affection? Erleiden sie etwa die „sympathetischen
Nerven“ (– an denen, wie der geistreiche
Purkinje
uns bemerkte, ihr Name das Schönste ist –)? Warum ein Klang schrillend,
widerwärtig, ein anderer rein und wohllautend erscheine, das wird auf akustischem
Wege durch die Gleichförmigkeit oder Ungleichförmigkeit der auf einander folgenden
Luftstöße erklärt. Mit der einfachen Empfindung hat der Aesthetiker es
nicht zu thun, er verlangt nach der Erklärung des Gefühls und fragt: wie
kommt es, daß eine Reihe von wohlklingenden Tönen den Eindruck der
Trauer, eine zweite von gleichfalls wohlklingenden den
Eindruck der Freude macht? Woher die entgegengesetzten, oft mit
zwingender Kraft auftretenden Stimmungen, welche verschiedene Accorde oder
Instrumente von gleich reinem, wohlklingendem Ton dem Hörer unmittelbar
einflößen?
4.38Dies Alles kann – so weit unser Wissen und Urtheil reicht – die Physiologie nicht beantworten. Wie sollte sie auch? Weiß sie doch nicht, wie der Schmerz die Thräne erzeugt, wie die Freude das Lachen, – weiß sie doch nicht, was Schmerz und Freude sind! Hüte sich deshalb Jeder, von einer Wissenschaft Aufschlüsse zu verlangen, die sie nicht geben kann.
4.39Freilich muß der Grund jedes durch Musik
hervorgerufenen Gefühls vorerst in einer bestimmten Affectionsweise der Nerven durch
einen Gehöreindruck liegen. Wie aber eine Reizung des Gehörnervs,
[67] die wir
nicht einmal bis zu dessen Ursprungstelle verfolgen können, als bestimmte
Empfindungsqualität ins Bewußtsein fällt, wie der körperliche Eindruck zum
Seelenzustand, die Empfindung endlich zum Gefühle wird, – das liegt jenseits der
dunklen Brücke, die von keinem Forscher überschritten ward. Es sind tausendfältige
Umschreibungen des Einen Urräthsels: vom Zusammenhang des Leibes mit der Seele. Diese
Sphinx wird sich niemals ins Wasser stürzen.
4.40Was die Physiologie der Musikwissenschaft bietet, ist ein Kreis von objectiven Anhaltspunkten, welche vor einschlägigen Fehlschüssen bewahren. Mancher Fortschritt in Erkenntniß der durch Gehörseindrücke hervorgebrachten Erscheinungen kann durch die Physiologie noch geschehen, in der musikalischen Hauptfrage wird dies nicht leicht der Fall sein.
4.41Hierüber mögen die Aussprüche zweier der geistvollsten Physiologen der Gegenwart Platz finden, die überdies der Musik ein aufmerksameres Interesse zuwenden, als es Männer dieser Wissenschaft dafür zu haben pflegen.
4.42Hr. Lotze sagt in seiner „medicinischen Psychologie“ (S. 237): „Die Betrachtung der Melodien würde zu dem Geständniß führen, daß wir gar nichts über die Bedingungen wissen, unter denen ein Uebergang der Nerven aus einer Form der Erregung in die andere eine physische Grundlage für die kraftvollen ästhetischen Gefühle bietet, die der Abwechslung der Töne folgen.“ Ferner über den Eindruck von Lust und Unlust, den selbst ein einfacher Ton auf das Gefühl ausüben kann (S. 236): „Es ist uns völlig unmöglich, gerade für diese Eindrücke einfacher Empfindungen einen physiologischen Grund anzugeben, da uns die Richtung, in welcher sie die Nerventhätigkeit verändern, zu unbekannt ist, als daß wir aus ihr die Größe der Begünstigung oder Störung, die sie erfährt, abzuleiten vermöchten.“
4.43E.
Harleß
spricht sich über die Bedingungen, von welchen eine Lösung unserer Frage
nothwendig auszugehen hätte, in R. Wagnerʼs „Handwörterbuch der Physiologie“ (24. und 25 Lieferung 1850)
also aus:
„Es ist nicht allein die Unkenntniß der Function, welche die einzelnen
Theile des Gehörapparates in physikalischer Beziehung haben, sondern noch
vielmehr die allgemeinen Verhältnisse der Nerven und
[68]
ihr Zusammenhang mit den Centralorganen in physiologischer Beziehung, was Alles
noch in einem tiefen Dunkel liegt.“
4.44Aus diesen physiologischen Resultaten ergiebt sich
für die Aesthetik der Tonkunst die Betrachtung, daß diejenigen Theoretiker, welche
das Princip des Schönen in der Musik auf deren Gefühlswirkungen bauen,
wissenschaftlich verloren sind, weil sie über das Wesen dieses Zusammenhangs nichts
wissen können, also besten Falls nur darüber zu rathen oder zu
phantasiren vermögen. Vom Standpunkte des Gefühls wird eine künstlerische oder
wissenschaftliche Bestimmung der Musik niemals ausgehen können. Mit der Schilderung
der subjectiven Bewegungen, welche den Kritiker bei Anhörung einer Symphonie
überkommen, wird er deren Werth und Bedeutung nicht begründen, eben so wenig kann
er
von den Affecten ausgehend den Kunstjünger etwas lehren. Letzteres ist wichtig. Denn
stünde der Zusammenhang bestimmter Gefühle mit gewissen musikalischen Ausdrucksweisen
so zuverlässig da, als man geneigt ist zu glauben, und als er dastehen müßte, um die
ihm vindicirte Bedeutung zu behaupten, so wäre es ein Leichtes, den angehenden
Componisten bald zur Höhe ergreifendster Kunstwirkung zu leiten. Man wollte dies auch
wirklich.
Mattheson
lehrt im dritten Kapitel seines „vollkommenen Capellmeisters,“ wie Stolz, Demuth und
alle Leidenschaften zu componiren seien, indem er z. B. sagt, die
„Erfindungen“
zur Eifersucht müssen
„alle was Verdrießliches, Grimmiges und Klägliches haben.“
Ein anderer Meister des vorigen Jahrhunderts,
Heinchen
, gibt in seinem „Generalbaß“ acht Bogen Notenbeispiele, wie die Musik
„rasende, zankende, prächtige, ängstliche oder verliebte
Empfindungen“
ausdrücken solle. 19 Es fehlt nur noch, daß derlei Vorschriften mit der Kochbuch-Formel „Man
nehme“ anhüben, oder mit der medicinischen Signatur m. d. s. endigten. Es holt sich
aus
[69]
solchen Bestrebungen die lehrreichste Ueberzeugung wie specielle Kunstregeln immer
zugleich zu eng und zu weit sind.
4.45Diese an sich bodenlosen Regeln für die musikalische Erweckung bestimmter Gefühle gehören jedoch um so weniger in die Aesthetik, als die erstrebte Wirkung keine rein ästhetische, sondern ein unausscheidbarer Antheil daran körperlich ist. Das ästhetische Recept müßte lehren, wie der Tonkünstler das Schöne in der Musik erzeuge, nicht aber beliebige Affecte im Auditorium. Wie ganz ohnmächtig diese Regeln wirklich sind, das zeigt am schönsten die Erwägung, wie zaubermächtig sie sein müßten. Denn wäre die Gefühlswirkung jedes musikalischen Elementes eine nothwendige und erforschbare, so könnte man auf dem Gemüth des Hörers, wie auf einer Claviatur spielen. Und falls man es vermöchte, – würde die Aufgabe der Kunst dadurch gelöst? So nur lautet die berechtigte Frage und verneint sich von selbst. Musikalische Schönheit allein ist das Ziel des Tonkünstlers. Auf ihren Schultern schreitet er sicher durch die reißenden Wogen der Zeit, in denen das Gefühlsmoment ihm keinen Strohhalm bietet vorm Ertrinken.
4.46Man sieht, unsere beiden Fragen, – nämlich, welches specifische Moment die Gefühlswirkung durch Musik auszeichnen, und ob dies Moment wesentlich ästhetischer Natur sei? – erledigen sich durch die Erkenntniß ein und desselben Factors: Der intensiven Einwirkung auf das Nervensystem. Auf dieser beruht die eigenthümliche Stärke und Unmittelbarkeit, mit welcher die Musik im Vergleich mit jeder andern nicht durch Töne wirkenden Kunst, Affecte aufzuregen vermag.
4.47Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich
überwältigend, also pathologisch auftritt, desto geringer ist ihr
ästhetischer Antheil; ein Satz, der sich freilich nicht umkehren
läßt. Es muß darum in der musikalischen Hervorbringung und Auffassung ein anderes
Element hervorgehoben werden, welches das unvermischt Aesthetische dieser Kunst
repräsentirt, und als Gegenbild zu der specifisch-musikalischen Gefühlserregung sich
den allgemeinen Schönheitsbedingungen der übrigen Künste annähert. Dies
ist die reine Anschauung. Ihre besondere Erscheinungsform in der
Tonkunst, so wie die vielgestaltigen Verhältnisse, welche sie in der Wirk
[70]lichkeit zum Gefühlsleben eingeht, wollen wir im folgenden Abschnitt
betrachten. –
5.1Nichts hat die wissenschaftliche Entwicklung der
musikalischen Aesthetik so empfindlich gehemmt als der übermäßige Werth, welchen man
den Wirkungen der Musik auf die Gefühle beilegte. Je auffallender sich diese
Wirkungen zeigten, desto höher pries man sie als Herolde musikalischer Schönheit.
Wir
haben im Gegentheil gesehen, daß gerade den überwältigendsten Eindrücken der Musik
der stärkste Antheil körperlicher Erregung von Seite des Hörers
beigemischt ist. Von Seite der Musik liegt diese heftige Eindringlichkeit in das
Nervensystem eben so wenig in ihrem künstlerischen Moment, das ja aus
dem Geiste kommt und an den Geist sich wendet, – sondern in ihrem
Material, dem die Natur jene unergründliche physiologische
Wahlverwandtschaft eingeboren hat. Das Elementarische der Musik, der
Klang und die Bewegung ist es, was die wehrlosen Gefühle
so vieler Musikfreunde in Ketten schlägt, mit denen sie gar gerne klirren. Weit sei
es von uns, die Rechte des Gefühls an die Musik verkürzen zu wollen. Allein dies
Gefühl, welches sich thatsächlich mehr oder minder mit der reinen Anschauung paart,
kann nur dann als künstlerisch gelten, wenn es sich seiner ästhetischen
Herkunft bewußt bleibt, d. h. der Freude an einem und zwar gerade diesem
bestimmten Schönen. Fehlt dies Bewußtsein, fehlt die freie Anschauung
des bestimmten Kunstschönen und fühlt das Gemüth sich nur von der Naturgewalt der
Töne befangen, so kann die Kunst sich solchen Eindruck um so weniger zu
Gute schreiben, je stärker er auftritt. Die Zahl derer, welche auf solche Art Musik
hören oder eigentlich fühlen, ist sehr bedeutend. Indem sie das Elementarische der
Musik in passiver Empfänglichkeit auf sich wirken lassen, gerathen sie in eine vage,
nur durch den Charakter des Tonstücks bestimmte übersinnlich-sinnliche Erregung.
Ihr
[71]
Verhalten gegen die Musik ist nicht anschauend, sondern pathologisch;
ein stetes Dämmern, Fühlen, Schwärmen, ein Hangen und Bangen in klingendem Nichts.
Lassen wir an dem Gefühlsmusiker mehrere Tonstücke gleichen, etwa rauschend
fröhlichen Charakters, vorbeiziehen, so wird er in dem Banne desselben Eindrucks
verbleiben. Nur was diesen Stücken gleichartig ist, also die Bewegung des rauschend
Fröhlichen assimilirt sich seinem Fühlen, während das Besondere jeder Tondichtung,
das künstlerisch Individuelle seiner Auffassung entschwindet. Gerade umgekehrt wird
der musikalische Zuhörer verfahren. Die eigenthümliche künstlerische Gestaltung einer
Composition, das, was sie unter einem Dutzend ähnlich wirkender zum selbstständigen
Kunstwerk stempelt, erfüllt sein Aufmerken so vorherrschend, daß er ihrem gleichen
oder verschiedenen Gefühlsausdruck nur geringes Gewicht beilegt. Das isolirte
Aufnehmen eines abstracten Gefühlsinhaltes anstatt der concreten Kunsterscheinung
ist
in solcher Ausbildung der Musik ganz eigenthümlich. Nur die Gewalt einer besonderen
Beleuchtung erscheint ihr nicht selten analog, wenn sie Manchen so
ergreift, daß er über die beleuchtete Landschaft selbst sich gar keine Rechenschaft
zu geben vermag. Eine unmotivirte und darum desto eindringlichere Totalempfindung
wird in Bausch und Bogen eingesaugt. 20
5.2Halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt, lassen jene
Enthusiasten von den Schwingungen der Töne sich tragen und schaukeln, statt sie
scharfen Blickes zu betrachten. Wie das stark und stärker anschwillt, nachläßt,
aufjauchzt oder auszittert, das versetzt sie in einen unbestimmten
Empfindungszustand, den sie für rein geistig zu halten so
[72]
unschuldig sind. Sie bilden das „dankbarste“ Publikum und dasjenige, welches geeignet
ist, die Würde der Musik am sichersten zu discreditiren. Das ästhetische Merkmal des
geistigen Genusses geht ihrem Hören ab; eine feine Cigarre, ein
pikanter Leckerbissen, ein laues Bad leistet ihnen unbewußt, was eine Symphonie. Vom
gedankenlos gemächlichen Dasitzen der Einen bis zur tollen Verzückung der Andern ist
das Princip dasselbe: die Lust am Elementarischen der Musik. Die neue
Zeit hat übrigens eine herrliche Entdeckung gebracht, welche für Hörer, die ohne alle
Geistesbethätigung nur den Gefühlsniederschlag der Musik suchen, diese Kunst weit
überbietet. Wir meinen den Schwefeläther. In der That zaubert uns die Aethernarkose
einen höchst angenehmen, wachsenden, den ganzen Organismus süßtraumhaft durchbebenden
Rausch, – ohne die Gemeinheit des Weintrinkens, welches auch nicht ohne musikalische
Wirkung ist. 21
5.3Die Werke der Tonkunst reihen sich für solche
Auffassung zu den Naturprodukten, deren Genuß uns entzücken, aber nicht
zwin
[73]gen kann zu denken, einem bewußt schaffenden Geiste nach zu
denken. Der süße Athem eines Akazienbaumes läßt sich auch geschlossenen
Auges, träumend einsaugen. Hervorbringungen menschlichen Geistes verwehren das
durchaus, wenn sie nicht eben auf die Stufe sinnlicher Naturreize herabsinken
sollen.
5.4In keiner andern Kunst ist dies so hohen Grades möglich, als in der Musik, deren sinnliche Seite einen geistlosen Genuß wenigstens zuläßt. Schon das Verrauschen derselben, während die Werke der übrigen Künste bleiben, gleicht in bedenklicher Weise dem Act des Verzehrens.
5.5Ein Bild, eine Kirche, ein Drama lassen sich nicht schlürfen, eine Arie sehr wohl. Darum gibt auch der Genuß keiner andern Kunst sich zu solch accessorischem Dienst her. Die besten Compositionen können als Tafelmusik gespielt werden und die Verdauung der Fasane erleichtern. Musik ist die zudringlichste und auch wieder die nachsichtigste Kunst. Die jämmerlichste Drehorgel, so sich vor unserem Haus postirt, muß man hören, aber zuzuhören braucht man selbst einer Mendelssohnʼschen Symphonie nicht.
5.6Aus diesen Betrachtungen ergibt sich leicht die richtige Werthschätzung für die sogenannten „moralischen Wirkungen“ der Musik, die als glänzendes Seitenstück zu den im ersten Artikel erwähnten „physischen“ von älteren Autoren mit so viel Vorliebe herausgestrichen werden. Da hierbei die Musik nicht im Entferntesten als ein Schönes genossen, sondern als rohe Naturgewalt empfunden wird, die bis zu besinnungslosem Handeln treibt, so stehen wir an dem geraden Widerspiel alles Aesthetischen. Ueberdies liegt das Gemeinschaftliche dieser angeblich „moralischen“ Wirkungen mit den anerkannt physischen zu Tage.
5.7Der drängende Gläubiger, der durch die Töne seines
Schuldners bewogen wird, ihm die ganze Summe zu schenken, 22 ist dazu nicht anders angetrieben als der Ruhende, den
ein Walzermotiv plötzlich zum Tanz begeistert. Der Erstere wird mehr durch die
geistigeren Elemente: Harmonie und Melodie, der Zweite durch den sinnlicheren
[74]
Rhythmus bewegt. Keiner von Beiden handelt aber aus freier Selbstbestimmung, keiner
überwältigt durch geistige Ueberlegenheit oder ethische Schönheit, sondern in Folge
befördernder Nervenreize. Die Musik löst ihnen die Füße oder das Herz, gerade so wie
der Wein die Zunge. Solche Siege predigen nur die Schwäche des Besiegten.
5.8Ein Erleiden unmotivirter ziel- und stoffloser Affecte durch eine Macht, die in keinem Rapport zu unserm Wollen und Denken steht, ist des Menschengeistes unwürdig. Wenn vollends Menschen in so hohem Grade von dem Elementarischen einer Kunst sich hinreißen lassen, daß sie ihres freien Handelns nicht mehr mächtig sind, so scheint uns dies weder ein Ruhm für die Kunst noch viel weniger für die Helden selbst.
5.9Die Musik hat diese Bestimmung keineswegs, allein ihr intensives Gefühlsmoment macht es möglich, daß sie in solcher Tendenz genossen werde. Dies ist der Punkt, in welchem die ältesten Anklagen gegen die Tonkunst ihre Wurzel haben: daß sie entnerve, verweichliche, erschlaffe.
5.10Wo man Musik als Erregungsmittel „unbestimmter Affecte“ macht, als Nahrung des „Fühlens“ an sich, da wird jener Vorwurf nur zu wahr. Beethoven verlangte, die Musik solle dem Mann „Feuer aus dem Geiste schlagen.“ Wohlgemerkt, „soll.“ Ob nicht selbst ein Feuer, das durch Musik erzeugt und genährt wird, die willensstarke, denkkräftige Entwicklung des Mannes hemmend zurückhält?
5.11Jedenfalls scheint uns diese Anklage des musikalischen Einflusses würdiger als dessen übermäßige Lobpreisung. Sowie die physischen Wirkungen der Musik im geraden Verhältniß stehen zu der krankhaften Gereiztheit des ihnen entgegenkommenden Nervensystems, so wächst der moralische Einfluß der Töne mit der Unkultur des Geistes und Charakters. Je kleiner der Widerhalt der Bildung, desto gewaltiger das Dreinschlagen solcher Macht. Die stärkste Wirkung übt Musik bekanntlich auf Wilde.
5.12Das schreckt unsere Musik-Ethiker nicht ab. Sie
beginnen, gleichsam präludirend, am liebsten mit zahlreichen Beispielen, „wie sogar
die Thiere“ sich der Macht der Tonkunst beugen. Es ist wahr,
[75] der Ruf
der Trompete erfüllt das Pferd mit Muth und Schlachtbegier, die Geige begeistert den
Bären zu Balletversuchen, die zarte Spinne 23 und der
plumpe Elephant bewegen sich horchend bei den geliebten Klängen. Ist es denn aber
wirklich so ehrenvoll, in solcher Gesellschaft Musik-Enthusiast zu
sein?
5.13Auf die Thierproductionen folgen die menschlichen Cabinetsstücke. Sie sind meist im Geschmack Alexanderʼs des Großen, welcher durch das Saitenspiel des Timotheus zuerst wüthend gemacht, hierauf durch den Gesang des Antigenides wieder besänftigt wurde. So ließ der minder bekannte König von Dänemark Ericus bonus, um sich von der gepriesenen Gewalt der Musik zu überzeugen, einen berühmten Musikus spielen, und zuvor alles Gewehr entfernen. Der Künstler versetzte durch die Wahl seiner Modulationen alle Gemüther zuerst in Traurigkeit, dann in Frohsinn. Letzteren wußte er bis zur Raserei zu steigern. „Selbst der König brach durch die Thür, griff zum Degen und brachte von den Umstehenden vier ums Leben.“ Und das war noch der „gute Erich .“ (Albert Krantzius, Dan. lib. V., cap. 3.)
5.14Wären solche „moralische Wirkungen“ der Musik noch an der Tagesordnung, so käme man unseres Erachtens vor innerer Empörung gar nicht dazu, sich über die Hexenmacht vernünftig auszusprechen, welche in souverainer Exterritorialität den Menschengeist, unbekümmert um dessen Gedanken und Entschlüsse bezwingt und verwirrt.
5.15Die Betrachtung jedoch, daß die berühmtesten dieser musikalischen Trophäen dem grauen Alterthum angehören, macht wohl geneigt, der Sache einen historischen Standpunkt abzugewinnen.
5.16Es leidet gar keinen Zweifel, daß die Musik bei den
alten Völkern eine weit unmittelbarere Wirkung äußerte wie gegenwärtig, weil die
Menschheit eben in ihren primitiven Bildungsstufen dem Elementarischen
viel verwandter und preisgegebener ist als später, wo Bewußtsein und Selbstbestimmung
in ihr Recht treten. Dieser natürlichen Empfänglichkeit kam der eigenthümliche
Zustand der Musik
[76] im römischen und griechischen Alterthum hülfreich
entgegen. Sie war nicht Kunst in unserem Sinn. Klang und
Rhythmus wirkten in fast vereinzelter Selbstständigkeit und vertraten
in dürftigem Vordrängen die Stelle der reichen, geisterfüllten Formen, welche die
gegenwärtige Tonkunst bilden. Alles, was von der Musik jener Zeiten bekannt ist, läßt
mit Gewißheit auf ein blos sinnliches, dafür aber in dieser Beschränkung
verfeinertes Wirken derselben schließen. Musik in der modernen, künstlerischen
Bedeutung gabʼs nicht im classischen Alterthum, sonst hätte sie für die spätere
Entwicklung eben so wenig verloren gehen können, als die classische Dichtkunst,
Plastik und Architectur verloren gegangen sind. Die Vorliebe der Griechen für ein
gründliches Studium ihrer ins Subtilste zugespitzten Tonverhältnisse gehört als eine
rein wissenschaftliche nicht hierher.
5.17Der Mangel an Harmonie, die Befangenheit der Melodie in den engsten Grenzen recitativischen Ausdrucks; endlich die Entwicklungsunfähigkeit des alten Tonsystems zu wahrhaft musikalischem Gestaltenreichthum machten eine absolute Bedeutung der Musik als Tonkunst im ästhetischen Sinne unmöglich; sie ward auch fast niemals selbstständig, sondern stets in Verbindung mit Poesie, Tanz und Mimik angewendet, mithin als eine Ergänzung der andern Künste. Musik hatte nur den Beruf, durch rhythmischen Pulsschlag und Verschiedenheit der Klangfarben zu beleben; endlich als intensive Steigerung recitirender Declamation Worte und Gefühle zu commentiren. Die Tonkunst wirkte daher lediglich nach ihrer sinnlichen und ihrer symbolischen Seite. Auf diese beiden Factoren hingedrängt, mußte sie dieselben durch solche Concentration zu großer, ja raffinirter Wirksamkeit ausbilden. Die Zuspitzung des melodischen Materials bis zur Anwendung der Vierteltöne und des „enharmonischen Tongeschlechts“ hat die heutige Tonkunst eben so wenig mehr aufzuweisen, als den charakteristischen Sonderausdruck der Tonarten und ihr enges Anschmiegen an das gesprochene oder gesungene Wort.
5.18Diese gesteigerten tonlichen Verhältnisse der Alten
fanden für ihren engen Kreis überdies eine viel größere Empfänglichkeit in den
Hörern vor. Wie das griechische Ohr unendlich feinere Intervallen-Unterschiede zu fassen fähig
war, als es das unsere in der schwe
[77]benden Temperatur auferzogene ist, so war auch das Gemüth jener Völker
der wechselnden Umstimmung durch Musik weit zugänglicher und begehrlicher als wir,
die an dem künstlerischen Bilden der Tonkunst ein contemplatives Gefallen hegen, das
deren elementarischen Einfluß paralysirt. So erscheint denn eine intensivere Wirkung
der Musik im Alterthum wohl begreiflich.
5.19Desgleichen ein bescheidener Theil der Historien, die uns von der specifischen Wirkung der verschiedenen Tonarten bei den Alten überliefert sind. Sie gewinnen einen Erklärungsgrund in der strengen Scheidung, mit welcher die einzelnen Tonarten zu bestimmten Zwecken gewählt und unvermischt erhalten wurden. Die dorische Tonart brauchten die Alten für ernste, namentlich religiöse Anlässe; mit der phrygischen feuerten sie die Heere an; die lydische bedeutete Trauer und Wehmuth, und die äolische erklang, wo es in Liebe oder Wein lustig herging. Durch diese strenge, bewußte Trennung von vier Haupttonarten für eben so viel Classen von Seelenzuständen, so wie durch ihre consequente Verbindung mit nur zu dieser Tonart passenden Gedichten mußten Ohr und Gemüth unwillkürlich eine entschiedene Tendenz gewinnen, beim Erklingen einer Musik gleich das ihrer Tonart entsprechende Gefühl zu reproduciren. Auf der Grundlage dieser einseitigen Ausbildung war nun die Musik unentbehrliche, fügsame Begleiterin aller Künste, war Mittel zu pädagogischen, politischen und andern Zwecken, sie war Alles, nur keine selbstständige Kunst. Wenn es blos einiger phrygischer Klänge bedurfte, um den Soldaten muthig gegen den Feind zu treiben, und die Treue der Strohwitwen durch dorische Lieder gesichert war, so mag der Untergang des griechischen Tonsystems von Feldherrn und Ehegatten betrauert werden, – der Aesthetiker wird es nicht zurückwünschen.
5.20Wir setzen jenem pathologischen Ergriffenwerden das
bewußte reine Anschauen eines Tonwerks entgegen. Diese contemplative
ist die einzig künstlerische, wahre Form des Hörens; ihr gegenüber fällt der rohe
Affect des Wilden und der schwärmende des Musikenthusiasten in Eine Classe. Dem
Schönen entspricht ein Genießen, kein Erleiden, wie ja das
Wort „Kunstgenuß“ sinnig ausdrückt. Die Gefühlvollen halten es freilich für Ketzerei
gegen die Allmacht der
[78] Musik,
wenn Jemand von den Herzens-Revolutionen und Kravallen Umgang nimmt, welche sie in
jedem Tonstück antreffen und redlich mitmachen. Man ist dann offenbar „kalt,“
„gemüthlos“, „Verstandesnatur.“ Immerhin. Edel und bedeutend wirkt es, dem
schaffenden Geiste zu folgen, wie er zauberisch eine neue Welt von Elementen vor uns
aufschließt, diese in alle denkbaren Beziehungen zu einander lockt, und so fortan
aufbaut, niederreißt, hervorbringt und vernichtet, den ganzen Reichthum eines
Gebietes beherrschend, welches das Ohr zum feinsten und ausgebildetsten
Sinneswerkzeug adelt. Nicht eine angeblich geschilderte Leidenschaft reißt uns in
Mitleidenschaft. Ruhig freudigen Geistes, in affectlosem, doch innig-hingebendem
Genießen sehen wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen und feiern erkennend, was
Schelling
so schön
„die erhabene Gleichgültigkeit des Schönen“
nennt. 24 Dieses Sich-Erfreuen mit wachem Geiste
ist die würdigste, heilvollste und nicht die leichteste Art, Musik zu hören.
5.21Der wichtigste Factor in dem Seelenvorgang, welcher
das Auffassen eines Tonwerks begleitet und zum Genusse macht, wird am häufigsten
übersehen. Es ist die geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet,
den Absichten des Componisten fortwährend zu folgen und voran zu eilen, sich in
seinen Vermuthungen hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden. Es versteht
sich, daß dieses intellectuelle Hinüber- und Herüberströmen, dieses fortwährende
Geben und Empfangen, unbewußt und blitzvoll vor sich geht. Nur solche Musik wird
vollen künstlerischen Genuß bieten, welche dies geistige Nachfolgen, welches ganz
eigentlich ein Nachdenken der Phantasie genannt werden könnte,
hervorruft und lohnt. Ohne geistige Thätigkeit gibt es überhaupt keinen ästhetischen
Genuß. Der Musik aber ist diese Form von Geistesthätigkeit
darum vorzüglich eigen, weil ihre Werke nicht unverrückbar und mit Einem Schlag
dastehen, sondern sich successiv am Hörer abspinnen, daher sie von diesem kein, ein
beliebiges Verweilen und Unterbrechen zulassendes Betrachten, sondern
ein in schärfster Wachsamkeit unermüdliches Begleiten fordern. Diese
Begleitung kann bei verwickelten Composi
[79]tionen sich bis zur geistigen Arbeit steigern. Wie viele einzelne
Individuen, so können auch manche Nationen sich ihr nur
sehr schwer unterziehen. Die siegende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den
Italienern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volks, welchem
das ausdauernde Durchdringen unerreichbar ist, womit der Nordländer einem künstlichen
Gewebe von harmonischen und contrapunktischen Verschlingungen zu folgen liebt. Dafür
wird Hörern, deren geistige Thätigkeit gering ist, der Genuß leichter,
und solche Musikbolde können Massen von Musik verzehren, vor welchen der
künstlerische Geist zurückbebt.
5.22Das bei jedem Kunstgenuß nothwendige geistige Moment wird sich bei mehreren Zuhörern desselben Tonwerks in sehr verschiedener Abstufung thätig erweisen; es kann in sinnlichen und gefühlvollen Naturen auf ein Minimum sinken, in vorherrschend geistigen Persönlichkeiten das geradezu Entscheidende werden. Die wahre „rechte Mitte“ muß sich, nach unserm Gefühl, hier etwas nach rechts neigen. Zum Berauschtwerden brauchts nur der Schwäche, aber es gibt eine Kunst des Hörens. 25
[80]
5.23Das Gefühlsschwelgen ist meist Sache jener Hörer, welche für die künstlerische Auffassung des Musikalisch-Schönen keine Ausbildung besitzen. Der Laie fühlt bei Musik am meisten, der gebildete Künstler am wenigsten. Je bedeutender nämlich das ästhetische Moment im Hörer (gerade wie im Kunstwerk), desto mehr nivellirt es das blos elementarische. Darum ist das ehrwürdige Axiom der Theoretiker: „Eine düstere Musik erregt Gefühle der Trauer in uns, eine heitere erweckt Fröhlichkeit,“ – in dieser Ausdehnung nicht richtig. Wenn jedes hohle Requiem, jeder lärmende Trauermarsch, jedes winselnde Adagio die Macht haben sollte, uns traurig zu machen, – wer möchte denn länger so leben? Blickt eine Tondichtung uns an mit klaren Augen der Schönheit, so erfreuen wir uns inniglich daran, und wenn sie alle Schmerzen des Jahrhunderts zum Gegenstand hätte. Der lauteste Jubel aber eines Verdiʼschen Finales oder einer Musardʼschen Quadrille hat uns noch nie froh gemacht.
5.24Der Laie und Gefühlsmensch frägt gerne, ob eine Musik lustig sei oder traurig? – Der Musiker, ob sie gut sei oder schlecht? Dieser kurze Schlagschatten weist deutlich, auf welch verschiedener Seite beide Parteien gegen die Sonne stehen.
5.25Wenn wir sagten, daß unser ästhetisches
Wohlgefallen an einem Tonstück sich nach dessen künstlerischem Werth richte, so
hindert dies nicht, daß ein einfacher Hornruf, ein Jodler im Gebirg uns zu größerem
Entzücken aufrufen kann, als jede
Beethoven
ʼsche Symphonie. In diesem Fall tritt aber die Musik in die Reihe des
Naturschönen. Nicht als dieses bestimmte Gebilde in Tönen,
sondern als diese bestimmte Art von Naturwirkung in solchen kommt uns
das Gehörte entgegen und kann übereinstimmend mit dem landschaftlichen Charakter der
Umgebung und der persönlichen Stimmung jeden Kunstgenuß an Macht hinter sich
zurücklassen. Es gibt also ein Uebergewicht an Eindruck, welches das Elementarische
über das Artistische erreichen kann, allein die Aesthetik (oder wenn man
strengstens formuliren will, derjenige Theil derselben, welcher das Kunstschöne
behandelt) hat die Musik lediglich von ihrer
[81]
künstlerischen Seite aufzufassen, also auch nur jene ihrer Wirkungen
anzuerkennen, welches sie als menschliches Geistesproduct, durch eine bestimmte
Gestaltung jener elementarischen Factoren auf die reine Anschauung
hervorbringt.
5.26Die nothwendigste Forderung einer ästhetischen Aufnahme der Musik ist aber, daß man ein Tonstück um seiner selbst willen höre, welches es nun immer sei und mit welcher Auffassung immer. Sobald die Musik nur als Mittel angewandt wird, eine gewisse Stimmung in uns zu fördern, accessorisch, decorativ, da hört sie auf, als Kunst zu wirken. Das Elementarische der Musik wird unendlich oft mit der künstlerischen Schönheit derselben verwechselt, also ein Theil für das Ganze genommen und dadurch namenlose Verwirrung verursacht. Hundert Aussprüche, die über „die Tonkunst“ gefällt werden, gelten nicht von dieser, sondern von der sinnlichen Wirkung ihres Materials.
5.27Wenn Heinrich der Vierte bei Shakespeare (II. Theil. IV. 4.) sich sterbend Musik machen läßt, so geschieht es wahrlich nicht, um die vorgetragene Composition anzuhören, sondern um träumend in deren gegenstandlosem Element zu wiegen. Ebenso wenig werden Porzia und Bassanio (im „Kaufmann von Venedig“) gestimmt sein, während der verhängnißvollen Kästchenwahl der bestellten Musik Aufmerksamkeit zu schenken. J. Strauß hat reizende, ja geistreiche Musik in seinen bessern Walzern niedergelegt, – sie hören auf es zu sein, sobald man lediglich dabei im Tact tanzen will. In allen diesen Fällen ist es ganz gleichgültig, welche Musik gemacht wird, wenn sie nur den verlangten Grundcharakter hat. Wo aber Gleichgültigkeit gegen das Individuelle eintritt, da herrscht Klangwirkung, nicht Tonkunst. Nur derjenige, welcher nicht blos die allgemeine Nachwirkung des Gefühls, sondern die unvergeßliche, bestimmte Anschauung eben dieses Tonstücks mit sich nimmt, hat es gehört und genossen. Jene erhebenden Eindrücke auf unser Gemüth und ihre hohe psychische, wie physiologische Bedeutung dürfen nicht hindern, daß die Kritik überall unterscheide, was bei einer vorhandenen Wirkung künstlerisch, was elementarisch sei. Eine ästhetische Anschauung hat Musik niemals als Ursache, sondern stets als Wirkung aufzufassen, nicht als Producirendes, sondern als Product.
[82]
5.28Ebenso häufig als die elementarische Wirkung der Musik, wird deren maßhaltendes, Ruhe und Bewegung, Dissonanz und Concordanz vermittelndes, allgemein harmonisches Element mit der Tonkunst selbst verwechselt. Bei dem gegenwärtigen Stand der Tonkunst und Philosophie dürfen wir uns im Interesse beider die altgriechische Ausdehnung des Begriffes „Musik“ auf alle Wissenschaft und Kunst, so wie auf die Bildung sämmtlicher Seelenkräfte nicht gestatten. Die berühmte Apologie der Tonkunst im „Kaufmann von Venedig“ (V. 1.) 26 beruht auf solcher Verwechselung der Tonkunst selbst mit dem sie beherrschenden Geist des Wohlklangs, der Uebereinstimmung des Maßes. Man könnte in ähnlichen Stellen ohne viel Aenderung statt „Musik“ auch „Poesie,“ „Kunst,“ ja „Schönheit“ überhaupt setzen. Daß aus der Reihe der Künste gerade die Musik hervorgeholt zu werden pflegt, verdankt sie der zweideutigen Macht ihrer Popularität. Gleich die weiteren Verse der angeführten Rede bezeugen dies, wo die zähmende Wirkung der Töne auf Bestien sehr gerühmt wird, die Musik also wieder einmal als van Aken erscheint.
5.29Die lehrreichsten Beispiele bieten
Bettinaʼs „musikalische Explosionen,“ wie Goethe ihre Briefe über
Musik galant bezeichnete. Als das wahrhafte Prototyp aller vagen Schwärmerei über
Musik, zeigt Bettina, wie ungebührlich man den Begriff dieser Kunst ausdehnen kann, um
sich bequem darin umherzutummeln. Mit der Prätension, von der Musik selbst zu
sprechen, redet sie stets von der dunklen Einwirkung, welche diese auf ihr Gemüth
übt, und deren üppige Traumseligkeit sie absichtlich von jedem forschenden Denken
absperrt. In einer Composition sieht sie immer ein unerforschliches Naturerzeugniß,
nicht ein menschliches Kunstwerk, und begreift daher Musik nie anders, als rein
phänomenologisch. „Musik,“ „musikalisch“ nennt Bettina unzählige
Erscheinungen, die lediglich ein oder das andere Element der Tonkunst: Wohlklang,
Rhythmus, Gefühlserregung mit ihr gemein haben. Auf diese Factoren kommt es aber gar
nicht
[83]
an, sondern auf die specifische Art, wie sie in künstlerischer
Gestaltung als Tonkunst erscheinen. Es versteht sich von
selbst, daß die musiktrunkene Dame in
Goethe
, ja in
Christus
große Musiker sieht, obwohl von Letzterem Niemand weiß, daß er einer, von
Ersterem Jedermann, daß er keiner gewesen.
5.30Das Recht historischer Bildungen und poetischer Freiheit halten wir in Ehren. Wir begreifen es, warum Aristophanes in den „Wespen“ einen feingebildeten Geist „den Weisen und Musikalischen“ nennt (σοφον ϰαι μεϛιϰόν), und finden den Ausdruck Graf Reinhardtʼs sinnig, Oehlenschläger habe „musikalische Augen.“ Wissenschaftliche Betrachtungen jedoch dürfen der Musik nie einen andern Begriff beilegen oder voraussetzen, als den streng ästhetischen, wenn nicht alle Hoffnung zur einstigen Feststellung dieser zitternden Wissenschaft aufgegeben werden soll.
6.1Das Verhältniß zur Natur ist für jedes Ding das Erste, darum das Ehrwürdigste und das Einflußreichste. Wer auch nur flüchtig an den Puls der Zeit gefühlt, der weiß, wie die Herrschaft dieser Erkenntniß in mächtigem Anwachsen begriffen ist. Durch die moderne Forschung geht ein so starker Zug nach der Naturseite aller Erscheinungen, daß selbst die abstractesten Untersuchungen merklich gegen die Methode der Naturwissenschaften gravitiren. Auch die Aesthetik, will sie kein bloßes Scheinleben führen, muß die knorrige Wurzel kennen, wie die zarte Faser, an welcher jede einzelne Kunst mit dem Naturgrund zusammenhängt. Hat in dieser Kenntniß die Wissenschaft des Schönen für Maler und Poeten Fragmentarisches geliefert, so schuldet sie dem Musiker nicht viel weniger als Alles.
6.2Man pflegte die Naturbeziehungen der Musik
hauptsächlich nur aus physikalischem Standpunkt zu betrachten, und ist über
Schallwellen, Klangfiguren, Monochord u. s. w. wenig hinausgekommen. Geschah irgend
ein Schritt zu großartigerer Untersuchung, so gerieth er alsbald ins Stocken, weil
er
vor seinen eigenen Resultaten erschrack
[84] oder
vor dem allzuheftigen Conflict mit der herrschenden Lehre. Und doch erschließt das
Verhältniß der Tonkunst zur Natur die wichtigsten Folgerungen für die musikalische
Aesthetik. Die Stellung ihrer schwierigsten Materien, die Lösung ihrer
controversesten Fragen hängt von der richtigen Würdigung dieses Zusammenhanges
ab.
6.3Die Künste, – vorerst als empfangend, noch nicht als rückwirkend betrachtet – stehen zu der umgebenden Natur in einer doppelten Beziehung. Erstens durch das rohe, körperliche Material, aus welchem sie schaffen, dann durch den schönen Inhalt, den sie für künstlerische Behandlung vorfinden. In beiden Punkten verhält sich die Natur zu den Künsten als mütterliche Spenderin der ersten und wichtigsten Mitgift. Es gilt den Versuch, diese Ausstattung im Interesse der musikalischen Aesthetik rasch zu besichtigen und zu prüfen, was die vernünftig und darum ungleich schenkende Natur für die Tonkunst gethan hat.
6.4Untersucht man, inwiefern die Natur Stoff für die Musik biete, so ergibt sich, daß sie dies nur in dem untersten Sinn des rohen Materials thut, welches der Mensch zum Tönen zwingt. Das stumme Erz der Berge, das Holz des Waldes, der Thiere Fell und Gedärm sind Alles, was wir vorfinden, um den eigentlichen Baustoff für die Musik: den reinen Ton zu bereiten. Wir erhalten also vorerst nur Material zum Material: dies Letztere ist der reine, nach Höhe und Tiefe bestimmte, d. i. meßbare Ton. Er ist erste und unumgängliche Bedingung jeder Musik. Diese gestaltet ihn zu Melodie und Harmonie, den zwei Hauptfactoren der Tonkunst. Beide finden sich in der Natur nicht vor, sie sind Schöpfungen des Menschengeistes.
6.5Das geordnete Nacheinanderfolgen meßbarer Töne, welches wir Melodie nennen, begegnen wir in der Natur auch nicht in den dürftigsten Anfängen; ihre successiven Schallerscheinungen entbehren der verständlichen Proportion und entziehen sich der Reduction auf unsere Scala. Die Melodie aber ist, mit Krüger zu sprechen, „der springende Punkt,“ das Leben, die erste Kunstgestalt des Tonreichs, an sie ist jede weitere Bestimmtheit, alle Erfassung des Inhalts geknüpft.
6.6Ebensowenig wie Melodie kennt die Natur, diese
großartige Harmonie aller Erscheinungen, Harmonie im musikalischen Sinn,
als
[85]
Zusammenklingen bestimmter Töne. Hat Jemand in der Natur einen Dreiklang gehört,
einen Sext- oder Septimaccord? Wie die Melodie, so war auch (nur in viel langsamerem
Fortschreiten) die Harmonie ein Erzeugniß menschlichen Geistes.
6.7Die Griechen kannten keine Harmonie, sondern sangen in der Octave oder im Einklang, wie noch heutzutage jene asiatischen Völkerschaften, bei welchen überhaupt Gesang angetroffen wird. Der Gebrauch der Dissonanzen (wozu auch Terz und Sext gehörten) begann allmälig vom 12. Jahrhundert an und bis ins 15. beschränkte man sich bei Ausweichungen auf die Octave. Jedes der Intervalle, die jetzt unserer Harmonie dienstbar sind, mußte einzeln gewonnen werden, und oft reichte ein Jahrhundert nicht hin für solch kleine Errungenschaft. Das kunstgebildetste Volk des Alterthums, so wie die gelehrtesten Tonsetzer des früheren Mittelalters konnten nicht, was unsere Hirtinnen auf der entlegensten Alpe: in Terzen singen. Durch die Harmonie aber ist der Tonkunst nicht etwa ein neues Licht aufgegangen, sondern zum erstenmal Tag geworden. „Die ganze Tonschöpfung wurde von dieser Zeit an erst ausgeboren.“ (Nägeli.)
6.8Harmonie und Melodie fehlen also in der Natur. Nur
ein drittes Element in der Musik, dasjenige, von dem die beiden ersten getragen
werden, existirt schon vor und außer dem Menschen: der Rhythmus. Im
Galopp des Pferdes, dem Klappern der Mühle, dem Gesang der Amsel und Wachtel äußert
sich eine Einheit, zu welcher aufeinanderfolgende Zeittheilchen sich zusammenfassen
und ein anschauliches Ganze bilden. Nicht alle, aber viele Lautäußerungen der Natur
sind rhythmisch. Und zwar herrscht in ihr das Gesetz des zweitheiligen
Rhythmus, als Hebung und Senkung, Anlauf und Auslauf. Was diesen Naturrhythmus von
der menschlichen Musik trennt, muß alsbald auffallen. In der Musik gibt
es nämlich keinen isolirten Rhythmus als solchen, sondern nur Melodie oder Harmonie,
welche rhythmisch sich äußert. In der Natur dagegen trägt der Rhythmus weder Melodie
noch Harmonie, sondern nur unmeßbare Luftschwingungen. Der Rhythmus, das einzige
musikalische Urelement in der Natur, ist auch das erste, so im Menschen erwacht, im
Kinde, im Wilden am frühsten sich entwickelt. Wenn die Südsee-Insulaner mit
Metallstücken und Holzstäben rhythmisch klappern und
[86] dazu
ein unfaßliches Geheul ausstoßen, so ist das natürliche Musik, denn es
ist eben keine Musik. Was wir aber einen Tiroler Bauer singen hören, zu welchem anscheinend
keine Spur von Kunst gedrungen, ist durchaus künstliche Musik. Der Mann
meint freilich, er singe wie ihm der Schnabel gewachsen ist: aber damit dies möglich
wurde, mußte die Saat von Jahrhunderten wachsen.
6.9Wir hätten somit die nothwendigen Elementarbestandtheile unserer Musik betrachtet und gefunden, daß der Mensch von der ihn umgebenden Natur nicht musiciren lernte. In welcher Art und Folge sich unser heutiges Tonsystem ausgebildet hat, lehrt die Geschichte der Tonkunst. Wir haben diese Nachweisung vorauszusetzen und nur ihr Ergebniß festzuhalten, daß Melodie und Harmonie, daß unsere Intervallenverhältnisse und Tonleiter, die Theilung von Dur und Moll nach der verschiedenen Stellung des Halbtons, endlich die schwebende Temperatur, ohne welche unsere (europäisch-abendländische) Musik unmöglich wäre, langsam und allmälig entstandene Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. Die Natur hat dem Menschen nur die Organe und die Lust zum Singen mitgegeben, dazu die Fähigkeit, sich auf Grundlage der einfachsten Verhältnisse nach und nach ein Tonsystem zu bilden. Nur diese einfachsten Verhältnisse (Dreiklang, harmonische Progression) werden unwandelbare Grundpfeiler, jedem künftigen Weiterbau bleiben. – Man hüte sich vor der Verwechselung, als ob dieses (gegenwärtige) Tonsystem selbst nothwendig in der Natur läge. Die Erfahrung, daß selbst Naturalisten heutzutage mit den musikalischen Verhältnissen unbewußt und leicht handthieren wie mit angeborenen Kräften, die sich von selbst verstehen, stempelt die herrschenden Tongesetze keineswegs zu Naturgesetzen; es ist dies bereits Folge der unendlich verbreiteten musikalischen Cultur. Hand bemerkt ganz richtig, daß darum auch unsere Kinder in der Wiege schon besser singen, als erwachsene Wilde. „Läge die Tonfolge der Musik in der Natur fertig vor, so sänge auch jeder Mensch und immer rein.“ 27
6.10Wenn man unser Tonsystem ein „künstliches“ nennt, so gebraucht man dies Wort nicht in dem raffinirten Sinn einer willkürlichen conventionellen Erfindung. Es bezeichnet blos ein Gewordenes im Gegensatz zum Erschaffenen.
6.11Dies übersieht
Hauptmann
, wenn er den Begriff eines künstlichen Tonsystems einen
„durchaus nichtigen“
nennt,
„indem die Musiker eben so wenig haben Intervalle bestimmen und ein
Tonsystem erfinden können, als die Sprachgelehrten die Worte der Sprache und
die Sprachfügung erfunden haben.“
28 Gerade
die Sprache ist in demselben Sinne wie die Musik ein künstliches Erzeugniß, indem
beide nicht in der äußeren Natur vorgebildet liegen, sondern
unerschaffen sind und erlernt werden müssen. Nicht die
Sprachgelehrten, aber die Nationen bilden sich ihre Sprache nach ihrem Charakter und
Bedürfniß und ändern sie vervollkommnend immerfort. So haben auch die „Tongelehrten“
unsere Musik nicht „errichtet,“ sondern lediglich das fixirt und begründet, was der
allgemeine, musikalisch befähigte Geist mit Vernünftigkeit, aber nicht
mit Nothwendigkeit unbewußt ersonnen hatte. 29 Aus diesem Proceß ergibt sich,
daß auch unser Tonsystem im Zeitverlauf neue Bereicherungen und Veränderungen
erfahren wird. Doch sind innerhalb der gegenwärtigen Gesetze noch zu vielfache und
große Evolutionen möglich, als daß eine Aenderung im Wesen des Systems
anders wie sehr fernliegend erscheinen dürfte. Bestände z. B. diese Bereicherung in
der „Emancipation der Vierteltöne,“ wovon eine moderne Schriftstellerin schon
Andeutungen im
Chopin
finden will, 30 so würde
Theorie, Compositionslehre und Aesthetik der Musik eine total andere. Der
musikalische Theoretiker kann daher gegenwärtig den Ausblick auf
[88] diese
Zukunft noch kaum anders frei lassen, als durch die einfache Anerkennung ihrer
Möglichkeit.
6.12Unserem Ausspruch, es gebe keine Musik in der
Natur, wird man den Reichthum mannigfaltiger Stimmen einwenden, welche die Natur so
wunderbar beleben. Sollte das Rieseln des Baches, das Klatschen der Meereswellen,
der
Donner der Lawinen, das Stürmen der Windsbraut nicht Anlaß und Vorbild der
menschlichen Musik gewesen sein? Hatten allʼ die lispelnden, pfeifenden,
schmetternden Laute mit unserem Musikwesen nichts zu schaffen? Wir müssen in der That
mit Nein antworten. Alle diese Aeußerungen der Natur sind lediglich
Schall und Klang, d. h. in ungleichen Zeittheilen
aufeinander folgende Luftschwingungen. Höchst selten und dann nur isolirt bringt die
Natur einen Ton hervor, d. i. einen Klang von bestimmter, meßbarer Höhe
und Tiefe. Töne sind aber die Grundbedingung aller Musik. Mögen diese
Klangäußerungen der Natur noch so mächtig oder reizend das Gemüth anregen, sie sind
keine Stufe zur menschlichen Musik, sondern lediglich elementarische
Andeutungen einer solchen. Selbst die reinste Erscheinung des
natürlichen Tonlebens, der Vogelgesang, steht zur menschlichen Musik in
keinem Bezug, da er unserer Scala nicht angepaßt werden kann. Auch das Phänomen der
Naturharmonie, jedenfalls die einzige und unumstößliche
Naturgrundlage, auf welcher die Hauptverhältnisse unserer Musik beruhen, – ist auf
seine richtige Bedeutung zurückzuführen. Die harmonische Progression erzeugt sich
auf
der gleichbesaiteten Aeolsharfe von selbst, gründet also auf einem Naturgesetz,
allein das Phänomen selbst hört man nirgend von der Natur unmittelbar erzeugt. Sobald
nicht auf einem musikalischen Instrument ein bestimmter, meßbarer Grundton
angeschlagen wird, erscheinen auch keine sympathischen Nebentöne, keine harmonische
Progression. Der Mensch muß also fragen, damit die Natur Antwort gebe.
Die Erscheinung des Echo erklärt sich noch einfacher. Es ist merkwürdig,
wie selbst tüchtige Schriftsteller sich von dem Gedanken einer eigentlichen (nur
unvollkommenen) „Musik“ in der Natur nicht losmachen können. Selbst
Hand
, von dem wir absichtlich früher Beispiele citirten, welche seine richtige
Einsicht in das incommensurable, kunstunfähige Wesen der natürlichen
Schallerscheinungen darthun, bringt
[89] ein
eigenes Kapitel
„von der Musik der Natur,“
deren Schallerscheinungen
„gewissermaßen“
auch Musik genannt werden müssen. Eben so
Krüger
. 31 Wo es sich aber um
Principienfragen handelt, da gibt es kein „gewissermaßen;“ was wir in der Natur
vernehmen, ist entweder Musik, oder es ist keine Musik. Das
entscheidende Moment kann nur in die Meßbarkeit des Tons gelegt werden.
Hand
legt den Nachdruck überall auf die
„geistige Beseelung,“
„den Ausdruck inneren Lebens, innerer Empfindung,“
„die Kraft der Selbstthätigkeit, wodurch unmittelbar ein Inneres zur
Aussprache gelangt.“
Nach diesem Princip müßte der Vogelsang Musik genannt werden, die mechanische
Spieluhr hingegen nicht; während gerade das Entgegengesetzte wahr ist.
6.13Die „Musik“ der Natur und die Tonkunst des Menschen sind zwei verschiedene Gebiete. Der Uebergang von der ersten zur zweiten geht durch die Mathematik. Ein wichtiger, folgenreicher Satz. Freilich darf man ihn nicht so denken, als hätte der Mensch seine Töne durch absichtlich angestellte Berechnungen geordnet; es geschah dies vielmehr durch unbewußte Anwendung ursprünglicher Größen- und Verhältnißvorstellungen, durch ein verborgenes Messen und Zählen, dessen Gesetzmäßigkeit erst später die Wissenschaft constatirte.
6.14Dadurch, daß in der Musik Alles commensurabel sein muß, in den Naturlauten aber nichts commensurabel ist, stehen diese beiden Schallreiche unvermittelt neben einander. Die Natur gibt uns nicht das künstlerische Material eines fertigen, vorgebildeten Tonsystems, sondern nur den rohen Stoff der Körper, die wir der Musik dienstbar machen. Nicht die Stimmen der Thiere, sondern ihre Gedärme sind uns wichtig, und das Thier, dem die Musik am meisten verdankt, ist nicht die Nachtigall, sondern das Schaf.
6.15Nach dieser Untersuchung, welche für das Verhältniß des Musikalisch-Schönen nur ein Unterbau, aber ein nothwendiger war, heben wir uns eine Stufe höher, auf eigentlich ästhetisches Gebiet.
6.16Der meßbare Ton und das geordnete Tonsystem sind
erst, womit der Componist schafft, nicht was er schafft.
Wie Holz und
[90] Erz nur „Stoff“ waren für den Ton, so ist der Ton nur „Stoff“
(Material) für die Musik. Es gibt noch eine dritte und höhere Bedeutung von „Stoff,“
Stoff im Sinne des behandelten Gegenstandes, der dargestellten Idee, des Sujets.
Woher nimmt der Componist diesen Stoff? Woher erwächst einer bestimmten
Tondichtung der Inhalt, der Gegenstand, welcher sie als Individuum hinstellt und von
andern unterscheidet?
6.17Die Poesie, die Malerei, die Sculptur haben ihren unerschöpflichen Quell von Stoffen in der uns umgebenden Natur. Der Künstler findet sich durch irgend ein Naturschönes angeregt, es wird ihm Stoff zu eigener Hervorbringung.
6.18In den bildenden Künsten ist das Vorschaffen der Natur am auffallendsten. Der Maler könnte keinen Baum, keine Blume zeichnen, wenn sie nicht schon in der äußeren Natur vorgebildet wären; der Bildhauer keine Statue, ohne die wirkliche Menschengestalt zu kennen und zum Muster zu nehmen. Dasselbe gilt von erfundenen Stoffen. Sie können nie im strengen Sinn „erfunden“ sein. Besteht nicht die „ideale“ Landschaft aus Felsen, Bäumen, Wasser und Wolkenzügen, lauter Dingen, die in der Natur vorgebildet sind? Der Maler kann nichts malen, was er nicht gesehen und genau beobachtet hat. Gleichviel ob er eine Landschaft malt, oder ein Genrebild, ein Historiengemälde erfindet. Wenn uns Zeitgenossen einen „Huß,“ „Luther,“ „Egmont“ malen, so haben sie ihren Gegenstand nie wirklich gesehen, aber für jeden Bestandtheil desselben müssen sie das Vorbild genau der Natur entnommen haben. Der Maler muß nicht diesen Mann, aber er muß viele Männer gesehen haben, wie sie sich bewegen, stehen, gehen, beleuchtet werden, Schatten werfen; der gröbste Vorwurf wäre gewiß die Unmöglichkeit oder Naturwidrigkeit seiner Figuren.
6.19Dasselbe gilt von der Dichtkunst,
welche ein noch weit größeres Feld naturschöner Vorbilder hat. Die Menschen und ihre
Handlungen, Gefühle, Schicksale, wie sie uns durch eigene Wahrnehmung
oder durch Tradition (– denn auch diese gehört zu dem
Vorgefundenen, dem Dichter Dargebotenen –) gebracht
werden, sind Stoff für das Gedicht, die Tragödie, den Roman. Der Dichter kann keinen
Sonnenaufgang, kein Schneefeld beschreiben, kei
[91]nen Gefühlszustand schildern, keinen Bauer, Soldaten, Geizigen,
Verliebten auf die Bühne bringen, wenn er nicht die Vorbilder dazu in der Natur
gesehen und studirt oder durch richtige Traditionen so in seiner Phantasie belebt
hat, daß sie die unmittelbare Anschauung ersetzen. 32
6.20Stellen wir nun diesen Künsten die Musik entgegen, so erkennen wir, daß sie ein Vorbild, einen Stoff für ihre Werke nirgend vorfindet.
6.21 Es gibt kein Naturschönes für die Musik.
6.22Dieser Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten (nur die Baukunst findet gleichfalls kein Vorbild in der Natur) ist tiefgehend und folgenschwer.
6.23Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein
stetes (inneres oder wirkliches) Nachzeichnen, Nachformen, – etwas
nachzumusiciren gibt es in der Natur nicht. Die Natur kennt keine
Sonate, keine Ouvertüre, kein Rondo. Wohl aber Landschaften, Genrebilder, Idyllen,
Trauerspiele. Der aristotelische
Satz von der Naturnachahmung in der Kunst, welcher noch bei den Philosophen des
vorigen Jahrhunderts gang und gäbe war, ist längst berichtigt und bedarf, bis zum
Ueberdruß abgedroschen, hier keiner weiteren Erörterung. Nicht sklavisch nachbilden
soll die Kunst die Natur, sie hat sie umzubilden. Der Ausdruck zeigt
schon, daß vor der Kunst etwas da sein mußte, was umgebildet wird. Dies
ist eben das von der Natur dargebotene Vorbild, das Naturschöne. Der Maler findet
sich von einer reizenden Landschaft, einer Gruppe, einem Gedicht, der Dichter von
einer historischen Begebenheit, einem Erlebniß, zur künstlerischen Darstellung des
Vorgefundenen veranlaßt. Bei welcher Naturbetrachtung könnte aber der
Tonsetzer jemals ausrufen: das ist ein prächtiges Vorbild für eine
Ouvertüre, eine Symphonie! Der Componist kann gar nichts umbilden, er
muß Alles neu erschaffen. Was der Maler, der Dichter in Betrachtung des
Naturschönen findet, das muß der Componist durch Concentration seines Inneren
[92]
herausarbeiten. Er muß der guten Stunde warten, wo es in ihm anfängt zu singen und
zu
klingen: da wird er sich versenken und aus sich heraus etwas schaffen, was in der
Natur nicht seines Gleichen hat, und daher auch, ungleich den andern Künsten,
geradezu nicht von dieser Welt ist.
6.24Es unterliegt keineswegs eine parteiische Begriffsbestimmung, wenn wir zu dem „Naturschönen“ für den Maler und Dichter den Menschen hinzurechneten, für den Musiker hingegen den kunstlos aus der Menschenbrust quellenden Gesang verschwiegen. Der singende Hirte ist nicht Object, sondern schon Subject der Kunst. Besteht sein Lied aus meßbaren, geordneten, wenn noch so einfachen Tonfolgen, so istʼs ein Product des Menschengeistes, ob es nun ein Hirtenjunge erfunden hat oder Beethoven.
6.25Wenn daher ein Componist wirkliche Nationalmelodien benützt, so ist dies kein Naturschönes, denn man muß bis zu Einem zurückgehen, der sie erfunden hat, – woher hatte sie dieser? Fand er ein Vorbild dafür in der Natur? Dies ist die berechtigte Frage. Die Antwort kann nur verneinend lauten. Der Volksgesang ist kein Vorgefundenes, kein Naturschönes, sondern die erste Stufe wirklicher Kunst, naive Kunst. Er ist für die Tonkunst ebensowenig ein von der Natur erzeugtes Vorbild, als die mit Kohle an Wachtstuben und Schuttböden geschmierten Blumen oder Soldaten natürliche Vorbilder für die Malerei sind. Beides ist menschliches Kunstproduct. Für die Kohlenfiguren lassen die Vorbilder in der Natur sich nachweisen, für den Volksgesang nicht; man kann nicht hinter ihn zurückgehen.
6.26Zu einer sehr gangbaren Verwirrung gelangt man,
wenn man den Begriff des „Stoffs“ für die Musik in einem angewandten, höheren Sinne
nimmt und darauf hinweist, daß Beethoven wirklich eine Ouvertüre zu Egmont, – oder damit das Wörtchen „zu“ nicht an
dramatische Zwecke mahne, – eine Musik „Egmont“ geschrieben hat, Berlioz einen „
König Lear
,“ Mendelssohn eine „
Melusina
.“ Haben diese Erzählungen, fragt man, dem Tondichter nicht ebenso den Stoff
geliefert, als dem Dichter? Keineswegs. Dem Dichter sind diese Gestalten wirkliches
Vorbild, das er umbildet, dem Componisten bieten sie blos Anregung, und
zwar poetische Anregung. Das Naturschöne für den Tondichter müßte ein
Hörbares sein, wie
[93] es für
den Maler ein Sichtbares, für den Bildhauer ein Greifbares ist. Nicht die Gestalt
Egmontʼs,
nicht seine Thaten, Erlebnisse, Gesinnungen sind Inhalt der Beethovenʼschen Ouvertüre,
wie dies im Bilde „Egmont,“ im Drama „Egmont“ der Fall. Der
Inhalt der Ouvertüre sind Tonreihen, welche der Componist vollkommen
frei nach musikalischen Denkgesetzen aus sich erschuf. Sie sind ganz unabhängig und
selbstständig von der Vorstellung „Egmont,“ mit welcher sie lediglich die poetische
Phantasie des Tonsetzers in Zusammenhang bringt. Dieser Zusammenhang aber ist so
willkürlich, daß niemals ein Hörer des Musikstücks auf dessen angeblichen Gegenstand
verfallen würde, wenn nicht der Autor durch die ausdrückliche Benennung
unserer Phantasie im vorhinein die bestimmte Richtung octroyirte.
Berliozʼ großartige Ouvertüre hängt mit der Vorstellung „König Lear“
ebensowenig zusammen, als ein Straußʼscher Walzer. Man kann das nicht scharf genug
aussprechen, da hierüber die irrigsten Ansichten allgemein sind. Erst mit dem
Augenblick erscheint der Straußʼsche Walzer der Vorstellung „König Lear“ widerstrebend, die Berliozʼsche Ouvertüre
hingegen ihr entsprechend, wo wir diese Musiken mit jener Vorstellung
vergleichen. Allein eben zu dieser Vergleichung existirt kein innerer
Anlaß, sondern nur eine ausdrückliche Nöthigung vom Autor. Durch eine bestimmte
Ueberschrift werden wir zur Vergleichung des Musikstückes mit einem außer ihm
stehenden Object genöthigt, wir müssen es mit einem bestimmten Maßstab messen,
welcher nicht der musikalische ist.
6.27Man darf dann vielleicht sagen: Beethovenʼs Ouvertüre „Prometheus“ sei zu wenig großartig für
diesen Vorwurf. Allein nirgend kann man ihr von Innen her beikommen, nirgend ihr eine
musikalische Lücke oder Mangelhaftigkeit nachweisen. Sie ist vollkommen, weil sie
ihren musikalischen Inhalt vollständig ausführt; ihr
dichterisches Thema analog auszuführen ist eine zweite, ganz
verschiedene Forderung. Diese entsteht und verschwindet mit dem Titel.
Ueberdies kann ein solcher Anspruch an ein Tonwerk mit bestimmter Ueberschrift nur
auf gewisse charakteristische Eigenschaften lauten: daß die Musik
erhaben, düster, oder niedlich, froh klinge, von einfacher Exposition zu betrübtem
oder freudigem Abschluß sich entwickle u. s. w. An die Dichtkunst oder Malerei stellt
der Stoff die Forde
[94]rung einer bestimmten concreten Individualität, nicht
bloßer Eigenschaften. Darum wäre es recht wohl denkbar, daß Beethovenʼs Ouvertüre zu
„Egmont“ allenfalls „Wilhelm Tell“ oder „Jeanne dʼArc“ überschrieben sein könnte. Das
Drama
Egmont, das
Bild
Egmont
lassen höchstens die Verwechslung zu, daß dies ein anderes Individuum in den gleichen
Verhältnissen, nicht aber, daß es ganz andere Verhältnisse sind.
6.28Man sieht, wie eng das Verhältniß der Musik zum Naturschönen mit der ganzen Frage von ihrem Inhalt zusammenhängt.
6.29Noch einen Einwand wird man aus der musikalischen Literatur herholen, um der Musik ein Naturschönes zu vindiciren. Beispiele nämlich, daß Tonsetzer aus der Natur nicht blos den poetischen Anlaß geschöpft (wie in obigen Historien), sondern wirklich hörbare Aeußerungen ihres Tonlebens nachgebildet haben: der Hahnenruf in Haydnʼs Jahreszeiten, Kuckuk, Nachtigall und Wachtelschlag in Spohrʼs „Weihe der Töne“ und Beethovenʼs Pastoralsymphonie. Allein wenn wir gleich diese Nachahmungen hören und in einem musikalischen Kunstwerk hören, so haben sie doch darin keine musikalische Bedeutung, sondern eine poetische. Es soll uns der Hahnenschrei nicht als schöne Musik, oder überhaupt als Musik vorgeführt werden, sondern nur der Eindruck zurückgerufen, welcher mit jener Naturerscheinung zusammenhängt. Allgemein bekannte Stichwörter, Citate sind es, welche uns erinnern: Es ist früher Morgen, laue Sommernacht, Frühling. Ohne diese beschreibende Tendenz hat nie ein Componist Naturstimmen zu wirklich musikalischen Zwecken verwenden können. Ein Thema können alle Naturstimmen der Erde zusammen nicht hervorbringen, eben weil sie keine Musik sind, und sehr bedeutungsvoll erscheint es, daß die Tonkunst von der Natur nur Gebrauch machen kann, wenn sie in die Malerei pfuscht.
[95]
7.1 Hat die Musik einen Inhalt?
7.2So lautet, seit man gewohnt ist, über unsere Kunst nachzudenken, ihre hitzigste Streitfrage. Sie wurde für und wider entschieden. Gewichtige Stimmen behaupten die Inhaltlosigkeit der Musik, sie gehören beinahe durchaus den Philosophen: Rousseau , Kant , Hegel , Vischer , Kahlert u. A. Die ungleich zahlreicheren Kämpfer fechten für den Inhalt der Tonkunst; es sind die eigentlichen Musiker unter den Schriftstellern und das Gros der allgemeinen Ueberzeugung steht zu ihnen.
7.3Fast mag es seltsam erscheinen, daß gerade Diejenigen, welchen die technischen Bestimmungen der Musik vertraut sind, sich nicht von dem Irrthum einer diesen Bedingungen widersprechenden Ansicht lossagen mögen, die man eher dem abstracten Philosophen verzeihen könnte. Das kommt daher, weil es vielen Musikschriftstellern in diesem Punkt mehr um die vermeintliche Ehre ihrer Kunst, als um die Wahrheit zu thun ist. Sie befehden die Lehre von der Inhaltlosigkeit der Musik nicht wie Meinung gegen Meinung, sondern wie Ketzerei gegen Dogma. Die gegnerische Ansicht erscheint ihnen als unwürdiges Mißverstehen, als grober frevelnder Materialismus. „Wie, die Kunst, die uns hoch erhebt und begeistert, der so viele edle Geister ihr Leben gewidmet, die den höchsten Ideen dienstbar werden kann, sie sollte mit dem Fluch der Inhaltlosigkeit beladen sein, bloßes Spielwerk der Sinne, leeres Geklingel!?“ Mit derlei vielgehörten Ausrufungen, wie sie meist koppelweise ausgelassen werden, obwohl ein Satz zum andern nicht gehört, wird nichts widerlegt noch bewiesen. Es handelt sich hier um keinen Ehrenpunkt, kein Parteizeichen, sondern einfach um die Erkenntniß des Wahren, und zu dieser zu gelangen, muß man sich vor Allem über die Begriffe klar sein, die man bestreitet.
7.4Die Verwechslung der Begriffe: Inhalt,
Gegenstand, Stoff ist, was in dieser Materie so viel
Unklarheit verursacht hat, und noch immer veranlaßt, da Jeder für denselben Begriff
eine andere Bezeichnung gebraucht, oder mit dem gleichen Wort verschiedene Vor
[96]stellung verbindet. „Inhalt“ im ursprünglichen und
eigentlichen Sinne ist: was ein Ding enthält, in sich hält. In dieser
Bedeutung sind die Töne, aus welchen ein Musikstück besteht, welche als
dessen Theile es zum Ganzen bilden, der Inhalt desselben. Daß sich mit dieser Antwort
Niemand zufriedenstellen mag, sie als etwas ganz Selbstverständliches abfertigend,
hat seinen Grund darin, daß man gemeiniglich „Inhalt“ mit „Gegenstand“ verwechselt.
Bei der Frage nach dem „Inhalt“ der Musik hat man die Vorstellung von
„Gegenstand“ (Stoff, Sujet) im Sinne, welchen man als die Idee, das
Ideale den Tönen als „materiellen Bestandtheilen“ geradezu entgegensetzt. Einen
Inhalt in dieser Bedeutung, einen Stoff im Sinne des behandelten
Gegenstandes hat die Tonkunst in der That nicht.
Kahlert
stützt sich mit Recht nachdrücklich darauf, daß sich von der Musik nicht, wie
vom Gemälde, eine
„Wortbeschreibung“
liefern läßt (Aesth. 380), wenngleich seine weitere Annahme irrig ist, daß solche
Wortbeschreibung jemals eine
„Abhülfe für den fehlenden Kunstgenuß“
bieten kann. Aber eine erklärende Verständigung, um was es sich handelt, kann
sie bieten. Die Frage nach dem „Was“ des musikalischen Inhaltes müßte sich nothwendig
in Worten beantworten lassen, wenn das Musikstück wirklich einen „Inhalt“ (einen
Gegenstand) hätte. Denn ein „unbestimmter Inhalt,“ den sich
„Jedermann als etwas Anderes denken kann,“ der sich „nur fühlen,“ „nicht in Worten
wiedergeben läßt,“ ist eben kein Inhalt in der genannten Bedeutung.
7.5Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, diese haben keinen andern Inhalt als sich selbst. Wir erinnern abermals an die Baukunst und den Tanz, die uns gleichfalls schöne Verhältnisse ohne bestimmten Inhalt entgegenbringen. Mag nun die Wirkung eines Tonstücks Jeder nach seiner Individualität anschlagen und benennen, der Inhalt desselben ist keiner, als eben die gehörten Tonformen, denn die Musik spricht nicht blos durch Töne, sie spricht auch nur Töne.
7.6
Krüger
, der geist- und kenntnißreichste Verfechter des musikalischen „Inhalts“ gegen
Hegel und
Kahlert,
behauptet, die Musik gebe blos eine andere Seite desselben Inhalts,
welcher den übrigen Künsten, z. B. der Malerei zusteht.
„Jede plastische Gestalt,“
sagt
[97] er (Beiträge, 131),
„ist eine ruhende: sie giebt nicht die Handlung, sondern die gewesene
Handlung oder das Seiende. Also nicht: Apollo überwindet, sagt das Gemälde aus, sondern es zeigt den
Ueberwinder, den zornigen Kämpfer“
etc. Hingegen
„die Musik giebt zu jenen stillstehenden plastischen Substantiven das
Verbum, die Thätigkeit, das innere Wogen hinzu, und wenn wir dort als den
wahren ruhenden Inhalt erkannt haben: Zürnend, Liebend, so erkennen wir hier
nicht minder den wahren bewegten Inhalt: Zürnt, Liebt, Rauscht, Wogt,
Stürmt.“
Letzteres ist nur zur Hälfte richtig: „rauschen, wogen und stürmen“ kann die
Musik, aber „zürnen“ und „lieben“ kann sie nicht. Das sind schon hineingefühlte
Leidenschaften. Wir müssen hier auf unser zweites Kapitel zurückweisen, das in seiner
negativen Tendenz die Frage vom Inhalt der Musik eben so wesentlich unterstützt, als
es das dritte Kapitel mit
seinen positiven Bestimmungen über das rein formale Wesen der musikalischen Schönheit
thut.
Krüger
fährt fort der Bestimmtheit des gemalten Inhalts die des
musicirten an die Seite zu stellen. Er sagt:
„Der Bildner stellt Orest von Furien verfolgt
dar: es erscheint auf der Außenfläche seines Leibes, in Auge, Mund, Stirn und
Haltung der Ausdruck des Flüchtigen, Düstern, Verzweifelten, neben ihm die
Gestalten des Fluchs, die ihn beherrschen, in gebietender, furchtbarer Hoheit,
ebenfalls äußerlich in verharrenden Umrissen, Gesichtszügen, Stellungen. Der
Tondichter stellt Orest den Verfolgten nicht
im beruhenden Umriß hin, sondern nach der Seite, die dem Bildner fehlt: er
singt das Grausen und Beben seiner Seele, die fliehend kämpfende
Regung“
u. s. f. Dies ist, unserer Meinung, ganz falsch. Der Tonkünstler kann den
Orestes weder so noch so, er kann ihn gar
nicht darstellen.
7.7Man wende nicht ein, daß ja auch die bildenden
Künste uns die bestimmte, historische Person nicht zu geben vermögen, und wir die
gemalte Gestalt nicht als dieses Individuum erkennen würden, brächten
wir nicht die Kenntniß des Historisch-Thatsächlichen hinzu. Freilich ist es nicht
Orest
, der Mann mit diesen Erlebnissen und bestimmten biographischen
Momenten, diesen kann nur der Dichter darstellen, weil nur er zu
erzählen vermag. Allein das Bild „Orest“
zeigt uns doch unverkennbar einen Jüngling mit edlen Zügen, in griechischem Gewand, Angst und Seelenpein in den
Mienen und
[98] Bewegungen, es zeigt uns die furchtbaren Gestalten der Rachegöttinnen,
ihn verfolgend und quälend. Dies Alles ist klar, unzweifelhaft, sichtlich, erzählbar
– ob nun der Mann Orest heiße oder anders. Nur die Motive: daß der Jüngling
einen Muttermord begangen u. s. w., sind nicht ausdrückbar. Was kann die Tonkunst
jenem sichtbaren (vom Historischen abstrahirten) Inhalt des Gemäldes an Bestimmtheit
entgegensetzen? Verminderte Septimaccorde, Mollthemen, wogende Bässe u. dgl., kurz
musikalische Formen, welche eben so gut ein Weib, anstatt eines Jünglings, einen von
Häschern anstatt von Furien Verfolgten, die einen Eifersüchtigen, Rachesinnenden,
einen von körperlichem Schmerz Gequälten, kurz alles Erdenkliche bedeuten können,
wenn man schon das Tonstück etwas will bedeuten lassen.
7.8Es bedarf wohl auch nicht der ausdrücklichen Berufung auf den früher begründeten Satz, daß wenn vom Inhalt und der Darstellungsfähigkeit der „Tonkunst“ die Rede ist, nur von der reinen Instrumentalmusik ausgegangen werden darf. Niemand wird dies so weit vergessen, uns z. B. den Orestes in Gluckʼs „Iphigenia“ einzuwenden. Diesen „Orestes“ giebt ja nicht der Componist: die Worte des Dichters, Gestalt und Mimik des Darstellers, Costüm und Decorationen des Malers – dies istʼs, was den Orestes fertig hinstellt. Was der Musiker hinzugiebt, ist vielleicht das Schönste von Allem, aber es ist gerade das Einzige, was nichts mit dem wirklichen Orest zu schaffen hat: Gesang.
7.9 Lessing hat mit wunderbarer Klarheit auseinandergesetzt, was der Dichter und was der bildende Künstler aus der Geschichte des Laokoon zu machen vermag. Der Dichter, durch das Mittel der Sprache, giebt den historischen, individuell bestimmten Laokoon, der Maler und Bildhauer hingegen einen Greis mit zwei Knaben (von diesem bestimmten Alter, Aussehen, Costüm u. s. f.) von den furchtbaren Schlangen umwunden, in Mienen, Stellung und Geberden die Qual des nahenden Todes ausdrückend. Vom Musiker sagt Lessing nichts. Ganz begreiflich, denn Nichts ist es eben, was er aus dem Laokoon machen kann.
7.10Wir haben bereits angedeutet, wie eng die Frage
nach dem Inhalt der Tonkunst mit deren Stellung zum
Naturschönen zusam
[99]menhängt. Der Musiker findet nicht das Vorbild für seine Kunst,
welches den andern Künsten die Bestimmtheit und Erkennbarkeit ihres Inhalts
gewährleistet. Eine Kunst, der das vorbildende Naturschöne abgeht, wird im
eigentlichen Sinne körperlos sein. Das Urbild ihrer Erscheinungsform begegnet uns
nirgend, fehlt daher in dem Kreis unserer gesammelten Begriffe. Es wiederholt keinen
bereits bekannten, benannten Gegenstand, darum hat es für unser in bestimmte Begriffe
gefaßtes Denken keinen nennbaren Inhalt.
7.11Vom Inhalt eines Kunstwerkes kann eigentlich nur da die Rede sein, wo man diesen Inhalt einer Form entgegenhält. Die Begriffe „Inhalt“ und „Form“ bedingen und ergänzen einander. Wo nicht eine Form von einem Inhalt dem Denken trennbar erscheint, da existirt auch kein selbstständiger Inhalt. In der Musik aber sehen wir Inhalt und Form, Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit verschmolzen. Dieser Eigenthümlichkeit der Tonkunst, Form und Inhalt ungetrennt zu besitzen, stehen die dichtenden und bildenden Künste schroff gegenüber, welche denselben Gedanken, dasselbe Ereigniß in verschiedener Form darstellen können. Aus der Geschichte des Wilhelm Tell machte Florian einen historischen Roman, Schiller ein Drama, Goethe begann sie als Epos zu bearbeiten. Der Inhalt ist überall derselbe, in Prosa aufzulösende, erzählbare, erkennbare, die Form verschieden. Die dem Meer entsteigende Aphrodite ist der gleiche Inhalt unzähliger gemalter und gemeißelter Kunstwerke, die durch die verschiedene Form nicht zu verwechseln sind. Bei der Tonkunst giebt es keinen Inhalt gegenüber der Form, weil sie keine Form hat außerhalb dem Inhalt. Betrachten wir dies näher.
7.12Die selbstständige, ästhetisch nicht weiter
theilbare, musikalische Gedankeneinheit ist in jeder Composition das
Thema. Die primitiven Bestimmungen, die man der Musik
als solcher zuschreibt, müssen sich immer am Thema, dem musikalischen
Mikrokosmus, nachweisbar finden. Hören wir irgend ein Hauptthema, z. B. zu Beethovenʼs
B-dur-Symphonie. Was ist dessen
Inhalt? Was seine Form? Wo fängt diese an, wo hört jene auf? Daß ein bestimmtes
Gefühl nicht Inhalt des Satzes sei, hoffen wir dargethan zu haben, und wird in diesem
wie in jedem andern concreten Fall nur immer
[100]
einleuchtender erscheinen. Was also will man den Inhalt nennen? Die Töne
selbst? Gewiß; allein sie sind eben schon geformt. Was die Form? Wieder
die Töne selbst, – sie aber sind schon erfüllte Form.
7.13Jeder praktische Versuch, in einem Thema Form von Inhalt trennen zu wollen, führt auf Widerspruch oder Willkür. Zum Beispiel: wechselt ein Motiv, das von einem andern Instrument, oder einer höheren Octave wiederholt wird, seinen Inhalt oder seine Form? Behauptet man, wie zumeist geschieht, das Letztere, so bliebe als Inhalt des Motivs blos die Intervallenreihe als solche, als Schema der Notenköpfe, wie sie in der Partitur dem Auge sich darstellt. Dies ist aber keine musikalische Bestimmtheit, sondern ein Abstractum. Es verhält sich damit, wie mit den gefärbten Glasfenstern eines Pavillons, durch welche man dieselbe Gegend roth, blau, gelb erblicken kann. Diese ändert hierdurch weder ihren Inhalt, noch ihre Form, sondern lediglich die Färbung. Solch zahlloser Farbenwechsel derselben Formen vom grellsten Contrast bis zur feinsten Schattirung ist der Musik ganz eigenthümlich und macht eine der reichsten und ausgebildetsten Seiten ihrer Wirksamkeit aus.
7.14Eine für Clavier entworfene Melodie, die ein Zweiter später instrumentirt, bekommt durch ihn allenfalls eine neue Form, aber nicht erst Form; sie ist schon geformter Gedanke. Noch weniger wird man behaupten wollen, ein Thema ändere durch Transposition seinen Inhalt und behalte die Form, da sich bei dieser Ansicht die Widersprüche verdoppeln und der Hörer augenblicklich erwidern muß, er erkenne einen ihm bekannten Inhalt, nur „klinge er verändert.“
7.15Bei ganzen Compositionen, namentlich größerer
Ausdehnung, pflegt man freilich von deren Form und Inhalt zu sprechen. Dann gebraucht
man aber diese Begriffe nicht in ihrem ursprünglich logischen Sinne, sondern schon
einer specifisch musikalischen Bedeutung. Die „Form“ einer Symphonie,
Ouvertüre, Sonate nennt man die Architektonik der verbundenen Einzelheiten und
Gruppen, aus welchen das Tonstück besteht, näher also: die Symmetrie dieser Theile
in
ihrer Reihenfolge, Contrastirung, Wiederkehr und Durchführung. Als den
Inhalt begreift man aber dann die zu solcher
[101]
Architektonik verarbeiteten Themen. Hier ist also von einem Inhalt als „Gegenstand“
keine Rede mehr, sondern lediglich von einem musikalischen. Bei ganzen Tonstücken
wird daher „Inhalt“ und „Form“ in einer künstlerisch angewandten, nicht in der rein
logischen Bedeutung gebraucht, wollen wir diese an den Begriff der Musik
legen, so müssen wir nicht an einem ganzen, daher zusammengesetzten Kunstwerk
operiren, sondern an dessen letztem, ästhetisch nicht weiter theilbarem Kerne. Dies
ist das Thema, oder die Themen. Bei diesen läßt sich in gar keinem Sinne
Form und Inhalt trennen. Will man Jemand den „Inhalt“ eines Motivs namhaft machen,
so
muß man ihm das Motiv selbst vorspielen. So kann also der Inhalt eines
Tonwerks niemals gegenständlich, sondern nur musikalisch aufgefaßt werden, nämlich
als das in jedem Musikstück concret Erklingende. Nachdem die Composition formellen
Schönheitsgesetzen folgt, so improvisirt sich ihr Verlauf nicht in willkürlich
planlosem Schweifen, sondern entwickelt sich in organisch übersichtlicher
Allmäligkeit wie reiche Blüthen aus Einer Knospe.
7.16Dies ist das Hauptthema, – der wahre Stoff und Inhalt des ganzen Tongebildes. Alles darin ist Folge und Wirkung des Themaʼs, durch es bedingt und gestaltet, von ihm beherrscht und erfüllt. Es ist das selbstständige Axiom, das zwar augenblicklich befriedigt, aber von unserm Geist bestritten und entwickelt gesehen werden will, was denn in der musikalischen Durchführung, analog einer logischen Entwickelung stattfindet. Wie die Hauptfigur eines Romans bringt der Componist das Thema in die verschiedensten Lagen und Umgebungen, in die wechselndsten Erfolge und Stimmungen, – alles Andere, wenn noch so contrastirend, ist in Bezug darauf gedacht und gestaltet.
7.17 Inhaltlos werden wir demnach etwa jenes freieste Präludiren nennen, bei welchem der Spieler, mehr ausruhend als schaffend, sich blos in Accorden, Arpeggioʼs, Rosalien ergeht, ohne eine selbstständige Tongestalt bestimmt hervortreten zu lassen. Solchʼ freie Präludien werden als Individuen nicht erkennbar oder unterscheidbar sein, wir werden sagen dürfen, sie haben (im weiteren Sinne) keinen Inhalt, weil kein Thema.
7.18Das Thema eines Tonstückes ist also sein wesentlicher Inhalt.
[102]
7.19In Aesthetik und Kritik wird auf das Hauptthema einer Composition lange nicht das gehörige Gewicht gelegt. Das Thema allein offenbart schon den Geist, der das ganze Werk geschaffen. Wenn ein Beethoven die Ouvertüre zur „Leonore“ so anfängt, oder ein Mendelssohn die Ouvertüre zur „Fingalshöhle“ so, – da muß jeder Musiker, ohne von der weiteren Durchführung noch eine Note zu wissen, erkennen, vor welchem Palast er steht. Klingt uns aber ein Thema entgegen, wie das zur Faust-Ouvertüre von Donizetti, oder „Louise Miller“ von Verdi, so bedarf es ebenfalls keines Eindringens in das Innere, um uns zu überzeugen, daß wir in der Kneipe sind. In Deutschland legt Theorie und Praxis einen überwiegenden Werth auf die musikalische Durchführung gegenüber dem thematischen Gehalt. Was aber nicht (offenkundig oder versteckt) im Thema ruht, kann später nicht organisch entwickelt werden, und weniger vielleicht in der Kunst der Entwicklung, als in der symphonischen Kraft und Fruchtbarkeit der Themen liegt es, daß unsere Zeit keine Beethovenʼschen Orchesterwerke mehr aufweist. In fleißiger Verwendung des Geringen kann sich ein kluger Hausvater erproben; ein Fürst muß mit vollen Händen schenken. Es ist auch von der bloßen Durchfuhr in der Musik ebensowenig Jemand reich geworden, als in der Nationalökonomie.
7.20Bei der Frage nach dem Inhalt der
Tonkunst muß man sich insbesondere hüten, das Wort in lobender Bedeutung
zu nehmen. Daraus, daß die Musik keinen Inhalt (Gegenstand) hat, folgt nicht, daß
sie
des Gehaltes entbehre. „Geistigen Gehalt“ meinen offenbar diejenigen,
welche mit dem Eifer einer Partei für den „Inhalt“ der Musik fechten. Mag man den
„Gehalt“ nun mit
Goethe
(45, 419) als
„etwas Mystisches außer und über dem Gegenstand und Inhalt“
eines Dinges begreifen oder dem allgemeinen Verstand gemäßer als die
substantiell werthvolle Grundlage, das geistige Substrat überhaupt, immer wird man
ihn der Tonkunst zuerkennen, und in ihren höchsten Gebilden als gewaltige Offenbarung
bewundern müssen. Die Musik ist ein Spiel, aber keine Spielerei. Gedanken und Gefühle
rinnen wie Blut in den Adern des ebenmäßig schönen Tonkörpers; sie sind nicht
er, sind auch nicht sichtbar, aber sie beleben ihn. Der
Componist dichtet und denkt. Nur dichtet und
[103] denkt
er, entrückt aller gegenständlichen Realität, in Tönen. Muß doch diese
Trivialität hier ausdrücklich wiederholt sein, weil sie selbst von Denjenigen, die
sie principiell anerkennen, in den Consequenzen allzuhäufig verläugnet und verletzt
wird. Sie denken sich das Componiren als Uebersetzung eines gedachten Stoffs in Töne,
während doch die Töne selbst die unübersetzbare Ursprache sind. Daraus daß der
Tondichter gezwungen ist, in Tönen zu denken, folgt ja schon die
Inhaltlosigkeit der Tonkunst, indem jeder begriffliche Inhalt in Worten
müßte gedacht werden können.
7.21So strenge wir bei der Untersuchung des Inhalts alle Musik über gegebene Texte, als dem reinen Begriff der Tonkunst widersprechend, ausschließen mußten, so unentbehrlich sind die Meisterwerke der Vocalmusik bei der Würdigung des Gehaltes der Tonkunst. Vom einfachen Lied bis zur gestaltenreichen Oper und der altehrwürdigen Gottesfeier durch Kirchenmusik hat die Tonkunst nie aufgehört, die theuersten und wichtigsten Bewegungen des Menschengeistes zu theilen und zu verherrlichen.
7.22Nebst der Vindication des geistigen Gehaltes muß noch eine zweite Consequenz nachdrücklich hervorgehoben werden. Die gegenstandlose Formschönheit der Musik hindert sie nicht, ihren Schöpfungen Individualität aufprägen zu können. Die Art der künstlerischen Verarbeitung, so wie die Erfindung gerade dieses Themaʼs ist in jedem Fall eine so einzige, daß sie niemals in einer höheren Allgemeinheit zerfließen kann, sondern als Individuum dasteht. Ein Motiv von Mozart oder Beethoven ruht so fest und unvermischbar auf eigenen Füßen, wie ein Vers Goetheʼs, ein Ausspruch Lessingʼs, eine Statue Thorwaldsenʼs, ein Bild Overbeckʼs. Die selbstständigen musikalischen Gedanken (Themen) haben die Sicherheit eines Citats und die Anschaulichkeit eines Gemäldes; sie sind individuell, persönlich, ewig.
7.23Wenn wir daher schon
Hegelʼs Ansicht von der Gehaltlosigkeit der Tonkunst nicht theilen
können, so scheint es uns noch irrthümlicher, daß er dieser Kunst nur die Aussprache
des „individualitätslosen Innern“ zuweist. Selbst von
Hegelʼs musikalischem Standpunct, welcher die wesentliche formende,
objective Thätigkeit des Componisten übersieht, die Musik rein als freie Entäußerung
der Sub
[104]
jectivität auffassend, folgt nicht die „Individualitätslosigkeit“
derselben, da ja der subjectiv producirende Geist wesentlich individuell
erscheint.
7.24Wie die Individualität sich in der Wahl und Bearbeitung der verschiedenen musikalischen Elemente ausprägt, haben wir im 3. Kapitel berührt. Gegenüber dem Vorwurf der Inhaltlosigkeit also hat die Musik Inhalt, allein musikalischen, welcher ein nicht geringerer Funke des göttlichen Feuers ist, als das Schöne jeder andern Kunst. Nur dadurch aber, daß man jeden andern „Inhalt“ der Tonkunst unerbittlich negirt, rettet man deren „Gehalt“. Denn aus dem unbestimmten Gefühle, worauf sich jener Inhalt im besten Fall zurückführt, ist ihr eine geistige Bedeutung nicht abzuleiten, wohl aber aus der bestimmten Tongestaltung als der freien Schöpfung des Geistes aus geistfähigem, begrifflosem Material.
7.25Dieser geistige Gehalt verbindet nun auch im Gemüth des Hörers das Schöne der Tonkunst mit allen andern großen und schönen Ideen. Ihm wirkt die Musik nicht blos und absolut durch ihre eigenste Schönheit, sondern zugleich als tönendes Abbild der großen Bewegungen im Weltall. Durch tiefe und geheime Naturbeziehungen steigert sich die Bedeutung der Töne hoch über sie selbst hinaus und läßt uns in dem Werke menschlichen Talents immer zugleich das Unendliche fühlen. Da die Elemente der Musik: Schall, Ton, Rhythmus, Stärke, Schwäche im ganzen Universum sich finden, so findet der Mensch wieder in der Musik das ganze Universum. –