[VII]
V2.1 & V2.2Die vorliegende vierte Auflage
unterscheidet sich von der dritten (1865) durch
keinerlei wesentliche Veränderung, sondern lediglich durch einige erweiternde
Beisätze und stylistische Verbesserungen. Meine Ueberzeugungen sind dieselben
geblieben, desgleichen die Positionen der (nur noch schroffer sich
gegenüberstehenden) Musikparteien der Gegenwart. Der Leser wird mir daher wohl auch
die Wiederholung der Bemerkungen gestatten, mit welchen ich das Erscheinen der dritten
Auflage begleitet habe. Zunächst die Versicherung, daß ich der Mängel dieses
Buches mir sehr lebhaft bewußt bin; allein dergleichen gedankenmäßige Entwicklungen,
welche organisch aus der Ueberzeugung ihres Verfassers herauswuchsen, lassen sich
späterhin mit jedem Jahre schwerer umformen. Uebrigens hat das weit über mein
Erwarten günstige Schicksal der früheren drei Auflagen und der mich hocherfreuende
Antheil, mit welchem Männer wie
Vischer
,
Strauß
,
Lotze
,
Lazarus
u. A., in neuester Zeit vor Allem
Helmholtz
davon Act nahmen, mich
[VIII] überzeugt, daß
meine Ideen auch in der etwas scharfen und rhapsodischen Weise ihres ursprünglichen
Auftretens auf gutes Erdreich gefallen sind.
V2.3Leidenschaftliche Gegner haben mir mitunter eine vollständige „Polemik“ gegen Alles, was Gefühl heißt, aufgedichtet, während jeder unbefangene und aufmerksame Leser doch unschwer erkennt, daß ich nur gegen die falsche Einmischung der Gefühle in die Wissenschaft protestire, also gegen jene ästhetischen Schwärmer kämpfe, die mit der Prätension, den Musiker zu belehren, nur ihre klingenden Opiumträume auslegen. Ich theile vollkommen die Ansicht, daß der letzte Werth des Schönen immer auf unmittelbarer Evidenz des Gefühls beruhen wird. Aber ebenso fest halte ich an der Ueberzeugung, daß man aus all’ den üblichen Appellationen an das Gefühl nicht ein einziges musikalisches Gesetz ableiten kann.
V2.4Diese Ueberzeugung bildet den einen, den
negativen Hauptsatz dieser Untersuchung. Er wendet sich zuerst und
vornehmlich gegen die allgemein verbreitete Ansicht, die Musik habe „Gefühle
darzustellen.“ Es ist nicht einzusehen, wie man daraus die „Forderung einer absoluten
Gefühllosigkeit der Musik“ herleiten will. Die Rose duftet, aber ihr „Inhalt“ ist
doch nicht „die Darstellung des Duftes;“ der Wald verbreitet schattige Kühle, allein
er stellt doch nicht „das Gefühl schattiger Kühle dar.“ Es
ist kein müßiges Wortgefecht, wenn ausdrücklich gegen den Begriff „darstellen“
vorgegangen wird, denn aus ihm sind die größten Irrthümer der musikalischen Aesthetik
entsprungen. Etwas „darstellen“ involvirt immer die Vorstellung von zwei getrennten,
[IX]
verschiedenen Dingen, deren eines erst ausdrücklich durch einen besonderen Act auf
das andere bezogen wird.
V2.5 Emanuel Geibel hat durch ein glückliches Bild dies Verhältniß anschaulicher und erfreulicher ausgedrückt, als philosophische Analyse es vermochte, und zwar in dem Distichon: 1 „Warum glückt es dir nie, Musik mit Worten zu schildern? / Weil sie, ein rein Element, Bild und Gedanken verschmäht. / Selbst das Gefühl ist nur wie ein sanft durchscheinender Flußgrund, / Drauf ihr klingender Strom schwellend und sinkend entrollt.“ / Wenn dies schöne Sinngedicht obendrein unter dem nachhallenden Eindruck dieser Schrift entstand, wie ich zu vermuthen Anlaß habe, so muß sich meine, von poetischen Gemüthern zumeist verketzerte Anschauung doch auch mit wahrer Poesie leidlich vertragen.
V2.6Jenem negativen Hauptsatz steht
correspondirend der positive gegenüber: die Schönheit eines Tonstücks
ist specifisch musikalisch d. h. den Tonverbindungen ohne Bezug auf
einen fremden, außermusikalischen Gedankenkreis innewohnend. Es lag in der redlichen
Absicht des Verfassers, das „Musikalisch-Schöne“ als Lebensfrage unserer Kunst und
oberste Norm ihrer Aesthetik vollständig zu beleuchten. Wenn trotzdem das polemische,
negirende Element in der Ausführung ein Uebergewicht erlangt, so wird man dieses in
Erwägung der besondern Zeitumstände hoffentlich entschuldigen. Als ich diese
Abhandlung schrieb, waren die Wortführer der Zukunftsmusik eben am lautesten bei
Stimme und mußten wohl Leute von meinem Glaubensbekenntniß zur
[X] Reaction reizen.
Als ich die zweite Auflage veranstaltete, waren eben
Lisztʼs Programm-Symphonien hinzugekommen, welche vollständiger, als
es bisher gelungen ist, die selbstständige Bedeutung der Musik abdanken, und diese
dem Hörer nur mehr als gestaltentreibendes Mittel eingeben. Seither besitzen wir nun
auch Richard Wagnerʼs „Tristan,“
„Nibelungenring“ und seine Lehre von
der
„unendlichen Melodie“
, d. h. die zum Princip erhobene Formlosigkeit, den gesungenen und gegeigten
Opiumrausch, für dessen Cultus in diesem Augenblick zu Baireuth ein eigener Tempel
erbaut wird.
V2.7Man möge es mir zu Gute halten, wenn ich angesichts solcher Zeichen keine Neigung fühlte, den polemischen Theil meiner Schrift zu kürzen oder abzuschwächen, sondern im Gegentheil noch dringender auf das Eine und Unvergängliche in der Tonkunst, auf die musikalische Schönheit hinwies, wie sie unsre großen Meister verkörperten und echt musikalische Erfinder auch in aller Zukunft pflegen werden.
Ed. H.
[1]
1.1Die bisherige Behandlungsweise der musikalischen Aesthetik leidet fast durchaus an dem empfindlichen Mißgriff, daß sie sich nicht sowohl mit der Ergründung dessen, was in der Musik schön ist, als vielmehr mit der Schilderung der Gefühle abgiebt, die sich unser dabei bemächtigen. Diese Untersuchungen entsprechen vollständig dem Standpunkt jener älteren ästhetischen Systeme, welche das Schöne nur in Bezug auf die dadurch wachgerufenen Empfindungen betrachteten und bekanntlich auch die Philosophie des Schönen als eine Tochter der Empfindung (αίσϑησιϛ) aus der Taufe hoben.
1.2An und für sich unphilosophisch, bekommen solche Aesthetiken in ihrer Anwendung auf die ätherischeste der Künste geradezu etwas Sentimentales, das, so erquickend als möglich für schöne Seelen, dem Lernbegierigen äußerst wenig Aufklärung bietet. Wer über das Wesen der Tonkunst Belehrung sucht, der wünscht eben aus der dunklen Herrschaft des Gefühls herauszukommen, und nicht – wie ihm in den meisten Handbüchern geschieht – fortwährend auf das Gefühl verwiesen zu werden.
1.3Der Drang nach einer möglichst objectiven Erkenntniß
der Dinge, wie er in unserer Zeit alle Gebiete des Wissens bewegt, muß nothwendig
auch an die Erforschung des Schönen
[2] rühren.
Diese wird ihm nur dadurch genügen können, daß sie mit einer Methode bricht, welche
vom subjectiven Gefühl ausgeht, um nach einem poetischen Spaziergang über die ganze
Peripherie des Gegenstandes wieder zum Gefühl zurückzukehren. Sie wird, will sie
nicht ganz illusorisch werden, sich der naturwissenschaftlichen Methode wenigstens
soweit nähern müssen, daß sie versucht, den Dingen selbst an den Leib zu rücken, und
zu forschen, was in diesen, losgelöst von den tausendfältig wechselnden Eindrücken,
das Bleibende, Objective sei.
1.4Die Poesie und die bildenden Künste sind in ihrer ästhetischen Erforschung und Begründung dem gleichen Erwerb der Tonkunst weit voraus. Sie sind es insbesondere durch zwei wichtige Gesichtspunkte.
1.5Für’s Erste haben ihre Gelehrten größtentheils den Wahn abgelegt, es könne die Aesthetik einer bestimmten Kunst durch bloßes Anpassen des allgemeinen, metaphysischen Schönheitsbegriffs (der doch in jeder Kunst eine Reihe neuer Unterschiede eingeht) gewonnen werden. Die knechtische Abhängigkeit der Special-Aesthetiken unter dem obersten metaphysischen Princip einer allgemeinen Aesthetik weicht immer mehr der Ueberzeugung, daß jede Kunst in ihren eigenen technischen Bestimmungen gekannt, aus sich selbst heraus begriffen sein will. Das „System“ macht allmälig der „Forschung“ Platz und diese hält fest an dem Grundsatz, daß die Schönheitsgesetze jeder Kunst untrennbar sind von den Eigenthümlichkeiten ihres Materials, ihrer Technik.
1.6Sodann pflegen die Aesthetiken der redenden und der bildenden Künste sowie ihre praktischen Ausläufer, die Kunstkritiken, bereits die Regel festzuhalten, daß in ästhetischen Untersuchungen vorerst das schöne Object und nicht das empfindende Subject zu erforschen ist.
[3]
1.7Diese sachliche Richtung scheint bezüglich der nichtmusikalischen Künste jetzt ziemlich allgemein in’s künstlerische Bewußtsein gedrungen. Es überredet sich kaum mehr ein Poet oder ein Maler, Rechenschaft von dem Schönen seiner Kunst abgelegt zu haben, wenn er untersuchte, welche „Gefühle“ sein Drama oder seine Landschaft hervorruft. Er wird der zwingenden Macht nachspüren, warum das Werk gefällt und weshalb gerade in dieser und keiner andern Weise.
1.8Die Tonkunst allein scheint diesen heilsamen Standpunkt noch immer nicht erringen zu können. Sie scheidet streng ihre theoretisch-grammatikalischen Regeln von den ästhetischen Untersuchungen und liebt es, erstere so trocken verständig, letztere so lyrisch-sentimental als möglich zu halten. Sich ihren Inhalt als eine selbstständige Art des Schönen klar und scharf gegenüber zu stellen, war der musikalischen Aesthetik bisher eine unerschwingliche Anstrengung. Statt dessen treiben da die „Empfindungen“ den alten Spuk bei hellichtem Tage fort. Das musikalisch Schöne wird nach wie vor nur von Seite seines subjectiven Eindrucks angesehen, und in Büchern, Kritiken und Gesprächen täglich bekräftigt, daß die Affecte die einzige ästhetische Grundlage der Tonkunst und allein berechtigt seien, die Grenzen des Urtheils über dieselbe abzustecken.
1.9Die Musik – so wird uns gelehrt – kann nicht durch
Begriffe den Verstand unterhalten, wie die Dichtkunst, ebensowenig durch sichtbare
Formen das Auge, wie die bildenden Künste, also muß sie den Beruf haben, auf die
Gefühle des Menschen zu wirken. „Die Musik hat es mit den Gefühlen zu
thun.“ Dieses „zu thun haben“ ist einer der charakteristischen Ausdrücke der
bisherigen musikalischen Aesthetik. Worin der Zusammenhang der Musik mit
den Gefühlen, bestimmter Musikstücke mit bestimmten Gefühlen bestehe, nach
[4] welchen
Naturgesetzen er wirke, nach welchen Kunstgesetzen er zu gestalten sei, darüber
ließen uns diejenigen vollkommen im Dunkeln, die eben damit „zu thun“ hatten. Gewöhnt
man sein Auge ein wenig an dieses Dunkel, so gelangt man dahin, zu entdecken, daß
in
der herrschenden musikalischen Anschauung die Gefühle eine doppelte Rolle
spielen.
1.10Für’s Erste wird als Zweck und Bestimmung der Musik aufgestellt, sie solle Gefühle oder „schöne Gefühle“ erwecken. Für’s Zweite bezeichnet man die Gefühle als den Inhalt, welchen die Tonkunst in ihren Werken darstellt.
1.11Beide Sätze haben das Aehnliche, daß der eine genau so falsch ist, wie der andere.
1.12Die Widerlegung des ersteren, die meisten musikalischen Handbücher einleitenden Satzes darf uns nicht lange aufhalten. Das Schöne hat überhaupt keinen Zweck, denn es ist bloße Form, welche zwar nach dem Inhalt, mit dem sie erfüllt wird, zu den verschiedensten Zwecken verwandt werden kann, aber selbst keinen andern hat, als sich selbst. Wenn aus der Betrachtung des Schönen angenehme Gefühle für den Betrachter entstehen, so gehen diese das Schöne als solches nichts an. Ich kann wohl dem Betrachter Schönes vorführen in der bestimmten Absicht, daß er daran Vergnügen finde, allein diese Absicht hat mit der Schönheit des Vorgeführten selbst nichts zu schaffen. Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird; also zwar nur für das Wohlgefallen eines anschauenden Subjects, aber nicht durch dasselbe.
1.13Von einem Zweck kann also in diesem
Sinn auch bei der Musik nicht gesprochen werden, und die Thatsache, daß diese Kunst
in einem lebhaften Zusammenhang mit unseren
[5] Gefühlen steht,
rechtfertigt keineswegs die Behauptung, es liege in diesem Zusammenhang ihre
ästhetische Bedeutung. –
1.14Um dieses Verhältniß näher zu untersuchen, müssen wir vorerst die Begriffe „Gefühl“ und „Empfindung“ (– gegen deren Verwechselung im gewöhnlichen Sprachgebrauch nichts einzuwenden ist –) hier streng unterscheiden.
1.15 Empfindung ist das Wahrnehmen einer bestimmten Sinnesqualität: eines Tons, einer Farbe. Gefühl das Bewußtwerden einer Förderung oder Hemmung unsres Seelenzustandes, also eines Wohlseins oder Mißbehagens. Wenn ich den Geruch oder Geschmack eines Dinges, dessen Form, Farbe oder Ton mit meinen Sinnen einfach wahrnehme (percipire), so empfinde ich diese Qualitäten; wenn Wehmuth, Hoffnung, Frohsinn oder Haß mich bemerkbar über den gewöhnlichen Seelenzustand emporheben oder unter denselben herabdrücken, so fühle ich. 2
1.16Das Schöne trifft zuerst unsere Sinne. Dieser Weg
ist ihm nicht eigenthümlich, es theilt ihn mit allem überhaupt Erscheinenden. Die
Empfindung ist Anfang und Bedingung des ästhetischen Gefallens und bildet erst die
Basis des Gefühls, welches stets ein Verhältniß und oft die
complicirtesten Verhältnisse voraussetzt. Empfindungen zu erregen bedarf
es nicht der Kunst; ein einzelner Ton, eine einzelne Farbe kann das. Wie gesagt
werden beide Ausdrücke willkürlich vertauscht, meistens aber in älteren Werken
„Empfindung“ genannt, was wir als „Gefühl“ bezeichnen. Unsere
Gefühle also, meinen jene Schriftsteller, solle die Musik erregen
[6] und uns
abwechselnd mit Andacht, Liebe, Jubel, Wehmuth erfüllen.
1.17Solche Bestimmung hat aber in Wahrheit weder diese noch eine andere Kunst. Die Kunst hat vorerst ein Schönes darzustellen. Das Organ, womit das Schöne aufgenommen wird, ist nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als die Thätigkeit des reinen Schauens.
1.18Merkwürdig ist es, wie die Musiker und älteren Aesthetiker sich nur in dem Contrast von „Gefühl“ und „Verstand“ bewegen, als läge nicht die Hauptsache gerade inmitten dieses angeblichen Dilemmas. Aus der Phantasie des Künstlers entsteigt das Tonstück für die Phantasie des Hörers. Freilich ist die Phantasie gegenüber dem Schönen nicht blos ein Schauen, sondern ein Schauen mit Verstand, d. i. Vorstellen und Urtheilen, letzteres natürlich mit solcher Schnelligkeit, daß die einzelnen Vorgänge uns gar nicht zum Bewußtsein kommen, und die Täuschung entsteht, es geschehe unmittelbar, was doch in Wahrheit von vielfach vermittelnden Geistesprocessen abhängt. Das Wort „Anschauung“, längst von den Gesichtsvorstellungen auf alle Sinneserscheinungen übertragen, entspricht überdies trefflich dem Acte des aufmerksamen Hörens, welches ja in einem successiven Betrachten der Tonformen besteht. Die Phantasie ist dabei keineswegs ein abgeschlossenes Gebiet: so wie sie ihren Lebensfunken aus den Sinnesempfindungen zog, sendet sie wiederum ihre Radien schnell an die Thätigkeit des Verstandes und des Gefühls aus. Dies sind für die echte Auffassung des Schönen jedoch nur Grenzgebiete.
1.19In reiner Anschauung genießt der Hörer das
erklingende Tonstück, jedes stoffliche Interesse muß ihm fern liegen. Ein solches
ist
aber die Tendenz, Affecte in sich erregen zu lassen.
[7] Ausschließliche
Bethätigung des Verstandes durch das Schöne verhält sich
logisch anstatt ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das
Gefühl ist noch bedenklicher, nämlich geradezu
pathologisch.
1.20Alles das, von der allgemeinen Aesthetik längst entwickelt, gilt gleichmäßig für das Schöne aller Künste. Behandelt man also die Musik als Kunst, so muß man die Phantasie und nicht das Gefühl als die ästhetische Instanz derselben erkennen. Der bescheidene Vordersatz scheint uns darum räthlich, weil bei dem wichtigen Nachdruck, welcher unermüdlich auf die durch Musik zu erzielende Sänftigung der menschlichen Leidenschaften gelegt wird, man in der That oft nicht weiß, ob von der Tonkunst als von einer polizeilichen, einer pädagogischen oder medicinischen Maßregel die Rede ist.
1.21Die Musiker sind aber weniger in dem Irrthume befangen, alle Künste gleichmäßig den Gefühlen vindiciren zu wollen als sie darin vielmehr etwas specifisch der Tonkunst Eigenthümliches sehen. Die Macht und Tendenz, beliebige Affecte im Hörer zu erwecken, sei es eben, was die Musik vor den übrigen Künsten charakterisire. 3
1.22Allein so wenig wir diese Wirkung als die Aufgabe
der Künste überhaupt anerkannten, so wenig können wir in ihr das specifische Wesen
der Musik erblicken. Einmal festge
[8]halten, daß die
Phantasie das eigentliche Organ des Schönen ist, wird eine secundäre
Wirkung auf das Gefühl in jeder Kunst vorkommen. Bewegt uns nicht ein
großes Geschichtsbild mit der Kraft eines Erlebnisses? Stimmen uns Raphaels Madonnen nicht zur
Andacht, Poussins Landschaften nicht zu sehnsüchtiger Wanderlust? Bleibt etwa der
Anblick des Straßburger Doms ohne Wirkung auf unser Gemüth? Die Antwort kann nicht
zweifelhaft sein. Sie gilt ebenso von der Poesie, ja von mancher außerästhetischen
Thätigkeit, z. B. religiöser Erbauung, Eloquenz, u. a. Wir sehen, daß die übrigen
Künste ebenfalls stark genug auf das Gefühl einwirken. Den angeblich principiellen
Unterschied derselben von der Musik müßte man daher auf ein Mehr oder Weniger dieser
Wirkung basiren. Ganz unwissenschaftlich an sich, hätte dieser Ausweg obendrein die
Entscheidung, ob man stärker und tiefer fühle bei einer Mozartʼschen Symphonie oder
bei einem Trauerspiele Shakespeareʼs, bei einem Gedicht von Uhland oder
einem Hummelʼschen Rondo, füglich Jedermann selbst zu überlassen. Meint man aber, die
Musik wirke „unmittelbar“ auf das Gefühl, die andern Künste erst durch die
Vermittlung von Begriffen, so fehlt man nur mit andern Worten, weil, wie wir gesehen,
die Gefühle auch von dem Musikalisch-Schönen nur in zweiter Linie beschäftigt werden
sollen, unmittelbar nur die Phantasie. Unzählige Mal wird in
musikalischen Abhandlungen die Analogie herbeigerufen, die zweifellos zwischen der
Musik und der Baukunst besteht. Ist aber je einem vernünftigen
Architekten beigefallen, die Baukunst habe den Zweck, Gefühle zu
erregen, oder es seien diese der Inhalt derselben?
1.23
Jedes wahre Kunstwerk wird sich in irgend eine Beziehung zu unserm
Fühlen setzen, keines in eine ausschließ
[9]liche. Man sagt
also gar nichts für das ästhetische Princip der Musik Entscheidendes, wenn man sie
durch ihre Wirkung auf das Gefühl charakterisirt.
1.24Dennoch will man dem Wesen der Musik immer von diesem Punkte aus beikommen. Dennoch wird stets die Besprechung eines Tonwerks mit der „Empfindung“ angehoben, die es hervorruft, und Lob oder Tadel nach dem Maß der eignen subjectiven Affection bestimmt. Als wenn man das Wesen des Weines ergründete, indem man sich betrinkt! Das Verhalten unsrer Gefühlszustände zu irgend einem Schönen ist vielmehr Gegenstand der Psychologie als der Aesthetik. Sei die Wirkung der Musik so groß oder so klein als sie wolle – von ihr darf man nicht ausgehen, wenn man das Wesen dieser Kunst zu erforschen unternimmt. Hegel hat erschöpfend gezeigt, wie die Untersuchung der „Empfindungen“, welche eine Kunst erweckt, ganz im Unbestimmten stehen bleibt und gerade vom eigentlichen, concreten Inhalt absieht. „Was empfunden wird“ , sagt er, „bleibt eingehüllt in der Form abstractester, einzelner Subjectivität, und deshalb sind auch die Unterschiede der Empfindung ganz abstracte, keine Unterschiede der Sache selbst.“ (Aesthetik I, 42.)
1.25Eignet der Tonkunst wirklich eine specifische Kraft
des Eindruckes (wie wir sie bald näher betrachten werden), so muß man von diesem
Zauber um so vorsichtiger abstrahiren, um an das Wesen seiner Ursache zu gelangen.
Unterdessen vermengt man unablässig Gefühlsaffection und musikalische Schönheit,
anstatt sie in wissenschaftlicher Methode getrennt darzustellen. Man klebt an der
unsichern Wirkung musikalischer Erscheinungen anstatt in das Innere der Werke zu
dringen und aus den Gesetzen ihres eignen Organismus zu erklären, was
ihr Inhalt ist, worin ihr Schönes besteht. Man beginnt vom
[10] subjectiven
Eindruck und folgert auf das Wesen der Kunst. Das sind Rückschlüsse vom
Unselbstständigen auf das Selbstständige, vom Bedingten auf das Bedingende. Kann
überhaupt das Gefühl keine Basis für ästhetische Gesetze sein, so ist obendrein gegen
die Sicherheit des musikalischen Fühlens Einiges zu bemerken.
1.26Der Zusammenhang eines Tonstückes mit der dadurch hervorgerufenen Gefühlsbewegung ist kein nothwendig causaler. Unter verschiedenen Nationalitäten, Temperamenten, Altersstufen und Verhältnissen, ja selbst unter Gleichheit aller dieser Bedingungen bei verschiedenen Individuen, wird dieselbe Musik sehr ungleich wirken. Wir brauchen gar nicht die Indianer und Karaiben zu incommodiren, die gewöhnlich beliebten Hilfstruppen, wenn es sich um die „Verschiedenheit des Geschmacks“ handelt, – es genügt ein europäisches Concertpublikum, dessen eine Hälfte in Beethovenʼs letzten Quartetten, in Bach’s Cantaten seine stärksten, höchsten Regungen geweckt fühlt, während die andere darin nur „schwerfällige Verstandesmusik“ und „gar kein Gefühl“ findet. In manchem Augenblick regt uns ein Musikstück zu Thränen auf, ein andermal läßt es uns kalt, und tausend äußere Verschiedenheiten können hinreichen, dessen Wirkung tausendfach zu verändern oder zu annulliren. Der Zusammenhang musikalischer Werke mit gewissen Stimmungen besteht nicht immer, überall, nothwendig, als ein absolut Zwingendes.
1.27Selbst dort, wo wir den wirklich
vorhandenen Eindruck betrachten, entdecken wir in ihm oft statt des
Nothwendigen Conventionelles. Nicht blos in Form und Sitte, auch im
Denken und Fühlen bildet sich im Lauf der Zeiten vieles Uebereinstimmende,
Ueberkommene, das uns im Wesen der Dinge selbst zu stecken scheint, welche dennoch
kaum
[11]
mehr davon wissen, als die Buchstabenzeichen von der Bedeutung, die sie eben nur für
uns haben. Dies ist besonders bei Musikgattungen der Fall, welche bestimmten äußeren
Zwecken dienen, als Kirchen-, Kriegs-, Theatercompositionen. In den letzteren findet
man eine wahre Terminologie für die verschiedensten Gefühle, eine Terminologie, die
den Componisten und Hörern eines Zeitalters so geläufig wird, daß sie im einzelnen
Falle nicht den mindesten Zweifel darüber haben. Spätere Zeiten bekommen ihn aber.
Ja, wir begreifen oft kaum, wie unsre Großeltern diese Tonreihe für
einen adäquaten Ausdruck gerade dieses Affectes ansehen konnten.
1.28Jede Zeit und Gesittung bringt ein verschiedenes Hören, ein verschiedenes Fühlen mit sich. Die Musik bleibt dieselbe, allein es wechselt ihre Wirkung mit dem wechselnden Standpunkt der Bildung oder conventionellen Befangenheit. Wie leicht und gern unser Fühlen sich überdies von den kleinlichsten Kunstgriffen überlisten läßt, davon erzählen unter Anderm die Instrumentalstücke mit besondern Mottos oder Ueberschriften. In den äußerlichsten Claviersächelchen, worin nichts steckt, „eitel Nichts, wohin mein Augʼ sich wendet“, ist man alsbald geneigt, „Sehnsucht nach dem Meere“, „Abend vor der Schlacht“, „Sommertag in Norwegen“ und was des Unsinns mehr ist, zu erkennen, wenn nur das Titelblatt die Kühnheit besitzt, seinen Inhalt dafür auszugeben. Die Ueberschriften geben unserm Vorstellen und Fühlen eine Richtung, welche wir nur zu oft dem Charakter der Musik zuschreiben, eine Leichtgläubigkeit, gegen welche der Scherz einer Titelverwechselung nicht genug empfohlen werden kann.
1.29So besitzt denn die Wirkung der Musik auf das Gefühl
weder die Nothwendigkeit, noch die Stetigkeit, noch end
[12]lich die
Ausschließlichkeit, welche eine Erscheinung aufweisen müßte, um ein
ästhetisches Princip begründen zu können.
1.30Die starken Gefühle selbst, welche die Musik aus ihrem Schlummer wachsingt, und all die süßen wie schmerzlichen Stimmungen, in die sie uns Halbträumende einlullt: wir möchten sie nicht um Alles unterschätzen. Zu den schönsten, heilsamsten Mysterien gehört es ja, daß die Kunst solche Bewegungen ohne irdischen Anlaß, recht von Gottes Gnaden hervorzurufen vermag. Nur gegen die unwissenschaftliche Verwerthung dieser Thatsachen für ästhetische Principien legen wir Verwahrung ein. Lust und Trauer können durch Musik in hohem Grade erweckt werden; das ist richtig. Nicht in noch höherem vielleicht durch den Gewinnst des großen Treffers, oder die Todeskrankheit eines Freundes? So lange man Anstand nimmt, deshalb ein Lotterieloos den Symphonien, oder ein ärztliches Bülletin den Ouvertüren beizuzählen, so lange darf man auch factisch erzeugte Affecte nicht als eine ästhetische Specialität der Tonkunst oder eines bestimmten Tonstücks behandeln. Es wird einzig auf die specifische Art ankommen, wie solche Affecte durch Musik hervorgerufen werden. Wir werden im IV. und V. Kapitel den Einwirkungen der Musik auf das Gefühl die aufmerksamste Betrachtung widmen, und die positiven Seiten dieses merkwürdigen Verhältnisses untersuchen. Hier, am Eingang unsrer Schrift, konnte die negative Seite, als Protest gegen ein unwissenschaftliches Princip, nicht zu scharf hervorgekehrt werden.
1.31
Anmerkung. Es dünkt uns für den vorliegenden Zweck kaum nothwendig, den
Ansichten, deren Bekämpfung uns beschäftigt, die Namen ihrer Autoren beizusetzen,
da
diese Ansichten weniger die Blüthe eigenthümlicher Ueberzeugungen, als vielmehr der
Ausdruck
[13] einer allgemein gewordenen traditionellen Denkweise sind. Nur um einen Einblick in
die ausgebreitete Herrschaft dieser Grundsätze zu gewähren, mögen einige Citate
älterer und neuerer Musikschriftsteller hier Platz finden.
[14]
[15]
[16]
2.1Theils als Consequenz dieser Theorie, welche die Gefühle für das Endziel musikalischer Wirkung erklärt, theils als Correctiv derselben, wird der Satz aufgestellt: die Gefühle seien der Inhalt, welchen die Tonkunst darzustellen habe.
2.2Die philosophische Untersuchung einer Kunst drängt zu der Frage nach dem Inhalt derselben. Jeder Kunst eignet ein Kreis von Ideen, welche sie mit ihren Ausdrucksmitteln, als Ton, Wort, Farbe, Stein darstellt. Das einzelne Kunstwerk verkörpert demnach eine bestimmte Idee als Schönes in sinnlicher Erscheinung. Diese bestimmte Idee, die sie verkörpernde Form, und die Einheit beider sind Bedingungen des Schönheitsbegriffs, von welchen keine wissenschaftliche Ergründung irgend einer Kunst sich mehr trennen kann.
2.3 Was Inhalt eines Werks der dichtenden oder bildenden Kunst sei, läßt sich mit Worten ausdrücken und auf Begriffe zurückführen. Wir sagen: dies Bild stellt ein Blumenmädchen vor, diese Statue einen Gladiator, jenes Gedicht eine That Rolandʼs. Das mehr oder minder vollkommene Aufgehen des so bestimmten Inhalts in der künstlerischen Erscheinung begründet dann unser Urtheil über die Schönheit des Kunstwerks.
2.4Als Inhalt der Musik hat man ziemlich
einverständ
[17]lich die ganze
Stufenleiter menschlicher Gefühle genannt, weil man in diesen den
Gegensatz zu begrifflicher Bestimmtheit und daher die richtige Unterscheidung von
dem
Ideal der bildenden und dichtenden Kunst gefunden glaubte. Demnach seien die Töne
und
ihr kunstreicher Zusammenhang blos Material, Ausdrucksmittel, wodurch der Componist
die Liebe, den Muth, die Andacht, das Entzücken darstellt. Diese Gefühle in ihrer
reichen Mannigfaltigkeit seien die Idee, welche den irdischen Leib des Klanges
angethan, um als musikalisches Kunstwerk auf Erden zu wandeln. Was uns an einer
reizenden Melodie, einer sinnigen Harmonie ergötzt und erhebt, sei nicht diese
selbst, sondern was sie bedeutet: das Flüstern der Zärtlichkeit, das Stürmen der
Kampflust.
2.5Um auf festen Boden zu gelangen, müssen wir vorerst solche altverbundene Metaphern schonungslos trennen: Das Flüstern? Ja; – aber keineswegs der „Sehnsucht;“ das Stürmen? Allerdings, doch nicht der „Kampflust“. In der That besitzt die Musik das Eine ohne das Andre; sie kann flüstern, stürmen, rauschen, – das Lieben und Zürnen aber trägt nur unser eignes Herz in sie hinein.
2.6Die Darstellung eines bestimmten Gefühls oder Affectes liegt gar nicht in dem eigenen Vermögen der Tonkunst.
2.7Es stehen nämlich die Gefühle in der Seele nicht isolirt da, so daß sie sich aus ihr gleichsam herausheben ließen von einer Kunst, welcher die Darstellung der übrigen Geistesthätigkeiten verschlossen ist. Sie sind im Gegentheil abhängig von physiologischen und pathologischen Voraussetzungen, sind bedingt durch Vorstellungen, Urtheile, kurz durch eben das ganze Gebiet verständigen und vernünftigen Denkens, welchem man das Gefühl so gern als ein Gegensätzliches gegenüberstellt.
[18]
2.8Was macht denn ein Gefühl zu diesem
bestimmten Gefühl? Zur Sehnsucht, Hoffnung, Liebe? Etwa die bloße Stärke
oder Schwäche, das Wogen der inneren Bewegung? Gewiß nicht. Diese kann bei
verschiedenen Gefühlen gleich sein und auch wieder bei demselben Gefühl, in mehreren
Individuen, zu andern Zeiten, verschieden. Nur auf Grundlage einer Anzahl – im
Momente starken Fühlens vielleicht unbewußter – Vorstellungen und Urtheile kann unser
Seelenzustand sich zu eben diesem bestimmten Gefühl verdichten. Das Gefühl der
Hoffnung ist untrennbar von der Vorstellung eines glücklicheren Zustandes, welcher
kommen soll und mit dem gegenwärtigen verglichen wird. Die Wehmuth vergleicht ein
vergangenes Glück mit der Gegenwart. Das sind ganz bestimmte Vorstellungen, Begriffe.
Ohne sie, ohne diesen Gedankenapparat kann man das
gegenwärtige Fühlen nicht „Hoffnung,“ nicht „Wehmuth“ nennen, er macht sie dazu.
Abstrahirt man von ihm, so bleibt eine unbestimmte Bewegung, allenfalls die
Empfindung allgemeinen Wohlbefindens, oder Mißbehagens. Die Liebe kann
ohne die Vorstellung einer geliebten Persönlichkeit, ohne den Wunsch und das Streben
nach der Beglückung, Verherrlichung, dem Besitz dieses Gegenstandes nicht gedacht
werden. Nicht die Art der bloßen Seelenbewegung, sondern ihr begrifflicher Kern, ihr
wirklicher, historischer Inhalt macht sie zur Liebe. Ihrer
Dynamik nach kann diese ebensogut sanft als stürmisch, ebensowohl
froh als schmerzlich auftreten und bleibt doch immer Liebe. Diese Betrachtung allein
reicht hin, zu zeigen daß Musik nur jene verschiedenen begleitenden Adjectiva
ausdrücken könne, nie das Substantivum, die Liebe selbst. Ein bestimmtes Gefühl (eine
Leidenschaft, ein Affect) existirt als solches niemals ohne einen wirklichen
historischen Inhalt,
[19] der eben nur in
Begriffen dargelegt werden kann. Begriffe kann die Musik als „unbestimmte Sprache“
zugestandener Weise nicht wiedergeben – ist da nicht die Folgerung psychologisch
unablehnbar, daß sie auch bestimmte Gefühle nicht auszudrücken vermag? Die
Bestimmheit der Gefühle ruht ja gerade in deren begrifflichem
Kern.
2.9Wie es komme, daß Musik dennoch Gefühle, wie Wehmuth, Frohsinn u. dergl., erregen kann (nicht muß), das wollen wir später, wo vom subjectiven Eindruck der Musik die Rede sein wird, untersuchen. Hier mußte blos theoretisch festgestellt werden, ob die Musik fähig sei, ein bestimmtes Gefühl darzustellen? Die Frage war zu verneinen, da die Bestimmtheit der Gefühle von concreten Vorstellungen und Begriffen nicht getrennt werden kann, welche letztere außer dem Gestaltungsbereich der Musik liegen. – Einen gewissen Kreis von Ideen hingegen kann die Musik mit ihren eigensten Mitteln reichlichst darstellen. Dies sind unmittelbar alle diejenigen, welche auf hörbare Veränderungen der Kraft, der Bewegung, der Proportionen sich beziehen, also die Idee des Anschwellenden, des Absterbenden, des Eilens, Zögerns, des künstlich Verschlungenen, des einfach Fortschreitenden u. dgl. – Es kann ferner der ästhetische Ausdruck einer Musik anmuthig genannt werden, sanft, heftig, kraftvoll, zierlich, frisch: lauter Ideen, welche in Tonverbindungen eine entsprechende sinnliche Erscheinung finden. Wir können diese Eigenschaftswörter daher unmittelbar von musikalischen Bildungen gebrauchen, ohne an die ethische Bedeutung zu denken, welche sie für das menschliche Seelenleben haben, und die eine geläufige Ideenassociation so schnell zur Musik heranbringt, ja mit den rein musikalischen Eigenschaften unter der Hand zu verwechseln pflegt.
[20]
2.10Die Ideen, welche der Componist darstellt, sind vor Allem und zuerst rein musikalische. Seiner Phantasie erscheint eine bestimmte schöne Melodie. Sie soll nichts Anderes sein, als sie selbst. Wie aber jede concrete Erscheinung auf ihren höheren Gattungsbegriff, auf die sie zunächst erfüllende Idee hinweist, und so fort immer höher und höher bis zur absoluten Idee, so geschieht es auch mit den musikalischen Ideen. So wird z. B. dieses sanfte, harmonisch ausklingende Adagio die Idee des Sanften, Harmonischen überhaupt zur schönen Erscheinung bringen. Die allgemeine Phantasie, welche gern die Ideen der Kunst in Bezug zum eigenen, menschlichen Seelenleben setzt, wird dies Ausklingen noch höher z. B. als den Ausdruck milder Resignation eines in sich versöhnten Gemüthes auffassen, und kann vielleicht sofort bis zur Ahnung eines ewigen jenseitigen Friedens aufsteigen.
2.11Auch die Poesie und bildende Kunst stellen vorerst ein Concretes dar. Erst mittelbar kann das Bild eines Blumenmädchens auf die allgemeinere Idee mädchenhafter Zufriedenheit und Anspruchslosigkeit, ein beschneiter Kirchhof auf die Idee der irdischen Vergänglichkeit hinweisen. Gerade so, nur mit ungleich unsicherer und willkürlicherer Deutung, kann der Hörer in diesem Musikstück die Idee jugendlichen Genügens, in jenem die Idee der Vergänglichkeit heraushören; allein ebensowenig als in den genannten Bildern sind diese abstracten Ideen der Inhalt des musikalischen Werkes; von einer Darstellung des „Gefühls der Vergänglichkeit,“ des „Gefühls der jugendlichen Genügsamkeit“ kann nun vollends keine Rede sein.
2.12Es giebt Ideen, welche durch die
Tonkunst vollkommen repräsentirt werden und trotzdem nicht als Gefühl
vorkommen, sowie umgekehrt Gefühle von solcher Mischung
[21] das Gemüth
bewegen können, daß sie in keiner durch Musik darstellbaren Idee ihre
adäquate Bezeichnung finden.
2.13 Was kann also die Musik von den Gefühlen darstellen, wenn nicht deren Inhalt?
2.14Nur das Dynamische derselben. Sie
vermag die Bewegung eines psychischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam,
stark, schwach, steigernd, fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine
Eigenschaft, ein Moment des Gefühls, nicht dieses selbst. Gemeiniglich glaubt man,
das darstellende Vermögen der Musik genügend zu begrenzen, wenn man behauptet, sie
könne keineswegs den Gegenstand eines Gefühls bezeichnen, wohl aber das
Gefühl selbst, z. B. nicht das Object einer bestimmten Liebe, wohl aber „Liebe.“ Sie
kann dies in Wahrheit ebensowenig. Nicht Liebe, sondern nur eine Bewegung kann sie
schildern, welche bei der Liebe oder auch einem andern Affect vorkommen kann, immer
jedoch das Unwesentliche seines Charakters ist. „Liebe“ ist ein abstracter Begriff,
so gut wie „Tugend“ und „Unsterblichkeit.“ Die Versicherung der Theoretiker, Musik
habe keine abstracten, Begriffe darzustellen, ist überflüssig; denn
keine Kunst kann dies. Daß nur Ideen, d. i. lebendig
gewordene Begriffe Inhalt künstlerischer Verkörperung sind, versteht sich von selbst.
4 Aber auch die Ideen der
Liebe, des Zornes, der Furcht können Instrumentalwerke nicht zur Erscheinung bringen,
weil zwischen jenen Ideen und schönen Tonverbindungen kein nothwendiger Zusammenhang
besteht. Welches Moment dieser
[22] Ideen istʼs denn
also, dessen die Musik sich in der That so wirksam zu bemächtigen weiß? Es ist die
Bewegung (natürlich in dem weiteren Sinne, der auch das Anschwellen
und Abschwächen des einzelnen Tones oder Accordes als „Bewegung“ auffaßt). Sie bildet
das Element, welches die Tonkunst mit den Gefühlszuständen gemeinschaftlich hat, und
das sie schöpferisch in tausend Abstufungen und Gegensätzen zu gestalten vermag.
2.14.1Der Begriff der Bewegung ist bisher in den Untersuchungen des Wesens und der Wirkung der Musik auffallend vernachlässigt worden; er dünkt uns der wichtigste und fruchtbarste. –
2.15Was uns außerdem in der Musik bestimmte Seelenzustände zu malen scheint, ist symbolisch.
2.16Wie die Farben, so besitzen nämlich die Töne schon von Natur aus und in ihrer Vereinzelung symbolische Bedeutung, welche außerhalb und vor aller künstlerischen Absicht wirkt. Jede Farbe athmet eigenthümlichen Charakter: sie ist uns keine bloße Ziffer, welche durch den Künstler lediglich eine Stellung erhält, sondern eine Kraft, schon von Natur aus in sympathetischen Zusammenhang mit gewissen Stimmungen gesetzt. Wer kennt nicht die Farbendeutungen, wie sie in ihrer Einfachheit gang und gäbe, oder durch feinere Geister zu poetischem Raffinement gehoben werden? Wir verbinden Grün mit dem Gefühl der Hoffnung, Blau mit der Treue. Rosenkranz erkennt in Rothgelb „anmuthige Würde“ , in Violett „philisterhafte Freundlichkeit“ u. s. w. (Psychologie, 2. Aufl. S. 102.)
2.17In ähnlicher Weise sind uns die elementaren Stoffe
der Musik: Tonarten, Accorde und Klangfarben schon an sich Charaktere.
Wir haben auch eine nur zu geschäftige Aus
[23]legekunst für die
Bedeutung musikalischer Elemente;
Schubartʼs Symbolik der Tonarten bietet in ihrer Art ein Seitenstück
zu
Goetheʼs Deutung der Farben. Es folgen jedoch diese Elemente (Töne,
Farben) in ihrer künstlerischen Verwendung ganz anderen Gesetzen, als jene Wirkung
ihrer isolirten Erscheinung. So wenig auf einem Historienbild jedes Roth uns Freude,
jedes Weiß Unschuld bedeutet, ebensowenig wird in einer Symphonie alles As-dur uns
eine schwärmerische, alles H-moll eine menschenfeindliche Stimmung erwecken, oder
jeder Dreiklang Befriedigung, jeder verminderte Septaccord Verzweiflung. Auf
ästhetischem Boden neutralisiren sich derlei elementare Selbstständigkeiten unter
der
Gemeinsamkeit höherer Gesetze. Von einem Ausdrücken oder
Darstellen ist solche Naturbeziehung weit entfernt. „Symbolisch“
nannten wir sie, indem sie den Inhalt keineswegs unmittelbar darstellt, sondern eine
von diesem wesentlich verschiedene Form bleibt. Wenn wir im Gelben Eifersucht, in
G-dur Heiterkeit, in der Cypresse Trauer sehen, so hat diese Deutung einen
physiologisch-psychologischen Zusammenhang mit Bestimmtheiten dieser Gefühle, allein
es hat ihn eben nur unsere Deutung, nicht die Farbe, der Ton, die Pflanze, an und
für
sich. Man kann daher weder von einem Accord an sich sagen, er stelle ein bestimmtes
Gefühl dar, noch weniger thut er das im Zusammenhang des Kunstwerkes.
2.18Ein anderes Mittel für den angeblichen Zweck, außer der Analogie der Bewegung und der Symbolik der Töne, hat die reine Musik nicht.
2.19Läßt sich somit ihr Unvermögen, bestimmte Gefühle
darzustellen, leicht aus der Natur der Töne deduciren, so scheint es fast
unbegreiflich, daß es auf dem Erfahrungswege nicht noch viel schneller ins allgemeine
Bewußtsein gedrungen ist.
[24] Versuche Jemand,
dem noch so viele Gefühlssaiten aus einem Instrumentalstück anklingen, mit klaren
Gründen nachzuweisen, welcher Affect den Inhalt desselben bilde? Die
Probe ist unerläßlich. – Hören wir z. B. Beethovens Ouvertüre zu „Prometheus“. Was das aufmerksame Ohr des Kunstfreundes
in stetiger Folge aus ihr vernimmt, ist ungefähr Folgendes: Die Töne des 1. Tactes
perlen rasch und leise aufwärts, wiederholen sich genau im 2.; der 3. und 4. Tact
führen denselben Gang in größerem Umfang weiter, die Tropfen des in die Höhe
getriebenen Springbrunnens perlen herab, um in den nächsten vier Tacten dieselbe
Figur und dasselbe Figurenbild auszuführen. Vor dem geistigen Sinn des Hörers erbaut
sich also in der Melodie die Symmetrie zwischen dem 1. und dem 2. Tacte,
dann dieser beiden Tact zu den zwei folgenden, endlich der vier ersten Tacte als
eines großen Bogens gegen den gleich großen correspondirenden der folgenden vier
Tacte. Der den Rhythmus markirende Baß bezeichnet den Anfang der ersten
drei Tacte mit je einem Schlag, den vierten mit zwei Schlägen, in gleicher Weise bei
den folgenden vier Tacten. Hier ist also der vierte Tact gegen die drei ersten eine
Verschiedenheit, welche durch die Wiederholung in den nächsten vier Tacten
symmetrisch wird und das Ohr als ein Zug der Neuheit im alten Gleichgewicht erfreut.
Die Harmonie in dem Thema zeigt uns wieder das Correspondiren eines
großen mit zwei kleinen Bogen: dem C-dur-Dreiklang in den vier ersten Tacten
entspricht der Secundaccord im fünften und sechsten, dann der Quintsext-Accord im
siebenten und achten Tact. Dies wechselseitige Correspondiren zwischen Melodie,
Rhythmus und Harmonie erzeugt ein symmetrisches und doch abwechslungsvolles Bild,
welches durch die Klangfarben der verschiedenen
[25] Instrumente und
den Wechsel der Tonstärke noch reichere Lichter und Schatten erhält.
2.20Einen weiteren Inhalt als den eben ausgedrückten vermögen wir durchaus nicht in dem Thema zu erkennen, am wenigsten ein Gefühl zu nennen, welches es darstellte oder im Hörer erwecken müßte. Solche Zergliederung macht ein Gerippe aus blühendem Körper, geeignet, alle Schönheit, aber auch alle falsche Deutelei zu zerstören.
2.21Wie mit diesem, ganz zufällig gewählten Motiv geht
es mit jedem andern Instrumentalthema. Eine große Klasse von Musikfreunden hält es
blos für einen charakteristischen Fehler der „classischen“ Musik, den Affecten abhold
zu sein, und giebt von vornherein zu, daß Niemand in einer der 48
[26] Fugen und
Präludien aus J. S. Bachʼs „wohltemperirtem Clavier“ ein Gefühl werde nachweisen können, das den Inhalt
derselben bilde. Gut, – der Beweis wäre dadurch schon hergestellt, daß die Musik
nicht Gefühle erwecken oder zum Gegenstand haben muß. Das ganze Gebiet
der Figuralmusik fiele hinweg. Müssen aber große, historisch wie ästhetisch
begründete Kunstgattungen ignorirt werden, um einer Theorie Haltbarkeit zu
erschleichen, dann ist diese falsch. Ein Schiff muß untergehen, sobald es auch nur
ein Leck hat.
2.22Wem dies nicht genügt, der mag ihr immerhin den ganzen Boden ausschlagen. Er spiele das Thema irgend einer Mozartʼschen oder Haydnʼschen Symphonie, eines Beethovenʼschen Adagios, eines Mendelssohnʼschen Scherzos, eines Schumannʼschen oder Chopinʼschen Clavierstückes, den Stamm unserer gehaltvollsten Musik; oder auch die populärsten Ouvertürenmotive von Auber, Donizetti, Flotow. Wer tritt hinzu und getraut sich, ein bestimmtes Gefühl als Inhalt dieser Themen aufzuzeigen? Der Eine wird „Liebe“ sagen. Möglich. Der Andere meint „Sehnsucht.“ Vielleicht. Der Dritte fühlt „Andacht.“ Niemand kann das widerlegen. Und so fort. Heißt dies nun ein bestimmtes Gefühl darstellen wenn Niemand weiß, was eigentlich dargestellt wird? Ueber die Schönheit und Schönheiten des Musikstücks werden wahrscheinlich Alle übereinstimmend denken, von dem Inhalt Jeder verschieden. Darstellen heißt aber einen Inhalt klar, anschaulich produciren, ihn uns vor Augen „daher stellen.“ Wie mag man nun dasjenige als das von einer Kunst Dargestellte bezeichnen, welches, das ungewisseste, vieldeutigste Element derselben, einem ewigen Streit unterworfen ist?
2.23Wir haben absichtlich
Instrumentalsätze zu Beispielen gewählt. Denn nur was von der
Instrumentalmusik be
[27]hauptet werden
kann, gilt von der Tonkunst als solcher. Wenn irgend eine allgemeine Bestimmtheit
der
Musik untersucht wird, etwas so ihr Wesen und ihre Natur kennzeichnen, ihre Grenzen
und Richtung feststellen soll, so kann nur von der Instrumentalmusik die Rede sein.
Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden,
die Musik könne es; denn nur sie ist reine, absolute
Tonkunst. Ob man nun die Vocal- oder die Instrumentalmusik an Werth
und Wirkung vorziehen wolle, – eine unwissenschaftliche Procedur, bei der meist
dilettantische Einseitigkeit das Wort führt – man wird stets einräumen müssen, daß
der Begriff „Tonkunst“ in einem auf Textworte componirten Musikstück nicht rein
aufgehe. In einer Vocalcomposition kann die Wirksamkeit der Töne nie so genau von
jener der Worte, der Handlung, der Decoration getrennt werden, daß die Rechnung der
verschiedenen Künste sich streng sondern ließe. Sogar Tonstücke mit bestimmten
Ueberschriften oder Programmen müssen wir ablehnen, wo es sich um den „Inhalt“ der
Musik handelt. Die Vereinigung mit der Dichtkunst erweitert die Macht der Musik, aber
nicht ihre Grenzen. 5
2.24Wir haben in der Vocalcomposition ein untrennbar verschmolzenes Product vor uns, aus dem es nicht mehr möglich ist, die Größe der einzelnen Factoren zu bestimmen. Wenn es sich um die Wirkung der Dichtkunst handelt, so wird es Niemand einfallen, die Oper als Beleg hervorzuheben; es braucht größerer Verleugnung, aber nur derselben Einsicht, um bei den Grundbestimmungen musikalischer Aesthetik ein Gleiches zu thun.
[28]
2.25Die Vocalmusik illuminirt die Zeichnung des
Gedichts. 6 Wir haben in den musikalischen Elementen Farben von größter
Pracht und Zartheit erkannt, von symbolischer Bedeutsamkeit obendrein. Sie werden
vielleicht ein mittelmäßiges Gedicht zur innigsten Offenbarung des Herzens umwandeln.
Trotzdem sind es die Töne nicht, welche in einem Gesangstücke
darstellen, sondern der Text. Die Zeichnung, nicht das
[29] Colorit bestimmt
den dargestellten Gegenstand. Wir appelliren an das Abstractionsvermögen des Hörers,
das sich irgend eine dramatisch wirksame Melodie abgelöst von aller
dichterischen Bestimmung rein musikalisch vorstellen wolle. Man wird z. B. in einer
sehr wirksamen dramatischen Melodie, welche Zorn auszudrücken hat, an
und für sich keinen weiteren psychischen Ausdruck finden, als den einer raschen,
leidenschaftlichen Bewegung. Worte einer leidenschaftlichen bewegten
Liebe, also das gerade Gegentheil, werden vielleicht gleich richtig
durch dieselbe Melodie interpretirt sein.
2.26Als die Arie des Orpheus: „J’ai perdu mon Eurydice, / Rien n’égale mon malheur“ / Tausende (und darunter Männer wie Rousseau) zu Thränen rührte, bemerkte ein Zeitgenosse Glucks, Boyé , daß man dieser Melodie ebenso gut, ja weit richtiger die entgegengesetzten Worte unterlegen könnte: „J’ai trouvé mon Eurydice, / Rien n’égale mon bonheur.“ /
2.27Wir setzen den Anfang der Arie, der Kürze wegen mit
Clavierbegleitung, doch genau nach der italienischen Originalpartitur her:
[30]
2.28Wir sind zwar durchaus nicht der Meinung, daß in
diesem Falle der Componist ganz freizusprechen sei, indem die Musik für den Ausdruck
schmerzlichster Traurigkeit gewiß weit bestimmtere Töne besitzt. Allein wir wählen
aus Hunderten gerade dies Beispiel, einmal weil es den Meister trifft, dem
[31] die
größte Genauigkeit im dramatischen Ausdruck zugeschrieben wird, sodann weil mehrere
Generationen an dieser Melodie das Gefühl höchsten Schmerzes
bewunderten, welches die mit ihr verbundenen Worte aussprechen.
2.29Allein auch weit bestimmtere und ausdrucksvollere Gesangsstellen werden, losgelöst von ihrem Text, uns höchstens rathen lassen, welches Gefühl sie ausdrücken. Sie gleichen Silhouetten, deren Original wir meistens erst erkennen, wenn man uns gesagt hat, wer das sei.
2.30Was hier an Einzelnem gezeigt wurde, erweist sich
ebenso an größerem und größtem Umfang. Man hat ganzen Gesangstücken oft andere Texte
unterlegt. Wenn man Meyerbeerʼs „Hugenotten“ mit Veränderung des Schauplatzes, der Zeit, der Personen, der
Begebenheit und der Worte als „Ghibellinen in Pisa“ aufführt, so stört ohne Zweifel die ungeschickte Mache einer solchen
Umarbeitung, allein der rein musikalische Ausdruck wird nicht im Mindesten beleidigt.
Und doch soll das religiöse Gefühl, der Glaubensfanatismus geradezu die Springfeder
der „Hugenotten“ bilden, welche in den
„Ghibellinen“ ganz entfällt. Der Choral
Lutherʼs
darf hier nicht eingewendet werden: er ist ein Citat. Als Musik paßt er
zu jeder Confession. – Hat der Leser nie das fugirte Allegro aus der Ouvertüre zur
„Zauberflöte“ als Vocalquartett sich
zankender Handelsjuden gehört? Mozartʼs Musik, an der nicht eine Note geändert ist,
paßt zum Entsetzen gut auf den niedrigkomischen Text, und man kann sich in der Oper
nicht herzlicher an dem Ernst der Composition erfreuen, als man hier über die Komik
derselben lachen muß. Derlei Belege für das weite Gewissen jedes musikalischen Motivs
und jedes menschlichen Affectes ließen sich zahllos vorbringen. Die Stimmung
religiöser Andacht gilt mit Recht für eine
[32] der musikalisch
am wenigsten vergreifbaren. Nun giebt es unzählige deutsche Dorf- oder Marktkirchen, wo zur heiligen
Wandlung das „Alphorn“ von Proch oder
die Schlußarie aus der „Somnambule“ (mit
dem koketten Decimensprung
„in meine Arme“
) oder Aehnliches auf der Orgel vorgetragen wird. Jeder Deutsche, der nach Italien kommt,
hört mit Staunen in den Kirchen die bekanntesten Opernmelodien von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi. Diese
und noch weltlichere Stücke, wenn sie nur halbwegs placiden Charakters klingen, sind
weit entfernt, die Gemeinde in ihrer Andacht zu stören, im Gegentheil pflegt Alles
aufs Aeußerste erbaut zu sein. Wäre die Musik an sich im Stande, religiöse Andacht
als Inhalt darzustellen, so würde solch ein quid pro quo ebenso unmöglich sein, als
daß der Prediger statt seiner Exhorte eine Tieckʼsche Novelle oder einen Parlamentsact von der
Kanzel recitirte. Unsre größten Meister geistlicher Tonkunst bieten Beispiele in
Fülle für unsern Satz. Namentlich
Händel
verfuhr hierin mit großartiger Ungenirtheit.
Winterfeld
hat nachgewiesen, daß viele der berühmtesten und ob ihres frommen Ausdrucks
bewundertesten Stücke im „Messias“ aus
den weltlichen, meist erotischen Duetten herübergenommen sind, welche Händel
(1711–1712) für die Churprinzessin Caroline von Hannover auf
Madrigale von Mauro Ortensio
gesetzt hatte. Die Musik zu dem 2. Duett:
Nò, di voi non vuoʼ fidarmi, /
Cieco amor, crudel beltà; /
Troppo siete menzognere /
Luchinghiere deità!“ /
7
[33]
verwendete Händel unverändert in Tonart und Melodie für den Chor im ersten Theil des
Messias:
„Denn uns ist ein Kind geboren.“
– Der dritte Satz desselben Duetts
„Sò per prova i vostri inganni“
hat dieselben Motive wie der Chor im 2. Theil des Messias
„Wie Schafe gehen.“
Das Madrigal No. 16 (Duett für Sopran und Alt) ist im Wesentlichen ganz
übereinstimmend mit dem Duett im 3. Theil des Messias:
„O Tod, wo ist dein Stachel“
; – dort lautet der Text:
„Si tu non lasci amore /
Mio cor, ti pentirai, /
Lo so ben io!” /
2.31Man sieht, daß die Vocalmusik, deren Theorie niemals das Wesen der Tonkunst bestimmen kann, auch praktisch nicht im Stande ist, die aus dem Begriff der Instrumentalmusik gewonnenen Grundsätze Lügen zu strafen.
2.32Der von uns bekämpfte Satz ist übrigens so in
Fleisch und Blut der gangbaren ästhetisch-musikalischen Anschauung eingedrungen, daß
auch alle seine Descendenten und Seitenverwandten sich gleicher Unantastbarkeit
erfreuen. Dazu gehört die Theorie von der Nachahmung sichtbarer oder unmusikalisch
hörbarer Gegenstände durch die Tonkunst. Mit besonderer Wohlweisheit wird uns bei
der
Frage von der „Tonmalerei“ immer wieder versichert, die Musik könne keineswegs die
außer ihrem Bereich liegende Erscheinung selbst malen, sondern nur das
Gefühl, welches dadurch in uns erzeugt wird. Gerade umgekehrt. Die
Musik kann nur die äußere Erscheinung nachzuahmen trachten, niemals aber das durch
sie bewirkte specifische Fühlen. Das Fallen der Schneeflocken, das Flattern der
Vögel, den Aufgang der Sonne kann ich nur dadurch musikalisch malen, daß ich analoge,
diesen Phänomenen dynamisch
[34] verwandte
Gehörseindrücke hervorbringe. In Höhe, Stärke, Schnelligkeit, Rhythmus der Töne
bietet sich dem Ohr eine Figur, deren Eindruck jene Analogie mit der
bestimmten Gesichtswahrnehmung hat, welche Sinnesempfindungen verschiedener Gattung
gegen einander erreichen können. Wie es physiologisch ein „Vicariren“ eines Sinnes
für den andern bis zu einer gewissen Grenze giebt, so auch ästhetisch ein gewisses
Vicariren eines Sinneneindruckes für den andern. Da zwischen der Bewegung im Raume
und jener in der Zeit, zwischen der Farbe, Feinheit, Größe eines Gegenstandes und
der
Höhe, Klangfarbe, Stärke eines Tones wohlbegründete Analogie herrscht, so kann man
in
der That einen Gegenstand musikalisch malen, das „Gefühl“ aber in Tönen schildern
zu
wollen, das der fallende Schnee, der krähende Hahn, der zuckende Blitz in uns
hervorbringt, ist einfach lächerlich.
2.33Obgleich, meines Erinnerns, alle musikalischen
Theoretiker auf dem Grundsatz, die Musik könne bestimmte Gefühle darstellen,
stillschweigend folgern und weiter bauen, so hinderte doch manche ein richtiges
Gefühl, ihn geradezu anzuerkennen. Der Mangel begrifflicher Bestimmtheit
in der Musik störte sie und ließ sie den Satz dahin ändern: die Tonkunst habe nicht
etwa bestimmte, wohl aber „unbestimmte Gefühle“ zu erwecken und
darzustellen. Vernünftiger Weise kann man damit nur meinen, die Musik solle die
Bewegung des Fühlens, abgezogen von dem Inhalt desselben, dem
Gefühlten, enthalten; das also, was wir das Dynamische der Affecte
genannt, und der Musik vollständig eingeräumt haben. Dies Element der Tonkunst ist
aber kein „Darstellen unbestimmter Gefühle.“ Denn „Unbestimmtes“ „darstellen“ ist
ein
Widerspruch. Seelenbewegungen als Bewegungen an sich, ohne Inhalt, sind kein
Gegenstand künst
[35]lerischer
Verkörperung, weil diese ohne die Frage: was bewegt sich, oder wird
bewegt, nirgend Hand anlegen kann. Das Richtige an dem Satz, nämlich die involvirte
Forderung, Musik solle kein bestimmtes Gefühl schildern, ist ein
lediglich negatives Moment. Was aber ist das Positive, das Schöpferische im
musikalischen Kunstwerk? Ein unbestimmtes Fühlen als solches ist kein
Inhalt; soll eine Kunst sich dessen bemächtigen, so kommt Alles
darauf an, wie es geformt wird. Jede Kunstthätigkeit besteht aber in dem
Individualisiren allgemeiner Ideen, in dem Prägen des Bestimmten aus
dem Unbestimmten, des Besondern aus dem Allgemeinen. Die Theorie der „unbestimmten
Gefühle“ verlangt das gerade Gegentheil. Man ist hier noch schlimmer daran, als bei
den früheren Satz; man soll glauben, daß die Musik etwas darstelle, und weiß doch
niemals was? Sehr einfach ist von hier der kleine Schritt zu der Erkenntniß, daß die
Musik gar keine, weder bestimmte noch unbestimmte Gefühle schildert.
Welcher Musiker hätte aber diese durch unvordenklichen Besitz ersessene Reichsdomäne
seiner Kunst aufgeben wollen? 8
2.34Unser Resultat ließe vielleicht noch der Meinung
Raum,
[36]
daß die Darstellung bestimmter Gefühle für die Musik zwar ein Ideal sei, das sie
niemals ganz erreichen, dem sie sich aber immer mehr nähern könne und solle. Die
vielen großsprechenden Redensarten von der Tendenz der Musik, die Schranken ihrer
Unbestimmtheit zu durchbrechen und concrete Sprache zu werden, die beliebten
Lobpreisungen solcher Compositionen, an welchen man dies Bestreben wahrnimmt, oder
wahrzunehmen vermeint, zeugen von der wirklichen Verbreitung solcher Ansicht.
2.35Allein noch entschiedener, als wir die Möglichkeit musikalischer Gefühlsdarstellung bekämpften, haben wir die Meinung abzuwehren, als könne diese jemals das ästhetische Princip der Tonkunst abgeben.
2.36Das Schöne in der Musik würde mit der Genauigkeit der Gefühlsdarstellung auch dann nicht congruiren, wenn diese möglich wäre. Nehmen wir diese Möglichkeit für einen Moment an, um uns praktisch zu überzeugen.
2.37Offenbar können wir diese Fiction nicht an der Instrumentalmusik versuchen, welche die Nachweisung bestimmter Affecte von selbst verwehrt, sondern nur an der Vocalmusik, der das Betonen vorgezeichneter Seelenzustände zukommt.
2.38Hier bestimmen die dem Componisten vorliegenden
Worte das zu schildernde Object; die Musik hat die Macht es zu
beleben, zu commentiren, ihm in mehr oder weniger hohem Grade den Ausdruck
individueller Innerlichkeit zu verleihen. Sie thut dies durch möglichste
Charakteristik der Bewegung und durch Verwerthung der den Tönen innewohnenden
Symbolik.
[37] Faßt sie als
Hauptgesichtspunkt den Text ins Auge, und nicht die eigene ausgeprägte Schönheit,
so
kann sie es zu hoher Individualisirung, ja zu dem Scheine bringen, sie allein stelle
wirklich das Gefühl dar, welches in den Worten bereits unverrückbar, wenngleich
steigerungsfähig vorlag. Diese Tendenz erreicht in der Wirkung etwas Aehnliches mit
dem vorgeblichen „Darstellen eines Affectes als Inhalt des bestimmten
Musikstücks.“ Gesetzt der Fall, jene wirkliche und diese angebliche Kraft der
Tonkunst wären congruent, die Gefühlsdarstellung möglich und Inhalt der Musik, so
würden wir folgerichtig solche Compositionen die vollkommensten nennen welche die
Aufgabe am bestimmtesten lösen. Allein wer kennt nicht Tonwerke von
höchster Schönheit ohne solchen Inhalt? Umgekehrt giebt es
Vocalcompositionen, welche ein bestimmtes Gefühl aufs Genaueste, innerhalb der eben
erklärten Grenzen abzuconterfeien suchen, und welchen die Wahrheit
dieses Schilderns über jedes andere Princip geht. Bei näherer Betrachtung derselben
gelangen wir zu dem Ergebniß, daß das rücksichtslose Anschmiegen solcher
musikalischen Schilderung meist in umgekehrtem Verhältniß steht zu ihrer
selbstständigen Schönheit, daß also die declamatorisch-dramatische
Genauigkeit und die musikalische Vollendung nur die Hälfte
Weges mit einander fortschreiten, dann aber sich trennen.
2.39Am deutlichsten zeigt dies das
Recitativ, als diejenige Form, welche am unmittelbarsten und bis auf
den Accent des einzelnen Wortes sich dem declamatorischen Ausdruck anschmiegt, nicht
mehr anstrebend, als einen getreuen Abguß bestimmter, meist rasch wechselnder
Gemüthszustände. Dies müßte, als wahre Verkörperung jener Lehre, die höchste,
vollkommenste Musik sein; in der That aber sinkt diese im Reci
[38]tativ ganz zur
Dienerin herab und verliert ihre selbstständige Bedeutung. Ein Beweis, daß der
Ausdruck bestimmter Seelenvorgänge mit der Aufgabe der Musik nicht congruirt, sondern
in letzter Consequenz derselben hemmend entgegensteht. Man spiele ein längeres
Recitativ mit Hinweglassung der Worte, und frage dann nach seinem musikalischen Werth
und Bedeuten. Diese Probe muß aber jede Musik aushalten, welcher
allein wir die hervorgebrachte Wirkung zuschreiben sollen.
2.40Keineswegs auf das Recitativ beschränkt, können wir vielmehr an den höchsten und erfülltesten Kunstformen dieselbe Bestätigung finden, wie die musikalische Schönheit stets geneigt sei, dem speciell Ausdrückenden zu weichen, weil jene ein selbstständiges Entfalten, dieses ein dienendes Verleugnen erheischt.
2.41Steigen wir empor vom declamatorischen Princip im
Recitativ zum dramatischen in der Oper. Die Musikstücke in
Mozartʼs Opern stehen im vollen Einklang mit ihrem Text. Hört man
selbst die complicirtesten, die Finales, ohne Text, so werden Mittelglieder etwa
unklar bleiben, die Hauptpartien und deren Ganzes aber an sich schöne Musik sein.
Das
gleichmäßige Genügen an die musikalischen und die dramatischen Anforderungen gilt
bekanntlich darum mit Recht für das Ideal der Oper. Daß jedoch das Wesen derselben
eben dadurch ein steter Kampf ist zwischen dem Princip der dramatischen
Genauigkeit und dem der musikalischen Schönheit, ein unaufhörliches Concediren des
einen an das andere, dies ist meines Wissens nie erschöpfend entwickelt worden. Nicht
die Unwahrheit, daß sämmtliche handelnde Personen singen, macht das
Princip der Oper schwankend und schwierig – solche Illusionen geht die Phantasie mit
großer Leichtigkeit
[39] ein – die
unfreie Stellung aber, welche Musik und Text zu einem fortwährenden Ueberschreiten
oder Nachgeben zwingt, macht, daß die Oper wie ein constitutioneller Staat auf einem
steten Kampfe zweier berechtigter Gewalten beruht. Dieser Kampf, in dem der Künstler
bald das eine, bald das andere Princip muß siegen lassen, ist der Punkt, aus welchem
alle Unzulänglichkeiten der Oper entspringen, und alle Kunstregeln auszugehen haben,
welche eben für die Oper Entscheidendes sagen wollen. In ihre
Consequenzen verfolgt, müssen das musikalische und das dramatische Princip einander
nothwendig durchschneiden. Nur sind die beiden Linien lang genug, um dem menschlichen
Auge eine beträchtliche Strecke hindurch parallel zu scheinen.
2.42Aehnliches gilt vom Tanze, wie wir in
jedem Ballet beobachten können. Je mehr er die schöne Rhythmik seiner Formen verläßt,
um mit Gesticulation und Mimik sprechend zu werden, bestimmte Gedanken
und Gefühle auszudrücken, desto mehr nähert er sich der formlosen Bedeutsamkeit der
bloßen Pantomime. Die Steigerung des dramatischen Princips im Tanze wird im selben
Maß eine Verletzung seiner plastisch-rhythmischen Schönheit. Ganz wie
ein gesprochenes Drama oder ein reines Instrumentalwerk, vermag eine Oper nie
dazustehen. Darum wird das Augenmerk des echten Operncomponisten wenigstens ein
stetes Verbinden und Vermitteln sein, niemals ein principiell unverhältnißmäßiges
Vorherrschen des einen oder des andern Momentes. Im Zweifel wird er sich aber für
die
Bevorzugung der musikalischen Forderung entscheiden, denn die Oper ist
vorerst Musik, nicht Drama. Man kann dies leicht an der eigenen, sehr verschiedenen
Intention ermessen, mit der man ein Drama besucht, oder aber eine Oper desselben
Sujets. Die Vernach
[40]lässigung des
musikalischen Theils wird uns immer weit empfindlicher treffen. 9
2.43Die größte kunstgeschichtliche Bedeutung des
berühmten Streites zwischen den Gluckisten und den
Piccinisten liegt für uns darin, daß dabei der innere Conflict der
Oper durch den Widerstreit ihrer beiden Factoren, des musikalischen
und des dramatischen, zum erstenmal ausführlich zur Sprache kam. Freilich geschah
dies ohne ein wissenschaftliches Bewußtsein von der principiellen unermeßlichen
Bedeutung des Entscheides. Wer sich die lohnende Mühe nicht gereuen läßt, auf die
Quellen jenes Musikstreites selbst zurückzugehen, 10 wird wahrnehmen, wie darin auf der reichen Scala
zwischen Grobheit und Schmeichelei die ganze witzige Fechtergewandtheit französischer Polemik herrscht, zugleich
aber eine solche Unmündigkeit in der Auffassung des principiellen Theiles, ein
solcher Mangel an tieferem Wissen, daß für die musikalische Aesthetik ein
Resultat aus diesen langjährigen Debatten
[41] nicht zu Tage
steht. – Die bevorzugtesten Köpfe:
Suard
und Abbé Arnaud
auf Gluckʼs Seite,
Marmontel
und La Harpe
wider ihn, gingen zwar wiederholt über die Kritik Gluckʼs hinaus zu einer
principiellen Beleuchtung des dramatischen Princips in der Oper und
seines Verhältnisses zum musikalischen; allein sie behandelten dieses
Verhältniß wie eine Eigenschaft der Oper unter vielen, nicht aber als das innerste
Lebensprincip derselben. Sie hatten keine Ahnung, daß von der Entscheidung dieses
Verhältnisses die ganze Existenz der Oper abhänge. Merkwürdig ist, wie ganz nahe
insbesondere Gluckʼs Gegner einigemal dem Punkte sind, von dem aus der Irrthum des
dramatischen Princips vollkommen erschaut und besiegt werden mag. So sagt de la Harpe
im Journal de
Politique et de Litérature vom 5. October 1777:
„On objecte, quiʼil nʼest pas naturel, de chanter un air de cette nature
dans une situation passionée, que cʼest un moyen dʼarrêter la scène et de nuir
à lʼeffet. Je trouve ces objections absolument illusoires. Dʼabord dès quʼon
admet le chant, il faut lʼadmettre le plus beau possible, et il nʼest pas plus
naturel de chanter mal, que de chanter bien. Tous les arts sont fondées sur des
conventions, sur des données. Quand je viens à lʼopéra, cʼest pour entendre la
musique. Je nʼignore pas, quʼ
Alceste
ne faisait ses Adieux à
Admète
en chantant un air; mais comme Alceste est sur le théâtre pour chanter, si je retrouve sa douleur et
son amour dans un air bien melodieux, je jouirai de son chant en mʼintéressant
à son infortune.“
Sollte man glauben, daß La Harpe selbst nicht erkannte, wie prächtig er da auf
festem Boden stand? Denn bald darauf läßt er sich beikommen, das Duo zwischen Agamemnon und Achilles in der „Iphigenia“ aus dem Grunde
[42] zu bekämpfen,
„weil es sich durchaus nicht mit der Würde dieser beiden Helden vertrage,
daß sie zu gleicher Zeit redeten.“
Damit hatte er jenen festen Boden, das Princip der musikalischen
Schönheit, verlassen und verrathen, das Princip des Gegners stillschweigend, ja
unbewußt anerkennend.
2.44Je consequenter man das dramatische Princip in der Oper rein halten will, ihr die Lebensluft der musikalischen Schönheit entziehend, desto siecher schwindet sie dahin, wie ein Vogel unter der Luftpumpe. Man muß nothwendig bis zum rein gesprochenen Drama zurückkommen, womit man wenigstens den Beweis hat, daß die Oper wirklich unmöglich ist, wenn man nicht dem musikalischen Princip (mit vollem Bewußtsein seiner realitätfeindlichen Natur) die Oberherrschaft in der Oper einräumt. In der wirklichen künstlerischen Ausübung ist diese Wahrheit auch niemals geleugnet worden, und selbst der strengste Dramatiker, Gluck , stellt zwar die falsche Theorie auf, die Opernmusik habe nichts Anderes zu sein, als eine gesteigerte Declamation – in der Ausübung bricht aber die musikalische Natur des Mannes oft genug durch, und stets zum großen Vortheil seines Werkes. Dasselbe gilt von Richard Wagner , dessen künstlerisches Verfahren von Otto Jahn , Julian Schmidt , Hinrichs , Hiller u. A. längst ausreichend kritisiert ist. Für unseren Zusammenhang ist nur scharf hervorzuheben, daß der Hauptgrundsatz Wagnerʼs, wie er ihn im ersten Band von „Oper und Drama“ ausspricht: „Der Irrthum der Oper als Kunstgenre besteht darin, daß ein Mittel (die Musik) zum Zweck, der Zweck (das Drama) aber zum Mittel gemacht wird,“ – gänzlich auf falschem Boden steht. Denn eine Oper, in der die Musik immer und wirklich nur als Mittel zum dramatischen Ausdruck gebraucht wird, ist ein musikalisches Unding.
[43]
2.45Je näher wir diese Ehe zur linken Hand betrachten, welche die musikalische Schönheit mit dem bestimmt vorgeschriebenen Inhalt eingeht, desto trügerischer kommt uns ihre Unauflöslichkeit vor.
2.46Wie kommt es, daß wir in jedem Gesangstück manche kleine Aenderung vornehmen können, welche die Richtigkeit des Gefühlsausdrucks nicht im Mindesten schwächend, doch die Schönheit des Motivs sogleich vernichtet? Das wäre unmöglich, wenn die letztere in der ersteren läge. Wie kommt es, daß manches Gesangstück, welches seinen Text tadellos ausdrückt, uns unleidlich schlecht erscheint? Vom Standpunkt des Gefühlsprincips kann man ihm nicht beikommen. Was bleibt also für das Princip des Schönen in der Tonkunst, nachdem wir die Gefühle, als dafür unzureichend, abgelehnt?
2.47Ein ganz andres selbstständiges Element, das wir sogleich näher betrachten wollen.
[44]
3.1Wir sind bisher negativ zu Werke gegangen und haben lediglich die irrige Voraussetzung abzuwehren gesucht, daß das Schöne der Musik in dem Darstellen von Gefühlen bestehen könne.
3.2Nun haben wir den positiven Gehalt zu jenem Umriß hinzuzubringen, indem wir die Frage beantworten, welcher Natur das Schöne der Tondichtung sei.
3.3 Es ist ein specifisch Musikalisches. Darunter verstehen wir ein Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von Außen her kommenden Inhaltes, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt. Die sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr Zusammenstimmen und Widerstreben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr Aufschwingen und Ersterben, – dies ist, was in freien Formen vor unser geistiges Anschauen tritt und als schön gefällt.
3.4Das Urelement der Musik ist Wohllaut,
ihr Wesen Rhythmus. Rhythmus im Großen, als die Uebereinstimmung eines
symmetrischen Baues, und Rhythmus im Kleinen, als die wechselnd-gesetzmäßige Bewegung
einzelner Glieder im Zeitmaß. Das Material, aus dem der Tondichter schafft, und
dessen Reichthum nicht verschwenderisch genug gedacht
[45] werden kann,
sind die gesammten Töne, mit der in ihnen ruhenden Möglichkeit zu
verschiedener Melodie, Harmonie und Rhythmisirung. Unausgeschöpft und unerschöpflich
waltet vor Allem die Melodie, als Grundgestalt musikalischer Schönheit;
mit tausendfachem Verwandeln, Umkehren, Verstärken bietet die Harmonie
immer neue Grundlagen; beide vereint bewegt der Rhythmus, die Pulsader
musikalischen Lebens, und färbt der Reiz mannigfaltiger Klangfarben.
3.5Fragt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen. Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbstständiges Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel oder Material zur Darstellung von Gefühlen und Gedanken.
3.6Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen.
3.7In welcher Weise uns die Musik schöne
Formen ohne den Inhalt eines bestimmten Affectes bringen kann, zeigt uns
recht treffend ein Zweig der Ornamentik in der bildenden Kunst: die
Arabeske. Wir erblicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend,
dort kühn emporstrebend, sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen
correspondirend, scheinbar incommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein
Gegen- oder Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner Einzelheiten und doch ein
Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske nicht todt und ruhend, sondern in
fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen entstehend. Wie die starken und feinen
Linien einander verfolgen, aus kleiner Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann
wieder senken, sich erweitern, zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und
Anspannung das Auge stets neu überraschen! Da wird das Bild schon höher und würdi
[46]ger. Denken wir
uns vollends diese lebendige Arabeske als thätige Ausströmung eines künstlerischen
Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung
ergießt, – wird dieser Eindruck dem musikalischen nicht sehr nahekommend
sein?
3.8Jeder von uns hat als Kind sich wohl an dem wechselnden Farben- und Formenspiel eines Kaleidoskops ergötzt. Ein solches Kaleidoskop auf incommensurabel höherer Erscheinungsstufe ist Musik. Sie bringt in stets sich entwickelnder Abwechselung schöne Formen und Farben, sanft übergehend, scharf contrastirend, immer symmetrisch und in sich erfüllt. Der Hauptunterschied ist, daß solch unserm Ohr vorgeführtes Tonkaleidoskop sich als unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes giebt, jenes sichtbare aber als ein sinnreich-mechanisches Spielzeug. Will man nicht blos im Gedanken, sondern in Wirklichkeit die Erhebung der Farbe zur Musik vollziehen, und die Mittel der einen Kunst in die Wirkungen der andern einbetteln, so geräth man auf die abgeschmackte Spielerei des „Farbenclaviers“ oder der „Augenorgel,“ deren Erfindung jedoch beweist, wie die formelle Seite beider Erscheinungen auf gleicher Basis ruhe.
3.9Sollte irgend ein gefühlvoller Musikfreund unsre
Kunst durch Analogien wie die obige herabgewürdigt finden, so entgegnen wir, es
handle sich blos darum, ob die Analogien richtig seien oder nicht.
Herabgewürdigt wird nichts dadurch, daß man es besser kennen lernt. Will man auf die
Eigenschaft der Bewegung, der zeitlichen Entwicklung, wodurch das Beispiel vom
Kaleidoskop besonders treffend wird, verzichten, so kann man allerdings für das
Musikalisch-Schöne eine höhere Analogie etwa in der Architektur, dem menschlichen
Körper, oder einer Landschaft finden, die auch eine primitive
[47] Schönheit der
Umrisse und Farben (abgesehen von der Seele, dem geistigen Ausdruck) haben.
3.10Wenn man die Fülle von Schönheit nicht zu erkennen verstand, die im rein Musikalischen lebt, so trägt die Unterschätzung des Sinnlichen viel Schuld, welcher wir in älteren Aesthetiken zu Gunsten der Moral und des Gemüths, in Hegel zu Gunsten der „Idee“ begegnen. Jede Kunst geht vom Sinnlichen aus und webt darin. Die „Gefühlstheorie“ verkennt dies, sie übersieht das Hören gänzlich und geht unmittelbar anʼs Fühlen. Die Musik schaffe für das Herz, meinen sie, das Ohr sei ein triviales Ding.
3.11Ja, was sie eben Ohr nennen, – für das „Labyrinth“ oder „Hammer und Ambos“ dichtet kein Beethoven. Aber die Phantasie, die auf Gehörsempfindungen organisirt ist und welcher der Sinn etwas ganz Anderes bedeutet, als ein bloßer Trichter an die Oberfläche der Erscheinungen, sie genießt in bewußter Sinnlichkeit die klingenden Figuren, die sich aufbauenden Töne und lebt frei unmittelbar in deren Anschauung.
3.12Es ist von außerordentlicher Schwierigkeit, dies selbstständige Schöne in der Tonkunst, dies specifisch Musikalische zu schildern. Da die Musik kein Vorbild in der Natur besitzt und keinen begrifflichen Inhalt ausspricht, so läßt sich von ihr nur mit trocknen technischen Bestimmungen, oder mit poetischen Fictionen erzählen. Ihr Reich ist in der That „nicht von dieser Welt.“ All die phantasiereichen Schilderungen, Charakteristiken, Umschreibungen eines Tonwerks sind bildlich oder irrig. Was bei jeder andern Kunst noch Beschreibung, ist bei der Tonkunst schon Metapher. Die Musik will nun einmal als Musik aufgefaßt sein, und kann nur aus sich selbst verstanden, in sich selbst genossen werden.
[48]
3.13Keineswegs ist das „Specifisch-Musikalische“ als blos akustische Schönheit, oder proportionale Symmetrie zu verstehen, – Zweige, die es als untergeordnet in sich begreift, – noch weniger kann von einem „ohrenkitzelnden Spiel in Tönen“ die Rede sein und ähnlichen Bezeichnungen, womit der Mangel an geistiger Beseelung hervorgehoben zu werden pflegt. Dadurch, daß wir auf musikalische Schönheit dringen, haben wir den geistigen Gehalt nicht ausgeschlossen, sondern ihn vielmehr bedingt. Denn wir anerkennen keine Schönheit ohne jeglichen Antheil von Geist. Indem wir aber das Schöne in der Musik wesentlich in Formen verlegt haben, ist schon angedeutet, daß der geistige Gehalt in engstem Zusammenhange mit diesen Tonformen steht. Der Begriff der „Form“ findet in der Musik eine ganz eigenthümliche Verwirklichung. Die Formen, welche sich aus Tönen bilden, sind nicht leere, sondern erfüllte, nicht bloße Linienbegrenzung eines Vacuums, sondern sich von innen heraus gestaltender Geist. Der Arabeske gegenüber ist demnach die Musik in der That ein Bild, allein ein solches, dessen Gegenstand wir nicht in Worte fassen und unsern Begriffen unterordnen können. In der Musik ist Sinn und Folge, aber musikalische; sie ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht im Stande sind. Es liegt eine tiefsinnige Erkenntniß darin daß man auch in Tonwerken von „Gedanken“ spricht, und wie in der Rede unterscheidet da das geübte Urtheil leicht echte Gedanken von bloßen Redensarten. Ebenso erkennen wir das vernünftig Abgeschlossene einer Tongruppe, indem wir sie einen „Satz“ nennen. Fühlen wir doch so genau wie bei jeder logischen Periode, wo ihr Sinn zu Ende ist, obgleich die Wahrheit beider ganz incommensurabel dasteht.
3.14Das befriedigend Vernünftige, das an und für sich
in
[49]
musikalischen Formbildungen liegen kann, beruht in gewissen primitiven Grundgesetzen,
welche die Natur in die Organisation des Menschen und in die äußern Lauterscheinungen
gelegt hat. Das Urgesetz der „harmonischen Progression“ ist es vorzugsweise, welches,
analog der Kreisform bei den bildenden Künsten, den Keim der wichtigsten
Weiterbildung und die – leider fast unerklärte – Erklärung der verschiedenen
musikalischen Verhältnisse in sich trägt.
3.15Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in geheimen, auf Naturgesetze gegründeten Verbindungen und Wahlverwandtschaften. Diese den Rhythmus, die Melodie und Harmonie unsichtbar beherrschenden Wahlverwandtschaften verlangen in der menschlichen Musik ihre Befolgung und stempeln jede ihnen widersprechende Verbindung zu Willkür und Häßlichkeit. Sie leben, wenngleich nicht in der Form wissenschaftlichen Bewußtseins, instinctiv in jedem gebildeten Ohr, welches demnach das Organische, Vernunftgemäße einer Tongruppe, oder das Widersinnige, Unnatürliche derselben durch bloße Anschauung empfindet, ohne daß ein logischer Begriff den Maßstab oder das tertium comparationis hierzu abgäbe.
3.16In dieser negativen, innern Vernünftigkeit, welche dem Tonsystem durch Naturgesetze inwohnt, wurzelt dessen weitere Fähigkeit zur Aufnahme positiven Schönheitsgehaltes.
3.17Das Componiren ist ein Arbeiten des Geistes in
geistfähigem Material. So reichhaltig wir dies musikalische Material befunden haben,
so elastisch und durchdringbar erweist es sich für die künstlerische Phantasie. Diese
baut nicht wie der Architekt auf rohem, schwerfälligem Gestein, sondern auf die
Nachwirkung vorher verklungener Töne. Geistigerer, feinerer Natur, als jeder andere
Kunststoff, nehmen die Töne willig jedwede Idee des Künstlers in sich auf. Da nun
die
[50]
Tonverbindungen, in deren Verhältnissen das musikalisch Schöne ruht, nicht durch
mechanisches Aneinanderreihen, sondern durch freies Schaffen der Phantasie gewonnen
werden, so prägt sich die geistige Kraft und Eigenthümlichkeit dieser bestimmten
Phantasie dem Erzeugniß als Charakter auf. Als Schöpfung eines denkenden
und fühlenden Geistes hat demnach eine musikalische Composition in hohem Grade die
Fähigkeit, selbst geist- und gefühlvoll zu sein. Diesen geistigen Gehalt werden wir
in jedem musikalischen Kunstwerk fordern, doch darf er in kein andres Moment
desselben verlegt werden, als in die Tonbildungen selbst. Unsere Ansicht
über den Sitz des Geistes und Gefühls einer Composition verhält sich zu der
gewöhnlichen Meinung wie die Begriffe Immanenz und
Transcendenz. Jede Kunst hat zum Ziel, eine in der Phantasie des
Künstlers lebendig gewordene Idee zur äußern Erscheinung zu bringen. Dies Ideelle
in
der Musik ist ein tonliches, nicht ein begriffliches, welches erst in
Töne zu übersetzen wäre. Nicht der Vorsatz, eine bestimmte Leidenschaft musikalisch
zu schildern, sondern die Erfindung einer bestimmten Melodie ist der springende
Punkt, aus welchem jedes weitere Schaffen des Componisten seinen Ausgang nimmt. Durch
jene primitive, geheimnißvolle Macht, in deren Werkstätte das Menschenauge nun und
nimmermehr dringen wird, erklingt in dem Geist des Componisten ein Thema, ein Motiv.
Hinter die Entstehung dieses ersten Samenkorns können wir nicht
zurückgehen, wir müssen es als einfache Thatsache hinnehmen. Ist es einmal in die
Phantasie des Künstlers gefallen, so beginnt sein Schaffen, welches von diesem
Hauptthema ausgehend und sich stets darauf beziehend, das Ziel verfolgt, es in allen
seinen Beziehungen darzustellen. Das Schöne eines selbstständigen
[51] einfachen Themas
kündigt sich in dem ästhetischen Gefühl mit jener Unmittelbarkeit an, welche keine
andere Erklärung duldet, als höchstens die innere Zweckmäßigkeit der Erscheinung,
die
Harmonie ihrer Theile, ohne Beziehung auf ein außerhalb existirendes Drittes. Es
gefällt uns an sich, wie die Arabeske, die Säule, oder wie Producte des Naturschönen,
wie Blatt und Blume.
3.18Nichts irriger und häufiger, als die Anschauung, welche „schöne Musik“ mit und ohne geistigen Gehalt unterscheidet. Sie stellt sich die kunstreich zusammengefügte Form als etwas für sich selbst Bestehendes, die hineingegossene Seele gleichfalls als etwas Selbstständiges vor und theilt nun consequent die Compositionen in gefüllte und leere Champagnerflaschen. Der musikalische Champagner hat aber das Eigenthümliche, er wächst mit der Flasche.
3.19Ein bestimmter musikalischer Gedanke ist ohne
Weiteres durch sich geistvoll, der andere gemein; diese abschließende Cadenz klingt
würdig, durch Veränderung von zwei Noten wird sie platt. Mit voller Richtigkeit
bezeichnen wir ein musikalisches Thema als großartig, graziös, innig, geistlos,
trivial; – all diese Ausdrücke bezeichnen aber den musikalischen
Charakter der Stelle. Zur Charakterisirung dieses musikalischen Ausdrucks eines
Motivs wählen wir häufig Begriffe aus unserem Gemüthsleben, als „stolz,
mißmuthig, zärtlich, beherzt, sehnend.“ Wir können die Bezeichnungen aber auch aus
anderen Erscheinungskreisen nehmen, und eine Musik „duftig, frühlingsfrisch,
nebelhaft, frostig“ nennen. Gefühle sind also zur Bezeichnung musikalischen
Charakters nur Phänomene wie andere, welche Aehnlichkeiten dafür bieten.
Derlei Epitheta mag man im Bewußtsein ihrer Bildlichkeit brauchen, ja man kann ihrer
nicht ent
[52]rathen, nur hüte
man sich zu sagen: diese Musik schildert Stolz u. s. f.
3.20Die genaue Betrachtung aller musikalischen Bestimmtheiten eines Themas überzeugt uns aber, daß es – bei aller Unerforschlichkeit der letzten, ontologischen Gründe, – doch eine Anzahl näherliegender Ursachen giebt, mit welchen der geistige Ausdruck einer Musik in genauem Zusammenhang steht. Jedes einzelne musikalische Element (d. h. jedes Intervall, jede Klangfarbe, jeder Accord, jeder Rhythmus u. s. f.) hat seine eigenthümliche Physiognomie, seine bestimmte Art zu wirken. Unerforschlich ist der Künstler, erforschlich das Kunstwerk.
3.21Dasselbe Thema klingt anders über dem Dreiklang, als über einem Sextaccord; ein Melodienschritt in die Septime trägt ganz anderen Charakter als in die Sexte; der Rhythmus, der ein Motiv begleitet, ob laut oder leise, von dieser oder jener Klanggattung, ändert dessen specifische Färbung: kurz, jeder einzelne musikalische Factor einer Stelle trägt dazu mit Nothwendigkeit bei, daß sie gerade diesen geistigen Ausdruck annimmt, so und nicht anders auf den Hörer wirkt. Was die Halevy ʼsche Musik bizarr, die Auber ʼsche graziös macht, was die Eigenthümlichkeit bewirkt, an der wir sogleich Mendelssohn , Spohr erkennen, dies Alles läßt sich auf rein musikalische Bestimmungen zurückführen, ohne Berufung auf das räthselhafte Gefühl.
3.22 Warum die häufigen Quintsext-Accorde, die engen, diatonischen Themen bei Mendelssohn , die Chromatik und Enharmonik bei Spohr , die kurzen, zweitheiligen Rhythmen bei Auber u. s. w. gerade diesen bestimmten, unvermischbaren Eindruck erzeugen – dies kann freilich weder die Psychologie, noch die Physiologie beantworten.
[53]
3.23Wenn man jedoch nach der nächsten bestimmenden Ursache fragt – und darauf kömmt es ja in der Kunst vorzüglich an – so liegt die leidenschaftliche Einwirkung eines Themas nicht in dem vermeintlich übermäßigen Schmerz des Componisten, sondern in dessen übermäßigen Intervallen, nicht in dem Zittern seiner Seele, sondern im Tremolo der Pauken, nicht in seiner Sehnsucht, sondern in der Chromatik. Der Zusammenhang Beider soll keineswegs ignorirt, vielmehr bald näher betrachtet werden; festzuhalten ist aber, daß der wissenschaftlichen Untersuchung über die Wirkung eines Themas nur jene musikalischen Factoren unwandelbar und objectiv vorliegen, niemals die vermuthliche Stimmung, welche den Componisten dabei erfüllte. Will man von dieser unmittelbar auf die Wirkung des Werkes folgern, oder diese aus jener erklären, so kann der Schlußsatz vielleicht richtig ausfallen, aber das wichtigste Mittelglied der Deduction, nämlich die Musik selbst, wurde übersprungen.
3.24Die praktische Kenntniß des Charakters
jedes musikalischen Elements hat der tüchtige Componist, sei es in mehr instinctiver
oder bewußter Weise, inne. Zur wissenschaftlichen Erklärung der verschiedenen
musikalischen Wirkungen und Eindrücke gehört jedoch eine theoretische
Kenntniß der genannten Charaktere, von ihrer reichsten Zusammensetzung bis in das
letzte unterscheidbare Element. Der bestimmte Eindruck, mit welchem eine Melodie
Macht über uns gewinnt, ist nicht schlechthin „räthselhaftes, geheimnißvolles
Wunder,“ das wir nur „fühlen und ahnen“ dürfen, sondern unausbleibliche Consequenz
der musikalischen Factoren, welche in dieser bestimmten Verbindung wirken. Ein
knapper oder weiter Rhythmus, diatonische oder chromatische Fortschreitung, – Alles
hat seine charakteristische Physiognomie und besondre Art uns
[54] anzusprechen;
darum wird es dem gebildeten Musiker eine ungleich deutlichere Vorstellung von dem
Ausdruck eines ihm fremden Tonstücks geben, daß z. B. zu viel verminderte Septaccorde
und Tremolo darin vorherrschen, als die poetischeste Schilderung der Gefühlskrisen,
welche der Referent dabei durchgemacht.
3.25Die Erforschung der Natur jedes einzelnen
musikalischen Elementes, seines Zusammenhanges mit einem bestimmten Eindruck – nur
der Thatsache, nicht des letzten Grundes –, endlich die Zurückführung dieser
speciellen Beobachtungen auf allgemeine Gesetze: das wäre jene „philosophische
Begründung der Musik,“ welche so viele Autoren ersehnen, ohne uns nebenbei
mitzutheilen, was sie darunter eigentlich verstehen. Die psychische und physische
Einwirkung jedes Accords, jedes Rhythmus, jedes Intervalls wird aber nimmermehr
erklärt, indem man sagt: dieser ist Roth, jener Grün, oder dieser Hoffnung, jener
Mißmuth, sondern nur durch Subsumirung der specifisch musikalischen Eigenschaften
unter allgemeine ästhetische Kategorien und dieser unter Ein oberstes Princip. Wären
dergestalt die einzelnen Factoren in ihrer Isolirung erklärt, so müßte weiter gezeigt
werden, wie sie einander in den verschiedensten Combinationen bestimmen und
modificiren. Der Harmonie und der contrapunktischen
Begleitung haben die meisten Tongelehrten eine vorzügliche Stellung zu dem geistigen
Gehalt der Composition eingeräumt. Nur ging man in dieser Vindication
viel zu oberflächlich und atomistisch zu Werke. Man bestimmte die
Melodie als Eingebung des Genies, als Trägerin der Sinnlichkeit und
des Gefühls – bei dieser Gelegenheit erhielten die Italiener ein gnädiges Lob –; im
Gegensatz zur Melodie wurde die Harmonie als Trägerin
des gediegenen Gehalts aufgeführt, als erlernbar und Product
[55] des Nachdenkens.
Es ist seltsam, wie lange man sich mit einer so dürftigen Anschauungsweise zufrieden
stellen konnte. Beiden Behauptungen liegt ein Richtiges zu Grunde, doch gelten sie
weder in dieser Allgemeinheit, noch kommen sie in solcher Isolirung vor. Der Geist
ist Eins und die musikalische Erfindung eines Künstlers gleichfalls. Melodie und
Harmonie eines Themas entspringen zugleich in Einer Rüstung aus dem Haupt des
Tondichters. Weder das Gesetz der Unterordnung noch des Gegensatzes trifft das
Wesen des Verhältnisses der Harmonie zur Melodie. Beide können hier
gleichzeitige Entfaltungskraft ausüben, dort sich einander freiwillig unterordnen,
–
in dem einen wie dem andern Fall kann die höchste geistige Schönheit erreicht werden.
Istʼs etwa die (ganz fehlende) Harmonie in den Hauptmotiven zu Beethovenʼs
Coriolan- und Mendelssohnʼs Hebriden-Ouvertüre, was ihnen den Ausdruck
gedankenreichen Tiefsinns verleiht? Wird man
Rossiniʼs Thema „o Mathilde“ oder ein neapolitanisches Volkslied mit mehr Geist erfüllen,
wenn man einen basso continuo, oder complicirte Accordenfolgen an die Stellen des
nothdürftigen Harmoniegeländes setzt? Diese Melodie mußte mit
dieser Harmonie zugleich erdacht werden, mit diesem
Rhythmus und dieser Klanggattung. Der geistige Gehalt kommt nur dem
Verein Aller zu, und die Verstümmlung Eines Gliedes verletzt den
Ausdruck auch der übrigen. Das Vorherrschen der Melodie oder der
Harmonie, oder des Rhythmus kommt dem Ganzen zu Gute, und hier allen Geist in den
Accorden, dort alle Trivialität in deren Mangel zu finden, ist baare Schulmeisterei.
Die Camelie kommt duftlos zu Tage, die Lilie farblos, die Rose prangt für beide Sinne
– da läßt sich nichts übertragen, und ist doch jede von ihnen schön!
[56]
3.26So hätte die „philosophische Begründung der Musik“ vorerst zu erforschen, welche nothwendigen geistigen Bestimmtheiten mit jedem musikalischen Element verbunden sind, und wie sie mit einander zusammenhängen. Die doppelte Forderung eines streng wissenschaftlichen Gerippes und einer höchst reichhaltigen Casuistik machen die Aufgabe zu einer sehr schwierigen, aber kaum unüberwindlichen, es wäre denn, daß man das Ideal einer „exacten“ Musikwissenschaft, nach dem Muster der Chemie oder Physiologie, erstrebte!
3.27Die Art, wie der Act des Schaffens im Tondichter vorgeht, giebt uns den sichersten Einblick in das Eigenthümliche des musikalischen Schönheitsprincips. Eine musikalische Idee entspringt primitiv in des Tondichters Phantasie, er spinnt sie weiter, – es schießen immer mehr und mehr Krystalle an, bis unmerklich die Gestalt des ganzen Gebildes in ihren Hauptformen vor ihm steht, und nur die künstlerische Ausführung, prüfend, messend, abändernd, hinzuzutreten hat. An die Darstellung eines bestimmten Inhaltes denkt der Tonsetzer nicht. Thut er es, so stellt er sich auf einen falschen Standpunkt, mehr neben als in der Musik. Seine Composition wird die Uebersetzung eines Programms in Töne, welche dann ohne jenes Programm unverständlich bleiben. Wir verkennen weder, noch unterschätzen wir Berliozʼ Talent, wenn wir an dieser Stelle seinen Namen nennen. Ihm ist Liszt mit seinen „symphonischen Dichtungen“ nachgefolgt.
3.28Wie aus dem gleichen Marmor der eine Bildhauer
bezaubernde Formen, der andre eckiges Ungeschick heraushaut, so gestaltet sich die
Tonleiter unter verschiedenen Händen zur Beethovenʼschen Ouvertüre, oder zur Verdiʼschen.
Was unterscheidet die Beiden? Etwa, daß die eine höhere Gefühle, oder dieselben
Gefühle richtiger darstellt? Nein, sondern
[57] daß sie schönere
Tonformen bildet. Nur dies macht eine Musik gut oder schlecht, daß ein Componist ein
geistsprühendes Thema einsetzt, der andere ein gemeines, daß der Erstere es nach
allen Beziehungen immer neu und bedeutend entwickelt, der Letztere seines wo möglich
immer schlechter macht, die Harmonie des einen wechselvoll und originell sich
entfaltet während die zweite vor Armuth nicht vom Flecke kommt, der Rhythmus hier
ein
lebenswarm hüpfender Puls ist, dort ein Zapfenstreich.
3.29Es giebt keine Kunst, welche so bald und so viele
Formen verbraucht, wie die Musik. Modulationen, Cadenzen,
Intervallenfortschreitungen, Harmonienfolgen nutzen sich in 50, ja 30 Jahren
dergestalt ab, daß der geistvolle Componist sich deren nicht mehr bedienen kann und
fortwährend zur Erfindung neuer, rein musikalischer Züge gedrängt wird. Man kann von
einer Menge Compositionen, die hoch über dem Alltagstand ihrer Zeit stehen, ohne
Unrichtigkeit sagen, daß sie einmal schön waren. Die Phantasie des
geistreichen Künstlers wird aus den geheim-ursprünglichen Beziehungen der
musikalischen Elemente und ihrer unzählbar möglichen Combinationen die feinsten,
verborgensten entdecken, sie wird Tonformen bilden, die aus freiester Willkür
erfunden und doch zugleich durch ein unsichtbar feines Band mit der Nothwendigkeit
verknüpft erscheinen. Solche Werke oder Einzelheiten derselben werden wir ohne
Bedenken „geistreich“ nennen. Hiermit berichtigt sich leicht
Oulibicheffʼs mißverständliche Ansicht, eine Instrumentalmusik
könne nicht geistreich sein, indem
„für einen Componisten der Geist einzig und allein in einer gewissen
Anwendung seiner Musik auf ein directes oder indirectes
Programm bestehe.“
Es wäre unsrer Ansicht nach ganz richtig, das berühmte dis in dem Allegro
[58] der
„Don Juan“ Ouvertüre oder den
absteigenden Unisonogang darin einen geistreichen Zug zu nennen, – nun und nimmermehr
hat aber das erstere (wie Oulibicheff meint)
„die feindliche Stellung Don Juanʼs gegen das
Menschengeschlecht,“
und letzterer die Väter, Gatten, Brüder und Liebhaber der von Don Juan verführten Frauen vorgestellt. Sind alle diese
Deutungen an sich schon vom Uebel, so werden sie es doppelt bei
Mozart
, welcher – die musikalischste Natur, welche die Kunstgeschichte aufweist –
Alles was er nur berührt hat in Musik verwandelte.
Oulibicheff
sieht auch in der G-moll-Symphonie die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe in 4
verschiedenen Phasen genau ausgedrückt. Die G-moll-Symphonie ist Musik und weiter nichts. Das ist jedenfalls genug. Man
suche nicht die Darstellung bestimmter Seelenprocesse oder Ereignisse in Tonstücken,
sondern vor Allem Musik, und man wird rein genießen, was sie vollständig
giebt. Wo das Musikalisch-Schöne fehlt, wird das Hineinklügeln einer großartigen
Bedeutung es nie ersetzen, und dies ist unnütz, wo jenes existirt. Auf alle Fälle
bringt es die musikalische Auffassung in eine ganz falsche Richtung. Dieselben Leute,
welche der Musik eine Stellung unter den Offenbarungen des menschlichen Geistes
vindiciren wollen, welche sie nicht hat und nie erlangen wird, weil sie nicht im
Stande ist, Ueberzeugungen mitzutheilen, – dieselben Leute haben auch
den Ausdruck „Intention“ in Schwang gebracht. In der Tonkunst giebtʼs keine
„Intention“ in dem beliebten technischen Sinne. Was nicht zur Erscheinung kommt, ist
in der Musik gar nicht da, was aber zur Erscheinung gekommen ist, hat aufgehört bloße
Intention zu sein. Der Ausspruch: „Er hat Intentionen,“ wird meist in lobender
Absicht angewandt, – mir scheint er eher ein Tadel, welcher in trockenes Deutsch
übersetzt etwa
[59] lauten würde:
Der Künstler möchte wohl, allein er kann nicht. Kunst kommt aber von
Können; wer nichts kann, – hat „Intentionen.“
3.30Wie das Schöne eines Tonstücks lediglich in dessen musikalischen Bestimmungen wurzelt, so folgen auch die Gesetze seiner Construction nur diesen. Es herrschen darüber eine Menge schwankender, irriger Ansichten, von welchen hier nur Eine angeführt werden mag.
3.31Dies ist nämlich die aus der Gefühlsanschauung hervorgegangene landläufige Theorie der Sonate und Symphonie. Der Tonsetzer, heißt es, habe vier von einander verschiedene Seelenzustände, die aber mit einander (wie?) zusammenhängen, in den einzelnen Sätzen der Sonate darzustellen. Um den unläugbaren Zusammenhang der Sätze zu rechtfertigen und ihre verschiedene Wirkung zu erklären, zwingt man ordentlich den Zuhörer, ihnen bestimmte Gefühle als Inhalt unterzulegen. Die Deutung paßt manchmal, öfter auch nicht, niemals mit Nothwendigkeit. Dies aber wird immer mit Nothwendigkeit passen, daß vier Tonsätze zu einem Ganzen verbunden sind, welche nach musikalisch-ästhetischen Gesetzen sich abzuheben und zu steigern haben. Wir verdanken dem phantasiereichen Maler M. v. Schwind eine sehr anziehende Illustration der Clavierphantasie op. 80 von Beethoven , deren einzelne Sätze der Künstler als zusammenhängende Ereignisse derselben Hauptpersonen auffaßte und bildlich darstellte. Gerade so wie der Maler Scenen und Gestalten aus den Tönen heraussieht, so legt der Zuhörer Gefühle und Ereignisse hinein. Beides hat damit einen gewissen Zusammenhang, aber keinen nothwendigen, und nur mit diesem haben es wissenschaftliche Gesetze zu thun.
3.32Man pflegt oft anzuführen, daß Beethoven beim Ent
[60]wurf mancher
seiner Compositionen sich bestimmte Ereignisse oder Seelenzustände gedacht haben
soll. Wo Beethoven oder irgend ein andrer Tonsetzer diesen Vorgang beobachtete,
benützte er ihn blos als Hülfsmittel, sich durch den Zusammenhang eines objectiven
Ereignisses das Festhalten der musikalischen Einheit zu erleichtern. Diese Einheit
der musikalischen Stimmung istʼs, was die vier Sätze einer Sonate als
organisch verbunden charakterisirt, nicht aber der Zusammenhang mit dem vom
Componisten gedachten Objecte. Wo sich dieser solch poetisches
Gängelband versagte, und rein musikalisch erfand da wird man keine andre Einheit der
Theile finden, als eine musikalische. Es ist ästhetisch gleichgültig, ob sich Beethoven
allenfalls bei seinen sämmtlichen Compositionen bestimmte Vorwürfe gewählt, wir
kennen sie nicht, sie sind daher für das Werk nicht existirend. Dieses selbst, ohne
allen Commentar, istʼs was vorliegt, und wie der Jurist aus der Welt herausfingirt,
was nicht in den Acten liegt, so ist für die ästhetische Beurtheilung nicht
vorhanden, was außerhalb des Kunstwerks lebt. Erscheinen uns die Sätze einer
Composition als einheitlich, so muß diese Zusammengehörigkeit in
musikalischen Bestimmungen ihren Grund haben. 11
[61]
3.33Einem möglichen Mißverstehen wollen wir schließlich
dadurch begegnen, daß wir unsern Begriff des „Musikalisch-Schönen“ nach drei Seiten
feststellen. Das „Musikalisch-Schöne“ in dem von uns angenommenen specifischen Sinn
beschränkt sich nicht auf das „Classische,“ noch enthält es eine Bevorzugung
desselben vor dem „Romantischen.“ Es gilt sowohl in der einen als der andern
Richtung, beherrscht Bach so gut als
Beethoven
,
Mozart
so gut als
Schumann
. Unsere Thesis also enthält auch nicht die Andeutung einer Parteinahme. Der
ganze Verlauf der gegenwärtigen Untersuchung spricht überhaupt kein
Sollen aus, sondern betrach
[62]tet nur ein
Sein; kein bestimmtes musikalisches Ideal läßt sich daraus als das
wahrhaft Schöne deduciren, sondern blos nachweisen, was in jeder, auch in den
entgegengesetztesten Schulen in gleicher Weise das Schöne ist.
3.34Es ist nicht lange her, seit man angefangen hat,
Kunstwerke im Zusammenhang mit den Ideen und Ereignissen der Zeit zu betrachten,
welche sie erzeugte. Dieser unläugbare Zusammenhang besteht auch für die Musik. Eine
Manifestation des menschlichen Geistes, muß sie auch in Wechselbeziehung zu dessen
übrigen Thätigkeiten stehen: zu den gleichzeitigen Schöpfungen der dichtenden und
bildenden Kunst, den poetischen, socialen, wissenschaftlichen Zuständen ihrer Zeit,
endlich den individuellen Erlebnissen und Ueberzeugungen des Autors. Die Betrachtung
und Nachweisung dieses Zusammenhangs an einzelnen Tonkünstlern und Tonwerke ist
demnach wohl berechtigt und ein wahrer Gewinn. Doch muß man dabei sich stets in
Erinnerung halten, daß ein solches Parallelisiren künstlerischer Specialitäten mit
bestimmten historischen Zuständen ein kunstgeschichtlicher, keineswegs
[63] ein
rein ästhetischer Vorgang ist. So nothwendig die Verbindung der
Kunstgeschichte mit der Aesthetik von methodologischem Standpunkt erscheint, so muß
doch jede dieser beiden Wissenschaften ihr eigenstes Wesen vor einer unfreien
Verwechselung mit der andern rein erhalten. Mag der Historiker, eine künstlerische
Erscheinung im Großen und Ganzen auffassend, in
Spontini
den „Ausdruck des französischen
Kaiserreichs,“ in
Rossini
die „politische Restauration“ erblicken, – der Aesthetiker hat sich lediglich
an die Werke dieser Männer zu halten, zu untersuchen, was daran schön sei und warum?
Die ästhetische Untersuchung weiß nichts und darf nichts wissen von den persönlichen
Verhältnissen und der geschichtlichen Umgebung des Componisten, nur was das Kunstwerk
selbst ausspricht, wird sie hören und glauben. Sie wird demnach in
Beethovenʼs Symphonien, auch ohne Namen und Biographie des Autors zu
kennen, ein Stürmen, Ringen, unbefriedigtes Sehnen, kraftbewußtes Trotzen
herausfinden, allein daß der Componist republikanisch gesinnt, unverheirathet, taub
gewesen, und all die andern Züge, welche der Kunsthistoriker beleuchtend hinzuhält,
wird jene nimmermehr aus den Werken lesen und zur Würdigung derselben verwerthen
dürfen. Die Verschiedenheit der Weltanschauung eines
Bach
,
Mozart
,
Haydn
zu vergleichen, und den Contrast ihrer Compositionen darauf zurückzuführen,
mag für eine höchst anziehende, verdienstliche Unternehmung gelten, doch sie wird
Fehlschlüssen um so ausgesetzter sein, je strenger sie den Causalnexus darlegen
wollte. Die Gefahr der Uebertreibung ist bei Annahme dieses Princips außerordentlich
groß. Man kann da leicht den losesten Einfluß der Gleichzeitigkeit als eine innere
Nothwendigkeit darstellen und die ewig unübersetzbare Tonsprache deuten, wie manʼs
eben
[64]
braucht. Es wird rein auf die schlagfertige Durchführung desselben Paradoxons
ankommen, daß es im Munde des geistreichen Mannes eine Weisheit, in jenem des
schlichten ein Unsinn erscheint.
3.35Auch Hegel hat in Besprechung der Tonkunst oft irregeführt, indem er seinen vorwiegend kunstgeschichtlichen Standpunkt unmerklich mit dem rein ästhetischen verwechselt und in der Musik Bestimmtheiten nachweist, die sie an sich niemals hatte. „Einen Zusammenhang“ hat der Charakter jedes Tonstückes mit dem seines Autors gewiß, allein er steht für den Aesthetiker nicht zu Tage; – die Idee des nothwendigen Zusammenhangs aller Erscheinungen kann in ihrer concreten Nachweisung bis zur Caricatur übertrieben werden. Es gehört heutzutage ein wahrer Heroismus dazu, dieser pikanten, geistreich repräsentirten Richtung entgegenzutreten und auszusprechen, daß das „historische Begreifen“ und das „ästhetische Beurtheilen“ verschiedene Dinge sind. 12 Objectiv aber steht fest: erstens, daß die Verschiedenartigkeit des Ausdrucks der verschiedenen Werke und Schulen auf einer durchgreifend verschiedenen Stellung der musikalische Elemente beruhe, und zweitens, daß, was an einer Composition, sei es die strengste Bach ʼsche Fuge, oder das träumerischste Notturno von Chopin , mit Recht gefällt, musikalisch schön sei.
3.36Noch weniger als mit dem Classischen kann das
„Musikalisch-Schöne“ mit dem Architektonischen zusammenfallen, das es
als Zweig in sich faßt. Die starre Erhabenheit übereinander gethürmter Figuration,
die kunstreiche
[65] Verschlingung
vieler Stimmen, von denen keine frei und selbstständig ist, weil es
alle sind, haben ihre unvergängliche Berechtigung. Doch sind jene
großartig düstern Stimmpyramiden der alten Italiener und Niederländer ebensosehr nur
ein kleiner Bezirk auf dem Gebiete der musikalischen Schönheit, als die vielen
zierlich ausgearbeiteten Salzfässer und silbernen Leuchter des ehrwürdigen Sebastian
Bach.
3.37Viele Aesthetiker halten den musikalischen Genuß durch das Wohlgefallen am Regelmäßigen und Symmetrischen ausreichend erklärt, worin doch niemals ein Schönes, vollends ein Musikalisch-Schönes bestand. Das abgeschmackteste Thema kann vollkommen symmetrisch gebaut sein. „Symmetrie“ ist ja nur ein Verhältnißbegriff und läßt die Frage offen: Was ist es denn, das hier symmetrisch erscheint? – Die regelmäßige Anordnung geistloser, abgenützter Theilchen wird sich gerade in den allerschlechtesten Compositionen nachweisen lassen. Der musikalische Sinn verlangt immer neue symmetrische Bildungen.
3.38Zuletzt hat für die Musik diese Platonische Ansicht Oerstedt an dem Beispiel des Kreises entwickelt, dem er positive Schönheit vindicirt. Sollte er niemals die ganze Entsetzlichkeit einer kreisrunden Composition an sich erlebt haben?
3.39Vorsichtiger vielleicht als nothwendig, sei endlich
noch hinzugefügt, daß die musikalische Schönheit mit dem Mathematischen
nichts zu thun hat. Die Vorstellung, welche Laien (darunter auch gefühlvolle
Schriftsteller) von der Rolle hegen, welche die Mathematik in der musikalischen
Composition spielt, ist eine merkwürdig vage. Nicht zufrieden damit, daß die
Schwingungen der Töne, der Abstand der Intervalle, das Consoniren und Dissoniren sich
auf mathematische Ver
[66]hältnisse
zurückführen lassen, sind sie überzeugt, auch das Schöne einer
Tondichtung gründe sich auf Zahlen. Das Studium der Harmonielehre und des
Contrapunktes gilt für eine Art Cabbala, welche die „Berechnung“ der Composition
lehre.
3.40 & 3.41Wenn für die Erforschung des
physikalischen Theils der Tonkunst die Mathematik einen unentbehrlichen Schlüssel
liefert, so möge im fertigen Tonwerk hingegen ihre Bedeutung nicht überschätzt
werden. In einer Tondichtung, sei sie die schönste oder die schlechteste, ist gar
nichts mathematisch berechnet. Schöpfungen der Phantasie sind keine Rechenexempel.
Alle Monochord-Experimente, Klangfiguren, Intervallproportionen u. dgl. gehören nicht
hierher, der ästhetische Bereich fängt erst an, wo jene
Elementarverhältnisse in ihrer Bedeutung aufgehört haben. Die Mathematik regelt blos
den elementaren Stoff zu geistfähiger Behandlung und spielt verborgen in den
einfachsten Verhältnissen, aber der musikalische Gedanke kommt ohne sie ans Licht.
Wenn
Oerstedt
fragt:
„Sollte wohl die Lebenszeit mehrerer Mathematiker hinreichen, alle
Schönheiten einer
Mozart
schen Symphonie zu berechnen?“
13 so bekenne ich, daß ich das nicht verstehe. Was soll
denn oder kann berechnet werden? Etwa das Schwingungsverhältniß jedes Tones zum
nächstfolgenden, oder die Längen der einzelnen Perioden gegen einander? Was eine
Musik zur Tondichtung macht, und sie aus der Reihe physikalischer Experimente hebt,
ist ein Freies, Geistiges, daher unberechenbar. Am musikalischen
Kunstwerk hat die Mathematik einen ebenso kleinen, oder ebenso großen
Antheil, wie an den Hervorbringungen der übrigen Künste. Denn
[67] Mathematik muß
am Ende auch die Hand des Malers und Bildhauers führen, Mathematik webt im Gleichmaß
der Vers- und Strophenlängen, Mathematik im Bau des Architekten, in den Figuren des
Tänzers. In jeder genauen Kenntniß muß die Anwendung der Mathematik, als
Vernunftthätigkeit, eine Stelle finden. Nur eine wirklich positive, schaffende Kraft
muß man ihr nicht einräumen wollen, wie dies manche Musiker, diese Conservativen der
Aesthetik, gern möchten. Es ist mit der Mathematik ähnlich, wie mit der Erzeugung
der
Gefühle im Zuhörer, – sie findet bei allen Künsten statt, aber großer Lärm darüber
ist blos bei der Musik.
3.42 & 3.43Auch mit der Sprache hat
man die Musik häufig zu parallelisiren und die Gesetze der ersteren für die letztere
aufzustellen versucht. Die Verwandtschaft des Gesanges mit der Sprache
lag nahe genug, mochte man sich nun an die Gleichheit der physiologischen Bedingungen
halten oder an den gemeinsamen Charakter als Entäußerung des Innern durch die
menschliche Stimme. Die analogen Beziehungen sind zu auffällig, als daß wir hier
darauf einzugehen hätten; es sei demnach nur ausdrücklich eingeräumt, daß, wo es sich
bei der Musik wirklich blos um die subjective Entäußerung eines inneren Dranges
handelt, in der That die Gesetzlichkeit des sprechenden Menschen
theilweise maßgebend für den singenden sein wird. Daß der in
Leidenschaft Gerathende mit der Stimme steigt, während die Stimme des sich
beruhigenden Redners fällt; daß Sätze besonderen Gewichtes langsam, gleichgültige
Nebensachen schnell gesprochen werden: dies und Aehnliches wird der Gesangcomponist,
insbesondere der dramatische, nicht unbeachtet lassen dürfen. Allein man
hat sich mit diesen begrenzten
[68] Analogien nicht
begnügt, sondern die Musik selbst als eine (unbestimmtere oder feinere)
Sprache aufgefaßt und nun ihre Schönheitsgesetze aus der Natur der
Sprache abstrahiren wollen. Jede Eigenschaft und Wirkung der Musik wurde auf
Aehnlichkeiten mit der Sprache zurückgeführt. Wir sind der Ansicht, daß, wo es sich
um das Specifische einer Kunst handelt, ihre Unterschiede von verwandten Gebieten
wichtiger sind, als die Aehnlichkeiten. Unbeirrt durch diese oft verlockenden, aber
das eigentliche Wesen der Musik gar nicht treffenden Analogien muß die ästhetische
Untersuchung unablässig zu dem Punkte vordringen, wo Sprache und Musik sich
unversöhnlich scheiden. Nur aus diesem Punkte werden der Tonkunst wahrhaft
fruchtbringende Bestimmungen sprießen können. Der wesentliche Grundunterschied
besteht aber darin, daß in der Sprache der Ton nur Mittel
zum Zweck eines diesem Mittel ganz fremden Auszudrückenden ist, während in der
Musik der Ton als Selbstzweck auftritt. Die
selbstständige Schönheit der Tonformen hier und die absolute Herrschaft des Gedankens
über den Ton als bloßes Ausdrucksmittel dort, stehen sich so ausschließend gegenüber,
daß eine Vermischung der beiden Principe eine logische Unmöglichkeit ist.
3.44Der Schwerpunkt des Wesens liegt also ganz wo anders bei der Sprache und bei der Musik, und um diesen Schwerpunkt gruppiren sich alle übrigen Eigenthümlichkeiten. Alle specifisch musikalischen Gesetze werden sich um die selbstständige Bedeutung und Schönheit der Töne drehen, alle sprachlichen Gesetze um die correcte Verwendung des Lautes zum Zweck des Ausdruckes.
3.45Die schädlichsten und verwirrendsten Anschauungen
sind aus dem Bestreben hervorgegangen, die Musik als eine Art
[69] Sprache
aufzufassen; sie weisen uns täglich praktische Folgen auf. So mußte es hauptsächlich
Componisten von schwacher Schöpferkraft geeignet erscheinen, die ihnen unerreichbare
selbstständige musikalische Schönheit als ein falsches, sinnliches Princip anzusehen,
und die charakteristische Bedeutsamkeit der Musik dafür auf den Schild zu heben. Ganz
abgesehen von Richard Wagnerʼs Opern findet man in den kleinsten
Instrumentalsächelchen oft Unterbrechungen des melodischen Flusses durch abgerissene
Cadenzen, recitativische Sätze u. dgl., welche, den Hörer befremdend, sich anstellen,
als bedeuteten sie etwas Besonderes, während sie in der That nichts
bedeuten, als Unschönheit. Von modernen Compositionen, welche fortwährend den großen
Rhythmus durchbrechen, um mysteriöse Zusätze oder gehäufte Contraste vorzudrängen,
pflegt man zu rühmen, es strebe darin die Musik ihre engen Grenzen durchzubrechen
und
zur Sprache sich zu erheben. Uns ist ein solches Lob immer sehr
zweideutig erschienen. Die Grenzen der Musik sind durchaus nicht eng, aber sehr genau
fest gesteckt. Die Musik kann sich niemals „zur Sprache erheben“ – herablassen müßte
man eigentlich von musikalischem Standpunkt sagen, indem die Musik ja offenbar eine
gesteigerte Sprache sein müßte. 14
[70]
3.46Das vergessen auch unsere Sänger, welche in
Momenten größten Affectes Worte, ja Sätze sprechend heraus
[71]stoßen
und damit die höchste Steigerung der Musik gegeben zu haben glauben. Sie übersehen,
daß der Uebergang vom Singen zum Sprechen stets ein Sinken ist, so wie der höchste
normale Sprechton noch immer tiefer klingt als selbst die tieferen Gesangstöne
desselben Organes. Ebenso schlimm als diese praktischen Folgen, ja noch schlimmer,
weil nicht allsogleich durch das Experiment geschlagen, sind die
Theorien, welche der Musik die Entwicklungs- und Constructionsgesetze
der Sprache aufdringen wollen, wie es in älterer Zeit zum Theil von
Rousseau
und
Rameau
, in neuerer Zeit von den Jüngern R.
Wagnerʼs versucht wird. Es wird dabei das wahrhafte Herz der Musik,
die in sich selbst befriedigte Formschönheit, durchstoßen und dem Phantom der
„Bedeutung“ nachgejagt. Eine Aesthetik der Tonkunst müßte es daher zu ihren
wichtigsten Aufgaben zählen, die Grundverschiedenheit zwischen dem Wesen der Musik
und dem der Sprache unerbittlich darzulegen, und in allen Folgerungen das Princip
festzuhalten, daß, wo es sich um Specifisch-Musikalisches handelt, die Analogien mit
der Sprache jede Anwendung verlieren.
[72]
4.1Erachten wir es auch als Princip und erste Aufgabe der musikalischen Aesthetik, daß sie die usurpirte Herrschaft des Gefühls unter die berechtigte der Schönheit stelle, so behaupten doch die affirmativen Aeußerungen des Fühlens im praktischen Musikleben eine zu auffallende und wichtige Rolle, um durch bloße Unterordnung abgethan zu werden.
4.2Da nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als Thätigkeit des reinen Schauens, das Organ ist, aus welchem und für welches alles Kunstschöne zunächst entsteht, so erscheint auch das musikalische Kunstwerk als ein von unserm Fühlen nicht bedingtes, specifisch ästhetisches Gebild, das die wissenschaftliche Betrachtung abgelöst von dem psychologischen Beiwerk seines Entstehen und Wirkens in seiner inneren Beschaffenheit erfassen muß.
4.3In der Wirklichkeit erweist sich aber dieses
selbstständige Kunstwerk als wirksame Mitte zwischen zwei lebendigen Kräften: seinem
Woher und seinem Wohin, d. i. dem Componisten und dem
Hörer. In dem Seelenleben dieser Beiden kann die künstlerische Thätigkeit der
Phantasie nicht so zu reinem Metall ausgeschieden sein, wie sie in
dem fertigen, unpersönlichen Kunstwerk vorliegt – vielmehr wirkt sie dort stets in
enger Wech
[73]selbeziehung mit
Gefühlen und Empfindungen. Das Fühlen wird somit vor und
nach der Schöpfung des Kunstwerkes, vorerst im Tondichter, dann im
Hörer eine Bedeutung behaupten, der wir unsere Aufmerksamkeit nicht entziehen
dürfen.
4.4Betrachten wir den Componisten. Ihn
wird während des Schaffens eine gehobene Stimmung erfüllen, wie sie zur Befreiung
des
Schönen aus dem Schacht der Phantasie kaum entbehrlich gedacht werden kann. Daß diese
gehobene Stimmung, nach der Individualität des Künstlers, mehr oder minder die
Färbung des werdenden Kunstwerkes annehmen, daß sie bald hoch, bald mäßiger fluthen
wird, nie aber bis zum überwältigenden Affecte, der das künstlerische Hervorbringen
vereitelt, daß die klare Besinnung hierbei wenigstens gleiche Wichtigkeit behauptet
mit der Begeisterung, – das sind bekannte, der allgemeinen Kunstlehre angehörige
Bestimmungen. Was speciell das Schaffen des Tonsetzers betrifft, so muß
festgehalten werden, daß es ein stetes Bilden ist, ein
Formen in Tonverhältnissen. Nirgend erscheint die Souverainetät des
Gefühls, welche man so gern der Musik andichtet, schlimmer angebracht, als wenn man
sie im Componisten während des Schaffens voraussetzt und dieses als ein begeistertes
Extemporiren auffaßt. Die schrittweis vorgehende Arbeit, durch welche ein Musikstück,
das dem Tondichter anfangs nur in Umrissen vorschwebte, bis in die einzelnen Tacte
zur bestimmten Gestalt ausgemeißelt wird, allenfalls gleich in der empfindlichen
vielgestaltigen Form des Orchesters, ist so besonnen und complicirt, daß sie kaum
verstehen kann, wer nicht selbst einmal Hand daran gelegt. Nicht blos etwa fugirte
oder contrapunktische Sätze, in welchen wir abmessend Note gegen Note halten, auch
das fließendste Rondo, die melodiöseste Arie erfordert, wie es unsere Sprache
bedeutsam nennt, ein
[74] „Ausarbeiten“
ins Kleinste. Die Thätigkeit des Componisten ist eine in ihrer Art
plastische und jener des bildenden Künstlers vergleichbar. Eben so
wenig als dieser darf der Tondichter seinem Stoff unfrei verwachsen sein, denn gleich
ihm hat er ja sein (musikalisches) Ideal objectiv hinzustellen, zur reinen Form zu
gestalten.
4.5Das dürfte von Rosenkranz vielleicht übersehen worden sein, wenn er den Widerspruch bemerkt, aber ungelöst läßt, warum die Frauen, welche doch von Natur vorzugsweise auf das Gefühl angewiesen sind, in der Composition nichts leisten? 15 Der Grund liegt – außer den allgemeinen Bedingungen, welche Frauen von geistigen Hervorbringungen ferner halten – eben in dem plastischen Moment des Componirens, das eine Entäußerung der Subjectivität nicht minder, wenn gleich in verschiedener Richtung erheischt, als die bildenden Künste. Wenn die Stärke und Lebendigkeit des Fühlens wirklich maßgebend für das Tondichten wäre, so würde der gänzliche Mangel an Componistinnen neben so zahlreichen Schriftstellerinnen und Malerinnen schwer zu erklären sein. Nicht das Gefühl componirt, sondern die speciell musikalische, künstlerisch geschulte Begabung. Ergötzlich klingt es daher, wenn F. L. Schubart die „meisterhaften Andantes“ des Componisten Stanitz ganz ernsthaft als eine natürliche „Folge seines gefühlvollen Herzens“ hinstellt 16 , oder Christian Rolle uns versichert, „ein leutseliger, zärtlicher Charakter mache uns geschickt, langsame Sätze zu Meisterstücken zu bilden.“ 17
[75]
4.6Ohne innere Wärme ist nichts Großes noch Schönes im Leben vollbracht worden. Das Gefühl wird beim Tondichter, wie bei jedem Poeten, sich reich entwickelt vorfinden, nur ist es nicht der schaffende Factor in ihm. Gesetzt selbst, ein starkes, bestimmtes Pathos erfüllte ihn gänzlich, so wird dasselbe Anlaß und Weihe manches Kunstwerks werden, allein – wie wir aus der Natur der Tonkunst wissen, welche einen bestimmten Affect darzustellen weder die Fähigkeit noch den Beruf hat – niemals dessen Gegenstand.
4.7Ein inneres Singen, nicht ein inneres Fühlen treibt den musikalisch Talentirten zur Erfindung eines Tonstücks. Es ist Regel, daß die Composition rein musikalisch erdacht wird, und ihr Charakter kein Ergebniß der persönlichen Gefühle des Componisten ist. Nur ausnahmsweise extemporirt dieser die Melodien als Ausdruck eines bestimmten, ihn eben erfüllenden Affectes. Der Charakter dieses Affectes, einmal vom Kunstwerk aufgesogen, interessirt aber sodann nur mehr als musikalische Bestimmtheit, als Charakter des Stücks, nicht mehr des Componisten.
4.8Wir haben die Thätigkeit des Componirens als ein
Bilden aufgefaßt; als solches ist sie wesentlich
objectiv. Der Tonsetzer formt ein selbstständiges Schöne. Der
unendlich ausdrucksfähige, geistige Stoff der Töne läßt es zu, daß die Subjectivität
des in ihnen Bildenden sich in der Art seines Formens auspräge. Da schon den
einzelnen musikalischen Elementen ein charakteristischer Ausdruck eignet, so werden
vorherrschende Charakterzüge des Componisten: Sentimentalität, Energie, Nettigkeit,
sich durch die consequente Bevorzugung gewisser Tonarten, Rhythmen, Uebergänge recht
wohl nach den allgemeinen Momenten abdrücken, welche die Musik
wiederzugeben fähig ist. Was der gefühlvolle und
[76] was der
geistreiche Componist bringt, der graziöse oder der erhabene, ist zuerst und vor
Allem Musik, objectives Gebilde. Principiell untergeordnet bleibt das
subjective Moment immer, nur wird es nach Verschiedenheit der Individualität in ein
verschiedenes Größenverhältniß zu dem objectiven treten. Man vergleiche vorwiegend
subjective Naturen, denen es um Aussprache ihrer gewaltigen oder sentimentalen
Innerlichkeit zu thun ist (Beethoven, Spohr), im Gegensatz zu
klar Formenden (Mozart, Mendelssohn). Ihre Werke werden sich von einander durch unverkennbare
Eigenthümlichkeiten unterscheiden und als Gesammtbild die Individualität ihrer
Schöpfer abspiegeln; doch wurden sie alle, die einen wie die andern, als
selbstständiges Schöne rein musikalisch um ihretwillen erschaffen, und erst innerhalb
der Grenzen dieses künstlerischen Bildens mehr oder weniger subjectiv ausgestattet.
Ins Extrem gesteigert, läßt sich daher wohl eine Musik denken, welche blos
Musik, aber keine, die blos Gefühl wäre.
4.9Nicht das thatsächliche Gefühl des Componisten, als
eine blos subjective Affection, ist es, was die gleiche Stimmung in den Hörern
wachruft. Räumt man der Musik solch eine zwingende Macht ein, so anerkennt man
dadurch deren Ursache als etwas Objectives in ihr, denn nur dieses
zwingt in allem Schönen. Dies Objective sind hier die
musikalischen Bestimmtheiten eines Tonstücks. Streng ästhetisch
können wir von irgend einem Thema sagen, es klinge stolz oder trübe,
nicht aber, es sei ein Ausdruck der stolzen oder der trüben Gefühle des Componisten.
Noch ferner liegen dem Charakter eines Tonwerkes die socialen und politischen
Verhältnisse, welche seine Zeit beherrschten. Jener musikalische
Ausdruck des Themas ist nothwendige Folge seiner so und nicht anders ge
[77]wählten Tonfactoren; daß diese Wahl aus psychologischen oder culturgeschichtlichen
Ursachen hervorging, müßte an dem bestimmten Werke (nicht blos aus Jahreszahl und
Geburtsort) nachgewiesen werden, und nachgewiesen wäre dieser Zusammenhang zunächst
eine lediglich historische oder biographische Thatsache. Die ästhetische
Betrachtung kann sich auf keine Umstände stützen, die außerhalb des Kunstwerkes
selbst liegen.
4.10So gewiß die Individualität des Componisten in seinen Schöpfungen einen symbolischen Ausdruck finden wird, so irrig wäre es, aus diesem persönlichen Moment Begriffe ableiten zu wollen, die ihre wahrhafte Begründung nur in der Objectivität des künstlerischen Bildens finden. Dahin gehört der Begriff des Styls. 18
4.11Wir möchten den Styl in der Tonkunst von Seite
seiner musikalischen Bestimmtheiten aufgefaßt wissen, als die vollendete
Technik, wie sie im Ausdruck des schöpferischen Gedankens als Gewöhnung erscheint.
Der Meister bewährt „Styl,“ indem er, die klar erfaßte Idee verwirklichend, alles
Kleinliche, Unpassende, Triviale wegläßt und so in jeder technischen Einzelheit die
künstlerische Haltung des Ganzen übereinstimmend wahrt. Mit
Vischer
(Aesthetik §. 527) würden wir das Wort „Styl“ auch in der Musik absolut
gebrauchen und, absehend von den historischen oder individuellen
[78] Eintheilungen,
sagen: Dieser Componist hat Styl, in dem Sinne wie man von Jemand sagt:
er hat Charakter.
4.12Die architektonische Seite des musikalisch-Schönen tritt bei der Stylfrage recht deutlich in den Vordergrund. Eine höhere Gesetzlichkeit, als die der bloßen Proportion, wird der Styl eines Tonstücks durch einen einzigen Tact verletzt, der, an sich untadelhaft, nicht zum Ausdruck des Ganzen stimmt. Genau so wie eine unpassende Arabeske im Bauwerk, nennen wir styllos eine Cadenz oder Modulation, welche als Inconsequenz aus der einheitlichen Durchführung des Grundgedankens abspringt. Einen äußerst richtigen Blick hat Nägeli bewährt, als er in einigen Instrumentalwerken von Mozart „Styllosigkeiten“ nachwies und dabei nicht vom Charakter des Componisten, sondern von objectiv musikalischen Bestimmungen ausging, freilich ohne den Begriff selbst zu erklären oder zu begründen.
4.13In der Composition eines Musikstückes findet daher eine Entäußerung des eigenen, persönlichen Affectes nur insoweit statt, als es die Grenzen einer vorherrschend objectiven, formenden Thätigkeit zulassen.
4.14Der Act, in welchem die unmittelbare Ausströmung eines Gefühls in Tönen vor sich gehen kann, ist nicht sowohl die Erfindung eines Tonwerkes, als vielmehr die Reproduction desselben. Daß für den philosophischen Begriff das componirte Tonstück, ohne Rücksicht auf dessen Aufführung, das fertige Kunstwerk ist, darf uns nicht hindern, die Spaltung der Musik in Composition und Reproduction, eine der folgenreichsten Specialitäten unserer Kunst, überall zu beachten, wo sie zur Erklärung eines Phänomens beiträgt.
4.15In der Untersuchung des subjectiven Eindrucks der
Musik macht sie sich ganz vorzugsweise geltend. Dem Spieler
[79] ist es
gegönnt, sich des Gefühls, das ihn eben beherrscht, unmittelbar durch sein Instrument
zu befreien und in seinen Vortrag das wilde Stürmen, das sehnliche Glühen, die
heitere Kraft und Freude seines Innern zu hauchen. Schon das körperlich
Innige, das durch meine Fingerspitzen die innere Bebung unvermittelt an die Saite
drückt oder den Bogen reißt oder gar im Gesange selbsttönend wird, macht den
persönlichsten Erguß der Stimmung im Musiciren recht eigentlich möglich. Eine
Subjectivität wird hier unmittelbar in Tönen tönend wirksam, nicht blos
stumm in ihnen formend. Der Componist schafft langsam, unterbrochen, der Spieler im
unaufhaltsamen Flug; der Componist für das Bleiben, der Spieler für den erfüllten
Augenblick. Das Tonwerk wird geformt, die Aufführung erleben wir. So
liegt denn das Gefühlsentäußernde und erregende Moment der Musik im Reproductionsact,
welcher den elektrischen Funken aus dunklem Geheimniß lockt und in das Herz der
Zuhörer überspringen macht. Freilich kann der Spieler nur das bringen, was die
Composition enthält, allein diese erzwingt wenig mehr als die Richtigkeit der Noten.
„Der Geist des Tondichters sei es ja nur, den der Spieler errathe und
offenbare“ – wohl, aber eben diese Aneignung im Moment des Wiederschaffens ist
sein, des Spielers, Geist. Dasselbe Stück belästigt oder entzückt, je
nachdem es zu tönender Wirklichkeit belebt wird. Es ist, wie derselbe Mensch, einmal
in seiner verklärendsten Begeisterung, das andremal in mißmuthiger Alltäglichkeit
aufgefaßt. Die künstlichste Spieluhr kann das Gefühl des Hörers nicht bewegen, doch
der einfachste Musikant wird es, wenn er mit voller Seele bei seinem Liede ist.
4.16Zur höchsten Unmittelbarkeit befreit sich die
Offenbarung
[80] eines
Seelenzustandes durch Musik, wo Schöpfung und Ausführung in Einen Act zusammenfallen.
Dies geschieht in der freien Phantasie. Wo diese nicht mit formell
künstlerischer, sondern mit vorwiegend subjectiver Tendenz (pathologisch in höherem
Sinn) auftritt, da kann der Ausdruck, welchen der Spieler den Tasten entlockt, ein
wahres Sprechen werden. Wer dies censurfreie Sprechen, dies entfesselte
Sichselbstgeben mitten in strengem Bannkreise je an sich selbst erlebt hat, der wird
ohne Weiteres wissen, wie da Liebe, Eifersucht, Wonne und Leid unverhüllt und doch
unfahndbar hinausrauschen aus ihrer Nacht, ihre Feste feiern, ihre Sagen singen, ihre
Schlachten schlagen, bis der Meister sie zurückruft, beruhigt, beunruhigend.
4.17Durch die entbundene Bewegung des Spielers theilt sich der Ausdruck des Gespielten dem Hörer mit. Wenden wir uns zu diesem.
4.18Wir sehen ihn von einer Musik ergriffen, froh oder wehmüthig bewegt, weit über das blos ästhetische Wohlgefallen hinaus im Innersten emporgetragen oder erschüttert. Die Existenz dieser Wirkungen ist unleugbar, wahrhaft und echt, oft die höchsten Grade erreichend, zu bekannt endlich, als daß wir ihr ein beschreibendes Verweilen widmen dürften. Es handelt sich hier nur um zweierlei: – worin im Unterschied von andern Gefühlsbewegungen der specifische Charakter dieser Gefühlserregung durch Musik liege? und wieviel von dieser Wirkung ästhetisch sei?
4.19Müssen wir auch das Vermögen, auf die Gefühle zu
wirken, allen Künsten ausnahmslos zuerkennen, so ist doch der Art und
Weise, wie die Musik es ausübt, etwas Specifisches, nur ihr
Eigenthümliches nicht abzusprechen. Musik wirkt auf den Gemüthszustand rascher und
intensiver, als
[81] irgend ein
anderes Kunstschöne. Mit wenigen Accorden können wir einer Stimmung überliefert sein,
welche ein Gedicht erst durch längere Exposition, ein Bild durch anhaltendes
Hineindenken erreichen würde, obgleich diesen beiden, im Vortheil gegen die Tonkunst,
der ganze Kreis der Vorstellungen dienstbar ist, von welchen unser Denken die Gefühle
von Lust oder Schmerz abhängig weiß. Nicht nur rascher, auch unmittelbarer und
intensiver ist die Einwirkung der Töne. Die andern Künste überreden, die Musik
überfällt uns. Diese ihre eigenthümliche Gewalt auf unser Gemüth erfahren wir am
stärksten, wenn wir uns in einem Zustand größerer Aufregung oder Herabstimmung
befinden.
4.20In Gemüthszuständen, wo weder Gemälde noch Gedichte, weder Statuen noch Bauten mehr im Stande sind, uns zu theilnehmender Aufmerksamkeit zu reizen, wird Musik noch Macht über uns haben, ja gerade heftiger als sonst. Wer in schmerzhaft aufgeregter Stimmung Musik hören oder machen muß, dem schwingt sie wie Essig in der Wunde. Keine Kunst kann da so tief und scharf in unsere Seele schneiden. Form und Charakter des Gehörten verlieren ganz ihre Bedeutung, sei es nächtigtrübes Adagio oder ein hellfunkelnder Walzer, wir können uns nicht loswinden von seinen Klängen, – nicht mehr das Tonstück fühlen wir, sondern die Töne selbst, die Musik als gestaltlos dämonische Gewalt, wie sie glühend an die Nerven unseres ganzen Leibes rückt.
4.21Als
Goethe
in hohem Alter noch einmal die Gewalt der Liebe erfuhr, da erwachte in ihm
zugleich eine nie gekannte Empfänglichkeit für Musik. Er schreibt über jene
wunderbaren Marienbader Tage (1823) an
Zelter
:
„Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! Die Stimme der
Milder, das Klangreiche der Szymanowska, ja
[82] sogar die
öffentlichen Exhibitionen des hiesigen Jägercorps falten mich auseinander, wie
man eine geballte Faust freundlich flach läßt. Ich bin völlig überzeugt, daß
ich im ersten Tacte Deiner Singakademie den Saal verlassen müßte.“
Zu einsichtsvoll, um nicht den großen Antheil nervöser Aufregung
in dieser Erscheinung zu erkennen, schließt Goethe mit den Worten:
„Du würdest mich von einer krankhaften Reizbarkeit heilen, die denn doch
eigentlich als die Ursache jenes Phänomens anzusehen ist.“
19 Diese Beobachtungen
müssen uns schon aufmerksam machen, daß in den musikalischen Wirkungen auf das Gefühl
ein fremdes, nicht rein ästhetisches Element mit im Spiele sei. Eine rein ästhetische
Wirkung wendet sich an die volle Gesundheit des Nervenlebens, und zählt auf kein
krankhaftes Mehr oder Weniger desselben.
4.22Die intensivere Einwirkung der Musik auf unser Nervensystem vindicirt ihr in der That einen Machtüberschuß vor den anderen Künsten. Wenn wir aber die Natur dieses Machtüberschusses untersuchen, so erkennen wir, daß er ein qualitativer sei und daß die eigenthümliche Qualität auf physiologischen Bedingungen ruhe. Der sinnliche Factor, der bei jedem Schönheitsgenuß den geistigen trägt, ist bei der Tonkunst größer, als in den andern Künsten. Die Musik, durch ihr körperloses Material die geistigste, von Seite ihres gegenstandlosen Formspiels die sinnlichste Kunst, zeigt in dieser geheimnißvollen Vereinigung zweier Gegensätze ein lebhaftes Assimilationsbestreben mit den Nerven, diesen nicht minder räthselhaften Organen des unsichtbaren Telegraphendienstes zwischen Leib und Seele.
4.23Die intensive Wirkung der Musik auf das Nervenleben
[83] ist
als Thatsache von der Psychologie wie von der Physiologie vollständig anerkannt.
Leider fehlt noch eine ausreichende Erklärung derselben. Es vermag die
Psychologie nimmermehr das Magnetisch-Zwingende des Eindrucks zu
ergründen, den gewisse Accorde, Klangfarben und Melodien auf den ganzen Organismus
des Menschen üben, weil es dabei zuvörderst auf eine specifische Reizung der Nerven
ankommt. Ebensowenig hat die im Triumph fortschreitende Wissenschaft der
Physiologie etwas Entscheidendes über unser Problem gebracht.
4.24Was die musikalischen Monographien dieses Zwittergegenstandes betrifft, so ziehen sie es fast durchgängig vor, die Tonkunst durch Ausbreitung glänzender Schaustücke in einen imposanten Nimbus von Wunderthätigkeit zu bringen, als in wissenschaftlicher Forschung den Zusammenhang der Musik mit unserm Nervenleben auf sein Wahres und Nothwendiges zurückzuführen. Dies allein aber thut uns Noth, und weder die Ueberzeugungstreue eines Doctor Albrecht , welcher seinen Patienten Musik als schweißtreibendes Mittel verschrieb, noch der Unglaube Oerstedtʼs, der das Heulen eines Hundes bei gewissen Tonarten durch rationelle Prügel erklärt, mittelst welcher derselbe zum Heulen abgerichtet worden sei. 20
4.25Manchem Musikfreund dürfte es unbekannt sein, daß wir eine ganze Literatur über die körperlichen Wirkungen der Musik und deren Anwendung zu Heilzwecken besitzen. An interessanten Curiositäten reich, doch in der Beobachtung unzuverlässig, in der Erklärung unwissenschaftlich, suchen die meisten dieser Musico-Mediciner eine sehr zusammengesetzte und beiläufige Eigenschaft der Tonkunst zu selbstständiger Wirksamkeit aufzustelzen.
[84]
4.26Von Pythagoras , der zuerst Wundercuren durch Musik verrichtet haben soll, bis auf unsere Tage taucht zeitweilig immer wieder, mehr durch neue Beispiele als durch neue Ideen bereichert, die Lehre auf, man könne die aufregende oder lindernde Wirkung der Töne auf den körperlichen Organismus als Heilmittel gegen zahlreiche Krankheiten in Anwendung bringen. Peter Lichtenthal erzählt uns ausführlich in seinem „Musikalischen Arzt,“ wie durch die Macht der Töne Gicht, Hüftweh, Epilepsie, Starrsucht, Pest, Fieberwahnsinn, Convulsionen, Nervenfieber, ja sogar „Dummheit (stupiditas) geheilt worden sei. 21
4.27Rücksichtlich der Begründung ihrer Theorie lassen sich diese Schriftsteller in zwei Klassen theilen.
4.28Die Einen argumentiren vom Körper aus und gründen die Heilkraft der Musik auf die physische Einwirkung der Schallwellen, welche sich durch den Gehörnerv den übrigen Nerven mittheile und durch solch allgemeine Erschütterung eine heilsame Reaction des gestörten Organismus hervorrufe. Die Affecte, welche zugleich sich bemerkbar machen, seien nur eine Folge dieser nervösen Erschütterung, indem Leidenschaften nicht blos gewisse körperliche Veränderungen hervorrufen, sondern diese auch ihrerseits die ihnen entsprechenden Leidenschaften zu erzeugen vermögen.
4.29Nach dieser Theorie, welcher (unter dem Vortritt
des
[85]
Engländers
Webb
)
Nicolai
,
Schneider
,
Lichtenthal
, J. J.
Engel
,
Sulzer
u. A. anhängen, würden wir durch die Tonkunst nicht anders bewegt, als etwa
unsere Fenster und Thüren, die bei einer starken Musik zu zittern beginnen. Als
unterstützend werden Beispiele angeführt, wie der Bediente
Boyleʼs, dem die Zähne zu bluten anfingen, sobald er eine Säge wetzen
hörte, oder viele Personen, welche beim Kratzen einer Messerspitze auf Glas
Convulsionen bekommen.
4.30Das ist nun keine Musik. Daß diese mit jenen so heftig auf die Nerven wirkenden Erscheinungen dasselbe Substrat, den Schall theilt, wird uns für spätere Folgerungen wichtig genug werden, hier ist – einer materialistischen Ansicht gegenüber – lediglich hervorzuheben, daß die Tonkunst erst da anfange, wo jene isolirten Klangwirkungen aufhören, übrigens auch die Wehmuth, in welche ein Adagio den Hörer versetzen kann, mit der körperlichen Empfindung eines schrillen Mißklangs gar nicht zu vergleichen ist.
4.31Die andere Hälfte unserer Autoren (unter ihnen
Kausch
und die meisten Aesthetiker) erklärt die heilkräftigen Wirkungen der Musik
von der psychologischen Seite aus. Musik – so argumentiren sie – erzeugt
Affecte und Leidenschaften in der Seele, Affecte haben heftige Bewegungen im
Nervensystem zur Folge, heftige Bewegungen im Nervensystem verursachen eine heilsame
Reaction im kranken Organismus. Dieses Raisonnement, auf dessen Sprünge gar nicht
erst hingedeutet zu werden braucht, wird von der genannten idealen, „psychologischen“
Schule gegen die frühere materielle so standhaft verfochten, daß sie, unter der
Autorität des Engländers
Whytt
, sogar aller Physiologie zu Trotz den Zusammenhang des Gehörnervs mit den
übrigen Nerven leugnet, wornach eine körperliche Uebertragung des durch
das Ohr empfangenen
[86] Reizes auf den
Gesammtorganismus freilich unmöglich wird.
4.32Der Gedanke, durch Musik bestimmte Affecte, als Liebe Wehmuth, Zorn, Entzücken, in der Seele zu erregen, welche den Körper durch wohlthätige Aufregung heilen, klingt so übel nicht. Uns fällt dabei stets das köstliche Parere ein, welches einer unserer berühmtesten Naturforscher über die sogenannten „Goldbergerʼschen elektromagnetischen Ketten“ abgab. Er sagte: es sei nicht ausgemacht, ob ein elektrischer Strom gewisse Krankheiten zu heilen vermöge, – das aber sei ausgemacht, daß die „Goldbergerʼschen Ketten“ keinen elektrischen Strom zu erzeugen im Stande sind. Auf unsere Tondoctoren angewandt, heißt dies: Es ist möglich, daß bestimmte Gemüthsaffecte eine glückliche Krisis in leiblichen Krankheiten herbeiführen, – allein es ist nicht möglich, durch Musik jederzeit beliebige Gemüthsaffecte hervorzubringen.
4.33Darin kommen beide Theorien, die psychologische und die physiologische, überein, daß sie aus bedenklichen Voraussetzungen noch bedenklichere Ableitungen folgern und endlich die bedenklichste praktische Schlußfolgerung daraus ziehen. Logische Ausstellungen mag sich eine Heilmethode etwa gefallen lassen, aber daß sich bis jetzt noch immer kein Arzt bewogen findet, seine Typhuskranken in Meyerbeerʼs „Propheten“ zu schicken, oder statt der Lanzette ein Waldhorn herauszuziehen, ist unangenehm.
4.34Die körperliche Wirkung der Musik ist weder an sich so stark, noch so sicher, noch von psychischen und ästhetischen Voraussetzungen so unabhängig, noch endlich so willkürlich behandelbar, daß sie als wirkliches Heilmittel in Betracht kommen könnte.
4.35Jede mit Beihilfe von Musik vollführte Cur trägt
den Charakter eines Ausnahmefalles, des Gelingen niemals der
[87] Musik allein
zuzuschreiben war, sondern zugleich von speciellen, vielleicht von ganz individuellen
körperlichen und geistigen Bedingungen abhing. Es ist sehr bemerkenswerth, daß die
einzige Anwendung von Musik, welche wirklich in der Medicin vorkommt, nämlich in der
Behandlung von Irrsinnigen, vorzugsweise auf die geistige Seite der musikalischen
Wirkung reflectirt. Die moderne Psychiatrie verwendet bekanntlich Musik in vielen
Fällen und mit glücklichem Erfolge. Dieser beruht aber weder auf der materiellen
Erschütterung des Nervensystems, noch auf der Erregung der Leidenschaften, sondern
auf dem besänftigend aufheiternden Einfluß, welchen das halb zerstreuende, halb
fesselnde Tonspiel auf ein verdüstertes oder überreiztes Gemüth auszuüben vermag.
Lauscht der Geisteskranke auch dem Sinnlichen, nicht dem Künstlerischen des
Tonstücks, so steht er doch, wenn er mit Aufmerksamkeit hört, schon auf einer, wenn
gleich untergeordneten Stufe ästhetischer Auffassung.
4.36Was nun alle diese musikalisch-medicinischen Werke für die richtige Erkenntniß der Tonkunst beitragen? Die Bestätigung einer von jeher beobachteten starken physischen Erregung bei allen durch Musik hervorgerufenen „Affecten“ und „Leidenschaften.“ Steht einmal fest, daß ein integrirender Theil der durch Musik erzeugten Gemüthsbewegung physisch ist, so folgt weiter, daß dies Phänomen, als wesentlich in unserm Nervenleben vorkommend, auch von dieser seiner körperlichen Seite erforscht werden müsse. Es kann demnach der Musiker über dies Problem sich keine wissenschaftliche Ueberzeugung bilden, ohne sich mit den Ergebnissen bekannt zu machen, bei welchen der gegenwärtige Standpunkt der Physiologie in Untersuchung des Zusammenhangs der Musik mit den Gefühlen hält.
[88]
4.37Verfolgen wir den Gang, welchen eine Melodie nehmen
muß, um auf unsere Gemüthsstimmung zu wirken, so finden wir ihren Weg vom vibrirenden
Instrument bis zum Gehörnerv, besonders nach den epochemachenden Bereicherungen
dieses Gebiets durch
Helmholtz’ „
Lehre von den
Tonempfindungen
“ hinreichend aufgeklärt. Die Akustik weist genau die äußeren Bedingungen
nach, unter welchen wir einen Ton überhaupt, unter welchen wir diesen oder jenen
bestimmten Ton vernehmen; die Anatomie deckt uns unter Mithilfe des Mikroskops den
Bau des Gehörorgans bis in’s Innerste und Feinste auf; die Physiologie endlich kann
zwar an diesem überaus kleinen und zarten, tief verborgenen Wunderbau keine directen
Versuche anstellen, hat aber doch dessen Wirkungsweise zum Theil mit Sicherheit
ermittelt, zum Theil durch eine, von Helmholtz aufgestellte Hypothese so klar gelegt, daß
uns jetzt der ganze Vorgang der Tonempfindung physiologisch verständlich ist. Selbst
darüber hinaus, auf einem Gebiete, in dem sich bereits die Naturwissenschaft eng mit
der Aesthetik berührt, haben uns die Forschungen von Helmholtz über die
Consonanz und die Verwandtschaft der Töne viel Licht gegeben, wo noch bis vor kurzem
viel Dunkel herrschte. Aber damit freilich stehen wir auch am Ende unserer Kenntniß.
Das für uns Wichtigste ist und bleibt unerklärt: der Nervenproceß, durch welchen nun
die Empfindung des Tones zum Gefühl, zur
Gemüthsstimmung wird. Die Physiologie weiß, daß das, was wir als Ton
empfinden, eine Molecularbewegung in der Nervensubstanz ist, und zwar wenigstens eben
so gut als im Akusticus in den Centralorganen. Sie weiß, daß die Fasern des
Gehörnervs mit den anderen Nerven zusammenhängen, und seine Reize auf sie übertragen,
daß das Gehör namentlich mit dem kleinen und großen Ge
[89]hirn, dem
Kehlkopf, der Lunge, dem Herzen in Verbindung steht. Unbekannt ist ihr aber die
specifische Art, wie Musik auf diese Nerven wirkt, noch mehr die Verschiedenheit,
mit
welcher bestimmte musikalische Factoren, Accorde, Rhythmen, Instrumente auf
verschiedene Nerven wirken. Vertheilt sich eine musikalische Gehörsempfindung auf
alle mit dem Akusticus zusammenhängende Nerven, oder nur auf einige? Mit welcher
Intensität? Von welchen musikalischen Elementen wird das Gehirn, von welchen werden
die zum Herzen oder zur Lunge führenden Nerven am meisten afficirt? Unleugbar ist,
daß Tanzmusik in jungen Leuten, deren natürliches Temperament nicht durch die Uebung
der Civilisation ganz zurückgehalten wird, ein Zucken im Körper, namentlich in den
Füßen hervorruft. Es wäre einseitig, den physiologischen Einfluß von
Marsch- und Tanzmusik zu leugnen, und ihn lediglich auf psychologische
Ideenassociation reduciren zu wollen. Was daran psychologisch ist, – die wachgerufene
Erinnerung an das schon bekannte Vergnügen des Tanzes, – entbehrt nicht der
Erklärung, allein diese reicht für sich keineswegs aus. Nicht weil sie Tanzmusik ist,
hebt sie die Füße, sondern sie ist Tanzmusik, weil sie die Füße hebt. Wer in der Oper
ein wenig um sich blickt, wird bald bemerken, wie bei lebhaften faßlichen Melodien
die Damen unwillkürlich mit dem Kopfe hin- und herschaukeln, nie wird man dies aber
bei einem Adagio sehen, sei es noch so ergreifend oder melodisch. Läßt sich daraus
schließen, daß gewisse musikalische, namentlich rhythmische Verhältnisse auf
motorische Nerven wirken, andere nur auf Empfindungsnerven? Wann ist das Erstere,
wann das Letzere der Fall? 22
[90]
Erleidet das Solargeflecht, welches traditionell für einen vorzugsweisen Sitz des
Empfindens gilt, bei der Musik eine besondere Affection? Erleiden sie etwa die
„sympathischen Nerven“ (– an denen, wie
Purkinje
uns bemerkte, ihr Name das Schönste ist –)? Warum ein Klang schrillend,
widerwärtig, ein anderer rein und wohllautend erscheine, das wird auf akustischem
Wege durch die Gleichförmigkeit oder Ungleichförmigkeit der auf einander folgenden
Luftstöße – warum mehrere zusammenklingende Töne consoniren oder dissoniren, wird
durch ihren ungestörten, gleichmäßigen oder gestörten, ungleichmäßigen Abfluß
erklärt. 23 Diese
Erklärungen mehr oder minder einfacher Gehörsempfindungen können aber
dem Aesthetiker nicht genügen; er verlangt nach der Erklärung des
Gefühls und fragt: wie kommt es, daß eine Reihe von wohlklingenden
Tönen den Eindruck der Trauer, eine zweite von gleichfalls wohlklingenden den
Eindruck der Freude macht? Woher die entgegengesetzten, oft mit zwingender Kraft
auftretenden Stimmungen, welche verschiedene Accorde oder Instrumente von gleich
reinem, wohlklingendem Ton dem Hörer unmittelbar einflößen?
[91]
4.38Dies Alles kann – so weit unser Wissen und Urtheil reicht – die Physiologie nicht beantworten. Wie sollte sie auch? Weiß sie doch nicht, wie der Schmerz die Thräne erzeugt, wie die Freude das Lachen, – weiß sie doch nicht, was Schmerz und Freude sind! Hüte sich deshalb Jeder, von einer Wissenschaft Aufschlüsse zu verlangen, die sie nicht geben kann. 24
4.39Freilich muß der Grund jedes durch Musik hervorgerufenen Gefühls vorerst in einer bestimmten Affectionsweise der Nerven durch einen Gehörseindruck liegen. Wie aber eine Reizung des Gehörnervs, die wir nicht einmal bis zu dessen Ursprungsstelle verfolgen können, als bestimmte Empfindungsqualität ins Bewußtsein fällt, wie der körperliche Eindruck zum Seelenzustand, die Empfindung endlich zum Gefühle wird, – das liegt jenseits der dunklen Brücke, die von keinem Forscher überschritten ward. Es sind tausendfältige Umschreibungen des einen Urräthsels: vom Zusammenhang des Leibes mit der Seele. Diese Sphinx wird sich niemals vom Felsen stürzen. 25
[92]
4.40Was die Physiologie der Musikwissenschaft bietet, ist von höchster Wichtigkeit für unsere Erkenntniß der Gehörseindrücke als solcher; in dieser Beziehung kann durch sie noch mancher Fortschritt geschehen: in der musikalischen Hauptfrage wird dies kaum je der Fall sein. –
4.44Aus diesem Resultate ergiebt sich für die Aesthetik
der Tonkunst die Betrachtung, daß diejenigen Theoretiker, welche das Princip des
Schönen in der Musik auf Gefühlswirkungen bauen, wissenschaftlich verloren sind, weil
sie über das Wesen dieses Zusammenhangs nichts wissen können, also besten Falls nur
darüber zu rathen oder zu phantasiren vermögen. Vom Standpunkte des Gefühls wird eine
künstlerische oder wissenschaftliche Bestimmung der Musik niemals ausgehen können.
Mit der Schilderung der subjectiven Bewegungen, welche den Kritiker bei Anhörung
einer Symphonie überkommen, wird er deren Werth und Bedeutung nicht begründen, eben
so wenig kann er von den Affecten ausgehend den Kunstjünger etwas lehren. Letzteres
ist wichtig. Denn stünde der Zusammenhang bestimmter Gefühle mit gewissen
musikalischen Ausdrucksweisen so zuverlässig da, als man geneigt ist zu glauben, und
als er dastehen müßte, um die ihm vindicirte Bedeutung zu behaupten, so wäre es ein
Leichtes, den angehenden Componisten bald zur Höhe ergreifendster Kunstwirkung zu
leiten. Man wollte dies auch wirklich.
Mattheson
lehrt im dritten Kapitel seines „vollkommenen Capellmeisters,“ wie Stolz, Demuth und
alle Leidenschaften zu componiren seien, indem er z. B. sagt, die
„Erfindungen“
zur Eifersucht müssen
„alle was Verdrießliches, Grimmiges und Klägliches haben.“
Ein anderer
[93] Meister des
vorigen Jahrhunderts,
Heinchen
, giebt in seinem „Generalbaß“ acht Bogen Notenbeispiele, wie die Musik
„rasende, zankende, prächtige, ängstliche oder verliebte
Empfindungen“
ausdrücken solle. 26 Es fehlt nur noch, daß derlei Vorschriften mit der Kochbuch-Formel „Man
nehme“ anhüben, oder mit der medicinischen Signatur m. d. s. endigten. Es holt sich
aus solchen Bestrebungen die lehrreichste Ueberzeugung, wie specielle Kunstregeln
immer zugleich zu eng und zu weit sind.
4.45Diese an sich bodenlosen Regeln für die
musikalische Erweckung bestimmter Gefühle gehören aber um so weniger in die
Aesthetik, als die erstrebte Wirkung keine rein ästhetische, sondern ein
unausscheidbarer Antheil daran körperlich ist. Das
ästhetische Recept müßte lehren, wie der Tonkünstler das Schöne in
der Musik erzeuge, nicht aber beliebige Affecte im Auditorium. Wie ganz ohnmächtig
diese Regeln wirklich sind, das zeigt am schönsten die Erwägung, wie
zaubermächtig sie sein müßten. Denn wäre die Gefühlswirkung jedes
musikalischen Elementes eine nothwendige und erforschbare, so könnte man auf dem
Gemüth des Hörers, wie auf einer Claviatur spielen. Und falls man es vermöchte –
würde die Aufgabe der Kunst dadurch gelöst? So nur lautet die berechtigte Frage und
verneint sich von selbst. Musikalische Schönheit allein ist die wahre
Kraft des Tonkünstlers. Auf
[94] ihren Schultern
schreitet er sicher durch die reißenden Wogen der Zeit, in denen das Gefühlsmoment
ihm keinen Strohhalm bietet vorm Ertrinken.
4.46Man sieht, unsere beiden Fragen, – nämlich, welches specifische Moment die Gefühlswirkung durch Musik auszeichne, und ob dies Moment wesentlich ästhetischer Natur sei? – erledigen sich durch die Erkenntniß ein und desselben Factors: der intensiven Einwirkung auf das Nervensystem. Auf dieser beruht die eigenthümliche Stärke und Unmittelbarkeit, mit welcher die Musik im Vergleich mit jeder andern nicht durch Töne wirkenden Kunst Affecte aufzuregen vermag.
4.47Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich überwältigend, also pathologisch auftritt, desto geringer ist ihr ästhetischer Antheil; ein Satz der sich freilich nicht umkehren läßt. Es muß darum in der musikalischen Hervorbringung und Auffassung ein anderes Element hervorgehoben werden, welches das unvermischt Aesthetische dieser Kunst repräsentirt und als Gegenbild zu der specifisch-musikalischen Gefühlserregung sich den allgemeinen Schönheitsbedingungen der übrigen Künste annähert. Dies ist die reine Anschauung. Ihre besondere Erscheinungsform in der Tonkunst, so wie die vielgestaltigen Verhältnisse, welche sie in der Wirklichkeit zum Gefühlsleben eingeht, wollen wir im folgenden Abschnitt betrachten. –
[95]
5.1aNichts hat die wissenschaftliche Entwicklung der musikalischen Aesthetik so empfindlich gehemmt als der übermäßige Werth, welchen man den Wirkungen der Musik auf die Gefühle beilegte. Je auffallender sich diese Wirkungen zeigten, desto höher pries man sie als Herolde musikalischer Schönheit. Wir haben im Gegentheil gesehen, daß gerade den überwältigendsten Eindrücken der Musik der stärkste Antheil körperlicher Erregung von Seite des Hörers beigemischt ist. Von Seite der Musik liegt diese heftige Eindringlichkeit in das Nervensysten nicht sowohl in ihrem künstlerischen Moment, das ja aus dem Geiste kommt und an den Geist sich wendet, als vielmehr in ihrem Material, dem die Natur jene unergründliche physiologische Wahlverwandtschaft eingeboren hat. Das Elementarische der Musik, der Klang und die Bewegung ist es, was die wehrlosen Gefühle so vieler Musikfreunde in Ketten schlägt, mit denen sie gar gerne klirren. Weit sei es von uns, die Rechte des Gefühls an die Musik verkürzen zu wollen. Allein dies Gefühl, welches sich thatsächlich mehr oder minder mit der reinen Anschauung paart, kann nur dann als künstlerisch gelten, wenn es sich seiner ästhetischen Herkunft bewußt bleibt, d. h. der Freude an einem und zwar gerade diesem bestimmten Schönen.
[96]
5.1bFehlt dies Bewußtsein, fehlt die freie Anschauung
des bestimmten Kunstschönen und fühlt das Gemüth sich nur von der Naturgewalt der
Töne befangen, so kann die Kunst sich solchen Eindruck um so weniger zu
Gute schreiben, je stärker er auftritt. Die Zahl derer, welche auf solche Art Musik
hören oder eigentlich fühlen, ist sehr bedeutend. Indem sie das Elementarische der
Musik in passiver Empfänglichkeit auf sich wirken lassen, gerathen sie in eine vage,
nur durch den Charakter des Tonstücks bestimmte übersinnlich sinnliche Erregung. Ihr
Verhalten gegen die Musik ist nicht anschauend, sondern pathologisch;
ein stetes Dämmern, Fühlen, Schwärmen, ein Hangen und Bangen in klingendem Nichts.
Lassen wir an dem Gefühlsmusiker mehrere Tonstücke gleichen, etwa rauschend
fröhlichen Charakters, vorbeiziehen, so wird er in dem Banne desselben Eindrucks
verbleiben. Nur was diesen Stücken gleichartig ist, also die Bewegung des rauschend
Fröhlichen, assimilirt sich seinem Fühlen, während das Besondere jeder Tondichtung,
das künstlerisch Individuelle seiner Auffassung entschwindet. Gerade umgekehrt wird
der musikalische Zuhörer verfahren. Die eigenthümliche künstlerische Gestaltung einer
Composition, das, was sie unter einem Dutzend ähnlich wirkender zum selbstständigen
Kunstwerk stempelt, erfüllt sein Aufmerken so vorherrschend, daß er ihrem gleichen
oder verschiedenen Gefühlsausdruck nur geringes Gewicht beilegt. Das isolirte
Aufnehmen eines abstracten Gefühlsinhaltes anstatt der concreten Kunsterscheinung
ist
in solcher Ausbildung der Musik ganz eigenthümlich. Nur die Gewalt einer besonderen
Beleuchtung erscheint ihr nicht selten analog, wenn sie Manchen so
ergreift, daß er über die beleuchtete Landschaft selbst sich gar keine Rechenschaft
zu geben vermag. Eine unmotivirte und darum desto ein
[97]dringlichere
Totalempfindung wird in Bausch und Bogen eingesaugt. 27
5.2Halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt, lassen jene
Enthusiasten von den Schwingungen der Töne sich tragen und schaukeln, statt sie
scharfen Blickes zu betrachten. Wie das stark und stärker anschwillt, nachläßt,
aufjauchzt oder auszittert, das versetzt sie in einen unbestimmten
Empfindungszustand, den sie für rein geistig zu halten so unschuldig sind. Sie bilden
das „dankbarste“ Publicum und dasjenige, welches geeignet ist, die Würde der Musik
am
sichersten zu discreditiren. Das ästhetische Merkmal des geistigen
Genusses geht ihrem Hören ab; eine feine Cigarre, ein picanter Leckerbissen, ein
laues Bad leistet ihnen unbewußt, was eine Symphonie. Vom gedankenlos gemächlichen
Dasitzen der Einen bis zur tollen Verzückung der Andern ist das Princip dasselbe:
die
Lust am Elementarischen der Musik. Die neue Zeit hat übrigens eine
herrliche Entdeckung gebracht, welche für Hörer, die ohne alle Geistesbethätigung
nur
den Gefühlsniederschlag der Musik suchen, diese Kunst weit überbietet. Wir meinen
den
Schwefeläther, das Chloroform. In der That zaubern uns diese Mittel einen höchst
angenehmen,
[98] den ganzen
Organismus süßtraumhaft durchbebenden Rausch, – ohne die Gemeinheit des Weintrinkens,
welches auch nicht ohne musikalische Wirkung ist.
5.3Die Werke der Tonkunst reihen sich für solche Auffassung zu den Naturproducten, deren Genuß uns entzücken, aber nicht zwingen kann zu denken, einem bewußt schaffenden Geiste nach zu denken. Der süße Athem eines Akazienbaumes läßt sich auch geschlossenen Auges, träumend einsaugen. Hervorbringungen menschlichen Geistes verwehren das durchaus, wenn sie nicht eben auf die Stufe sinnlicher Naturreize herabsinken sollen.
5.4In keiner andern Kunst ist dies so hohen Grades möglich, als in der Musik, deren sinnliche Seite einen geistlosen Genuß wenigstens zuläßt. Schon das Verrauschen derselben, während die Werke der übrigen Künste bleiben, gleicht in bedenklicher Weise dem Act des Verzehrens.
5.5Ein Bild, eine Kirche, ein Drama lassen sich nicht schlürfen, eine Arie sehr wohl. Darum giebt auch der Genuß keiner andern Kunst sich zu solch accessorischem Dienst her. Die besten Compositionen können als Tafelmusik gespielt werden und die Verdauung der Fasane erleichtern. Musik ist die zudringlichste und auch wieder die nachsichtigste Kunst. Die jämmerlichste Drehorgel, so sich vor unserem Haus postirt, muß man hören, aber zuzuhören braucht man selbst einer Mendelssohnʼschen Symphonie nicht.
5.5.1Die gerügte Art des Musikhörens ist übrigens nicht
etwa identisch mit der in jeder Kunst vorkommenden Freude des naiven Publicums an
dem
blos sinnlichen Theil derselben, während der ideale Gehalt nur von dem gebildeten
Verständniß erkannt wird. Diese unkünstlerische Auffassung eines Musikstückes zieht
nicht den eigentlich sinnlichen Theil, die reiche
[99] Mannigfaltigkeit
der Tonreihen an sich, sondern deren abstracte, als Gefühl empfundene Totalidee. Die
höchst eigenthümliche Stellung wird dadurch ersichtlich, welche in der Musik der
geistige Gehalt zu den Kategorien der Form und des
Inhalt einnimmt. Man pflegt nämlich das ein Tonstück durchwehende
Gefühl als den Inhalt, die Idee, den geistigen Gehalt desselben anzusehen, die
künstlerisch geschaffenen, bestimmten Tonfolgen hingegen als die bloße
Form, das Bild, die sinnliche Einkleidung jenes Uebersinnlichen. Allein gerade der
„specifisch-musikalische“ Theil ist die Schöpfung des künstlerischen Geistes, mit
welchem der anschauende Geist sich verständnißvoll vereinigt. In diesen concreten
Tonbildungen liegt der geistige Gehalt der Composition, nicht in dem vagen
Totaleindruck eines abstrahirten Gefühls. Die dem Gefühl, als vermeintlichem Inhalt,
gegenübergestellte bloße Form (das Tongebilde) ist gerade der wahre
Inhalt der Musik, ist die Musik selbst; während das erzeugte Gefühl
weder Inhalt noch Form heißen kann, sondern factische Wirkung. Ebenso ist das
vermeintliche Materielle, Darstellende, gerade das vom Geiste Gebildete,
während das angeblich Dargestellte, die Gefühlswirkung, der Materie des
Tons innewohnt und zur guten Hälfte physiologischen Gesetzen folgt.
–
5.6Aus den obigen Betrachtungen ergiebt sich leicht die
richtige Werthschätzung für die sogenannten „moralischen Wirkungen“ der
Musik, die als glänzendes Seitenstück zu den vorher erwähnten „physischen“ von älteren
Autoren mit so viel Vorliebe herausgestrichen werden. Da hierbei die Musik nicht im
Entferntesten als ein Schönes genossen, sondern als rohe Naturgewalt empfunden wird,
die bis zu besinnungslosem Handeln treibt, so stehen wir an dem geraden Widerspiel
alles Aesthetischen. Ueberdies liegt das Gemein
[100]schaftliche
dieser angeblich „moralischen“ Wirkungen mit den anerkannt physischen zu Tage.
5.7 & 5.8Der drängende Gläubiger, der durch die Töne seines Schuldners bewogen wird, ihm die ganze Summe zu schenken, 28 ist dazu nicht anders angetrieben als der Ruhende, den ein Walzermotiv plötzlich zum Tanz begeistert. Der Erstere wird mehr durch die geistigeren Elemente: Harmonie und Melodie, der Zweite durch den sinnlicheren Rhythmus bewegt. Keiner von Beiden handelt aber aus freier Selbstbestimmung, keiner überwältigt durch geistige Ueberlegenheit oder ethische Schönheit, sondern in Folge befördernder Nervenreize. Die Musik löst ihm die Füße oder das Herz, gerade so wie der Wein die Zunge. Solche Siege predigen nur die Schwäche des Besiegten. Ein Erleiden unmotivirter ziel- und stoffloser Affecte durch eine Macht, die in keinem Rapport zu unserm Wollen und Denken steht, ist des Menschengeistes unwürdig. Wenn vollends Menschen in so hohem Grade von dem Elementarischen einer Kunst sich hinreißen lassen, daß sie ihres freien Handelns nicht mehr mächtig sind, so scheint uns dies weder ein Ruhm für die Kunst noch viel weniger für die Helden selbst.
5.9Die Musik hat die Bestimmung keineswegs, allein ihr intensives Gefühlsmoment macht es möglich, daß sie in solcher Tendenz genossen werde. Dies ist der Punkt, in welchem die ältesten Anklagen gegen die Tonkunst ihre Wurzel haben; daß sie entnerve, verweichliche, erschlaffe.
5.10Wo man Musik macht als ein Erregungsmittel
„unbestimmter Affecte“, als Nahrung des „Fühlens“ an sich, da
[101] wird jener
Vorwurf nur zu wahr.
Beethoven
verlangte, die Musik solle dem Mann „Feuer aus dem Geiste schlagen.“
Wohlgemerkt: „soll.“ Ob aber nicht selbst ein Feuer, das durch Musik
erzeugt und genährt wird, die willensstarke, denkkräftige Entwickelung des Mannes
hemmend zurückhält?
5.11Jedenfalls scheint uns diese Anklage des musikalischen Einflusses würdiger als dessen übermäßige Lobpreisung. Sowie die physischen Wirkungen der Musik im geraden Verhältniß stehen zu der krankhaften Gereiztheit des ihnen entgegenkommenden Nervensystems, so wächst der moralische Einfluß der Töne mit der Uncultur des Geistes und Charakters. Je kleiner der Widerhalt der Bildung, desto gewaltiger das Dreinschlagen solcher Macht. Die stärkste Wirkung übt Musik bekanntlich auf Wilde.
5.12Das schreckt unsere Musik-Ethiker nicht ab. Sie beginnen, gleichsam präludirend, am liebsten mit zahlreichen Beispielen, „wie sogar die Thiere“ sich der Macht der Tonkunst beugen. Es ist wahr, der Ruf der Trompete erfüllt das Pferd mit Muth und Schlachtbegier, die Geige begeistert den Bären zu Balletversuchen, die zarte Spinne und der plumpe Elephant bewegen sich horchend bei den geliebten Klängen. Ist es denn aber wirklich so ehrenvoll, in solcher Gesellschaft Musik-Enthusiast zu sein?
5.13Auf die Thierproductionen folgen die menschlichen
Cabinetsstücke. Sie sind meist im Geschmack Alexanderʼs des Großen,
welcher durch das Saitenspiel des
Timotheus
zuerst wüthend gemacht, hierauf durch den Gesang des
Antigenides
wieder besänftigt wurde. So ließ der minder bekannte König von Dänemark Ericus bonus,
um sich von der gepriesenen Gewalt der Musik zu überzeugen, einen berühmten Musikus
spielen, und zuvor alles Gewehr entfernen. Der
[102] Künstler
versetzte durch die Wahl seiner Modulationen alle Gemüther zuerst in Traurigkeit,
dann in Frohsinn. Letzteren wußte er bis zur Raserei zu steigern.
„Selbst der König brach durch die Thür, griff zum Degen und brachte von den
Umstehenden vier ums Leben.“
(Albert Krantzius, Dan. lib. V.,
cap. 3.) Und das war noch der „gute Erich
.“
5.14Wären solche „moralische Wirkungen“ der Musik noch an der Tagesordnung, so käme man wahrscheinlich vor innerer Empörung gar nicht dazu, sich über die Hexenmacht vernünftig auszusprechen, welche in souverainer Exterritorialität den Menschengeist unbekümmert um dessen Gedanken und Entschlüsse bezwingt und verwirrt.
5.15Die Betrachtung jedoch, daß die berühmtesten dieser musikalischen Trophäen dem grauen Alterthum angehören, macht wohl geneigt, der Sache einen historischen Standpunkt abzugewinnen.
5.16Es leidet gar keinen Zweifel, daß die Musik bei den
alten Völkern eine weit unmittelbarere Wirkung äußerte als gegenwärtig; weil die
Menschheit eben in ihren primitiven Bildungsstufen dem Elementarischen
viel verwandter und preisgegebener ist als später, wo Bewußtsein und Selbstbestimmung
in ihr Recht treten. Dieser natürlichen Empfänglichkeit kam der eigenthümliche
Zustand der Musik im griechischen
Alterthum hülfreich entgegen. Sie war nicht Kunst in unserem Sinn.
Klang und Rhythmus wirkten in fast vereinzelter
Selbstständigkeit und vertraten in dürftigem Vordrängen die Stelle der reichen,
geisterfüllten Formen, welche die gegenwärtige Tonkunst bilden. Alles, was von der
Musik jener Zeiten bekannt ist, läßt mit Gewißheit auf ein blos sinnliches, dafür
aber in dieser Beschränkung verfeinertes Wirken derselben schließen. Musik in der
modernen, künstle
[103]rischen Bedeutung
gabʼs nicht im classischen Alterthum, sonst hätte sie für die spätere Entwicklung
eben so wenig verloren gehen können, als die classische Dichtkunst, Plastik und
Architektur verloren gegangen sind. Die Vorliebe der Griechen für ein gründliches
Studium ihrer ins Subtilste zugespitzten Tonverhältnisse gehört als rein
wissenschaftliche nicht hierher.
5.17Der Mangel an Harmonie, die Befangenheit der Melodie in den engsten Grenzen recitativischen Ausdrucks, endlich die Entwicklungsunfähigkeit des alten Tonsystems zu wahrhaft musikalischem Gestaltenreichthum machten eine absolute Bedeutung der Musik als Tonkunst im musikalischen Sinne unmöglich; sie ward auch fast niemals selbstständig, sondern stets in Verbindung mit Poesie, Tanz und Mimik angewendet, mithin als eine Ergänzung der andern Künste. Musik hatte nur den Beruf durch rhythmischen Pulsschlag und Verschiedenheit der Klangfarben zu beleben; endlich als intensive Steigerung recitirender Declamation Worte und Gefühle zu commentiren. Die Tonkunst wirkte daher hauptsächlich nach ihrer sinnlichen und ihrer symbolischen Seite. Auf diese Factoren hingedrängt, mußte sie dieselben durch solche Concentration zu großer, ja raffinirter Wirksamkeit ausbilden. Die Zuspitzung des melodischen Materials bis zur Anwendung der Vierteltöne und des „enharmonischen Tongeschlechts“ hat die heutige Tonkunst eben so wenig mehr aufzuweisen, als den charakteristischen Sonderausdruck der Tonarten und ihr enges Anschmiegen an das gesprochene oder gesungene Wort.
5.18Diese gesteigerten tonlichen Verhältnisse fanden
für ihren engen Kreis überdies eine viel größere Empfänglichkeit in den
Hörern vor. Wie das griechische Ohr unendlich feinere Intervallen-Unterschiede zu fassen fähig
war, als es das unsere in der schwebenden Temperatur auferzogene ist, so war
[104] auch
das Gemüth jener Völker der wechselnden Umstimmung durch Musik weit zugänglicher und
begehrlicher als wir, die an dem künstlerischen Bilden der Tonkunst ein
contemplatives Gefallen hegen, das deren elementarischen Einfluß paralysirt. So
erscheint denn eine intensivere Wirkung der Musik im Alterthum wohl begreiflich.
5.19Desgleichen ein bescheidener Theil der Historien, die uns von der specifischen Wirkung der verschiedenen Tonarten bei den Alten überliefert sind. Sie gewinnen einen Erklärungsgrund in der strengen Scheidung, mit welcher die einzelnen Tonarten zu bestimmten Zwecken gewählt und unvermischt erhalten wurden. Die dorische Tonart brauchten die Alten für ernste, namentlich religiöse Anlässe; mit der phrygischen feuerten sie die Heere an; die lydische bedeutete Trauer und Wehmuth, und die äolische erklang, wo es in Liebe oder Wein lustig herging. Durch diese strenge, bewußte Trennung von vier Haupttonarten für eben so viel Classen von Seelenzuständen, so wie durch ihre consequente Verbindung mit nur zu dieser Tonart passenden Gedichten mußten Ohr und Gemüth unwillkürlich eine entschiedene Tendenz gewinnen, beim Erklingen einer Musik gleich das ihrer Tonart entsprechende Gefühl zu reproduciren. Auf der Grundlage dieser einseitigen Ausbildung war nun die Musik unentbehrliche, fügsame Begleiterin aller Künste, war Mittel zu pädagogischen, politischen und anderen Zwecken, sie war Alles, nur keine selbstständige Kunst. Wenn es blos einiger phrygischen Klänge bedurfte, um den Soldaten muthig gegen den Feind zu treiben, und die Treue der Strohwitwen durch dorische Lieder gesichert war, so mag der Untergang des griechischen Tonsystems von Feldherren und Ehegatten betrauert werden, – der Aesthetiker und der Componist werden es sich nicht zurückwünschen.
[105]
5.20Wir setzen jenem pathologischen Ergriffenwerden das bewußte reine Anschauen eines Tonwerks entgegen. Diese contemplative ist die einzig künstlerische, wahre Form des Hörens; ihr gegenüber fällt der rohe Affect des Wilden und der schwärmende des Musikenthusiasten in Eine Classe. Dem Schönen entspricht ein Genießen, kein Erleiden, wie ja das Wort „Kunstgenuß“ sinnig ausdrückt. Die Gefühlvollen halten es freilich für Ketzerei gegen die Allmacht der Musik, wenn Jemand von den Herzens-Revolutionen und Krawallen Umgang nimmt, welche sie in jedem Tonstück antreffen und redlich mitmachen. Man ist dann offenbar „kalt“, „gemüthlos“, „Verstandesnatur“. Immerhin. Edel und bedeutend wirkt es, dem schaffenden Geiste zu folgen, wie er zauberisch eine neue Welt von Elementen vor uns aufschließt, diese in alle denkbaren Beziehungen zu einander lockt, und so fortan aufbaut, niederreißt, hervorbringt und vernichtet, den ganzen Reichthum eines Gebietes beherrschend, welches das Ohr zum feinsten und ausgebildetsten Sinneswerkzeug adelt. Nicht eine angeblich geschilderte Leidenschaft reißt uns in Mitleidenschaft. Freudigen Geistes, in affectlosem, doch innig-hingebendem Genießen sehen wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen und feiern erkennend, was Schelling so schön „die erhabene Gleichgültigkeit des Schönen“ nennt. 29 Dieses Sich-Erfreuen mit wachem Geiste ist die würdigste, heilvollste und nicht die leichteste Art, Musik zu hören.
5.21Der wichtigste Factor in dem Seelenvorgang, welcher
das Auffassen eines Tonwerks begleitet und zum Genusse macht, wird am häufigsten
übersehen. Es ist die geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet, den
Absichten des Compo
[106]nisten
fortwährend zu folgen und voran zu eilen, sich in seinen Vermuthungen hier bestätigt,
dort angenehm getäuscht zu finden. Es versteht sich, daß dieses intellectuelle
Hinüber- und Herüberströmen, dieses fortwährende Geben und Empfangen, unbewußt und
blitzschnell vor sich geht. Nur solche Musik wird vollen künstlerischen Genuß bieten,
welche dies geistige Nachfolgen, welches ganz eigentlich ein Nachdenken der
Phantasie genannt werden könnte, hervorruft und lohnt. Ohne geistige
Thätigkeit giebt es überhaupt keinen ästhetischen Genuß. Der Musik aber
ist diese Form von Geistesthätigkeit darum vorzüglich eigen, weil ihre
Werke nicht unverrückbar und mit Einem Schlag dastehen, sondern sich successiv am
Hörer abspinnen, daher sie von diesem kein, ein beliebiges Verweilen und Unterbrechen
zulassendes Betrachten, sondern ein in schärfster Wachsamkeit
unermüdliches Begleiten fordern. Diese Begleitung kann bei verwickelten
Compositionen sich bis zur geistigen Arbeit steigern. Wie viele einzelne
Individuen, so können auch manche Nationen sich ihr nur
sehr schwer unterziehen. Die singende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den
Italienern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volks, welchem
das ausdauernde Durchdringen unerreichbar ist, womit der Nordländer einem künstlichen
Gewebe von harmonischen und contrapunktischen Verschlingungen zu folgen liebt. Dafür
wird Hörern, deren geistige Thätigkeit gering ist, der Genuß leichter,
und solche Musikbolde können Massen von Musik verzehren, vor welchen der
künstlerische Geist zurückbebt.
5.22Das bei jedem Kunstgenuß nothwendige
geistige Moment wird sich bei Zuhörern desselben Tonwerks in sehr
verschiedener Abstufung thätig erweisen; es kann in sinnlichen und gefühlvollen
Naturen auf ein Minimum sinken, in vor
[107]herrschend
geistigen Persönlichkeiten das geradezu Entscheidende werden. Die wahre
„rechte Mitte“ muß sich, nach unserer Meinung, hier eher etwas nach
rechts neigen. Zum Berauschtwerden brauchts nur der Schwäche, aber wirklich
ästhetisches Hören ist eine Kunst. 30
5.23Das Gefühlsschwelgen ist meist Sache jener Hörer,
welche für die künstlerische Auffassung des Musikalisch-Schönen keine
Ausbildung besitzen. Der Laie „fühlt“ bei Musik am meisten, der gebildete Künstler
am
wenigsten. Je bedeutender
[108] nämlich das
ästhetische Moment im Hörer (gerade wie im Kunstwerk), desto mehr
nivellirt es das blos elementarische. Darum ist das ehrwürdige Axiom der Theoretiker:
„Eine düstere Musik erregt Gefühle der Trauer in uns, eine heitere erweckt
Fröhlichkeit“ – in dieser Ausdehnung nicht immer richtig. Wenn jedes hohle Requiem,
jeder lärmende Trauermarsch, jedes winselnde Adagio die Macht haben sollte, uns
traurig zu machen, – wer möchte dann länger so leben? Blickt eine Tondichtung uns
an
mit klaren Augen der Schönheit, so erfreuen wir uns inniglich daran, und wenn sie
alle Schmerzen des Jahrhunderts zum Gegenstand hätte. Der lauteste Jubel aber eines
Verdiʼschen Finales oder einer Musardʼschen Quadrille hat uns nicht immer froh
gemacht.
5.24Der Laie und Gefühlsmensch fragt gerne, ob eine Musik lustig sei oder traurig – der Musiker, ob sie gut sei oder schlecht. Dieser kurze Schlagschatten weist deutlich, auf welch verschiedener Seite beide Parteien gegen die Sonne stehen.
5.25Wenn wir sagten, daß unser ästhetisches
Wohlgefallen an einem Tonstück sich nach dessen künstlerischem Werth richte, so
hindert dies nicht, daß ein einfacher Hornruf, ein Jodler im Gebirg uns mitunter zu
größerem Entzücken aufrufen kann, als die vortrefflichste Symphonie. In diesem Fall
tritt aber die Musik in die Reihe des Naturschönen. Nicht als
dieses bestimmte Gebilde in Tönen, sondern als diese bestimmte Art
von Naturwirkung kommt uns das Gehörte entgegen und kann übereinstimmend
mit dem landschaftlichen Charakter der Umgebung und der persönlichen Stimmung jeden
Kunstgenuß an Macht hinter sich zurücklassen. Es giebt also ein Uebergewicht an
Eindruck, welches das Elementarische über das Artistische erreichen kann, allein die
Aesthetik, als Lehre vom Kunstschönen, hat die Musik ledi
[109]glich von ihrer
künstlerischen Seite aufzufassen, also auch nur jene ihrer Wirkungen
anzuerkennen, welche sie, als menschliches Geistesproduct, durch eine bestimmte
Gestaltung jener elementarischen Factoren auf die reine Anschauung hervorbringt.
5.26Die nothwendigste Forderung einer ästhetischen Aufnahme der Musik ist aber, daß man ein Tonstück um seiner selbst willen höre, welches es nun immer sei und mit welcher Auffassung immer. Sobald die Musik nur als Mittel angewandt wird, eine gewisse Stimmung in uns zu fördern, accessorisch, decorativ, da hört sie auf, als reine Kunst zu wirken. Das Elementarische der Musik wird unendlich oft mit der künstlerischen Schönheit derselben verwechselt, also ein Theil für das Ganze genommen und dadurch namenlose Verwirrung verursacht. Hundert Aussprüche, die über „die Tonkunst“ gefällt werden, gelten nicht von dieser, sondern von der sinnlichen Wirkung ihres Materials.
5.27Wenn
Heinrich
der Vierte bei Shakespeare
(II. Theil. IV. 4.) sich sterbend Musik machen läßt, so geschieht es
wahrlich nicht, um die vorgetragene Composition anzuhören, sondern um träumend in
deren gegenstandlosem Element sich zu wiegen. Ebenso wenig werden
Porzia
und
Bassanio
(im „Kaufmann von Venedig“)
gestimmt sein, während der verhängnißvollen Kästchenwahl der bestellten Musik
Aufmerksamkeit zu schenken. J.
Strauß
hat reizende, ja geistreiche Musik in seinen bessern Walzern niederlegt, –
sie hört auf es zu sein, sobald man lediglich dabei im Tact tanzen will. In allen
diesen Fällen ist es ganz gleichgültig, welche Musik gemacht wird, wenn
sie nur den verlangten Grundcharakter hat. Wo aber Gleichgültigkeit gegen das
Individuelle eintritt, da herrscht Klangwirkung, nicht
Tonkunst. Nur derjenige, welcher nicht blos die allgemeine
Nachwirkung des
[110] Gefühls, sondern
die unvergeßliche, bestimmte Anschauung eben dieses Tonstücks mit sich
nimmt, hat es gehört und genossen. Jene erhebenden Eindrücke auf unser Gemüth und
ihre hohe psychische, wie physiologische Bedeutung dürfen nicht hindern, daß die
Kritik überall unterscheide, was bei einer vorhandenen Wirkung künstlerisch, was
elementarisch sei. Eine ästhetische Anschauung hat Musik nicht sowohl als Ursache,
denn als Wirkung aufzufassen, nicht als Producirendes, sondern als Product.
5.28Ebenso häufig als die elementarische Wirkung der Musik, wird deren maßhaltendes, Ruhe und Bewegung, Dissonanz und Concordanz vermittelndes, allgemein harmonisches Wesen mit der Tonkunst selbst verwechselt. Bei dem gegenwärtigen Stand der Tonkunst und Philosophie dürfen wir uns im Interesse beider die altgriechische Ausdehnung des Begriffs „Musik“ auf alle Wissenschaft und Kunst, so wie auf die Bildung sämmtlicher Seelenkräfte nicht gestatten. Die berühmte Apologie der Tonkunst im „Kaufmann von Venedig“ (V. 1.) 31 beruht auf solcher Verwechselung der Tonkunst selbst mit dem sie beherrschenden Geist des Wohlklangs, der Uebereinstimmung, des Maßes. Man könnte in ähnlichen Stellen ohne viel Aenderung statt „Musik“ auch „Poesie“, „Kunst“, ja „Schönheit“ überhaupt setzen. Daß aus der Reihe der Künste gerade die Musik hervorgeholt zu werden pflegt, verdankt sie der zweideutigen Macht ihrer Popularität. Gleich die weiteren Verse der angeführten Rede bezeugen dies, wo die zähmende Wirkung der Töne auf Bestien sehr gerühmt wird, die Musik also wieder einmal als van Aken erscheint.
[111]
5.29Die lehrreichsten Beispiele bieten Bettinaʼs „musikalische Explosionen“, wie Goethe ihre Briefe über Musik galant bezeichnete. Als das wahrhafte Prototyp aller vagen Schwärmerei über Musik, zeigt Bettina, wie ungebührlich man den Begriff dieser Kunst ausdehnen kann, um sich bequem darin zu tummeln. Mit der Prätension, von der Musik selbst zu sprechen, redet sie stets von der dunklen Einwirkung, welche diese auf ihr Gemüth übt, und deren üppige Traumseligkeit sie absichtlich von jedem forschenden Denken absperrt. In einer Composition sieht sie immer ein unerforschliches Naturerzeugniß, nicht ein menschliches Kunstwerk, und begreift daher Musik nie anders, als rein phänomenologisch. „Musik“, „musikalisch“ nennt Bettina unzählige Erscheinungen, die lediglich ein oder das andere Element der Tonkunst: Wohlklang, Rhythmus, Gefühlserregung mit ihr gemein haben. Auf diese Factoren kommt es aber gar nicht an, sondern auf die specifische Art, wie sie in künstlerischer Gestaltung als Tonkunst erscheinen. Es versteht sich von selbst, daß die musiktrunkene Dame in Goethe , ja in Christus große Musiker sieht, obwohl von Letzterem Niemand weiß, daß er einer, von Ersterem Jedermann, daß er keiner gewesen.
5.30Das Recht historischer Bildungen und poetischer Freiheit halten wir in Ehren. Wir begreifen, warum Aristophanes in den „Wespen“ einen feingebildeten Geist „den Weisen und Musikalischen“ nennt (σοφòυ ϰαι μουσιϰòυ), und finden den Ausdruck Graf Reinhardtʼs sinnig, Oehlenschläger habe „musikalische Augen.“ Wissenschaftliche Betrachtungen jedoch dürfen der Musik nie einen andern Begriff beilegen oder voraussetzen, als den ästhetischen, wenn nicht alle Hoffnung zur einstigen Feststellung dieser zitternden Wissenschaft aufgegeben werden soll.
[112]
6.1 & 6.2Das Verhältniß zur Natur ist für jedes Ding das Erste, das Ehrwürdigste und das Einflußreichste. Wer auch nur flüchtig an den Puls der Zeit gefühlt, der weiß, wie die Herrschaft dieser Erkenntniß in mächtigem Anwachsen begriffen ist. Durch die moderne Forschung geht ein so starker Zug nach der Naturseite aller Erscheinungen, daß selbst die abstractesten Untersuchungen merklich gegen die Methode der Naturwissenschaften gravitiren. Auch die Aesthetik, will sie kein bloßes Scheinleben führen, muß die knorrige Wurzel kennen, wie die zarte Faser, an welcher jede einzelne Kunst mit dem Naturgrund zusammenhängt. Und gerade für die musikalische Aesthetik erschließt das Verhältniß der Tonkunst zur Natur die wichtigsten Folgerungen. Die Stellung ihrer schwierigsten Materien, die Lösung ihrer controversesten Fragen hängt von der richtigen Würdigung dieses Zusammenhanges ab.
6.3Die Künste, – vorerst als empfangend, noch nicht als
rückwirkend betrachtet – stehen zu der umgebenden Natur in einer doppelten Beziehung.
Erstens durch das rohe, körperliche Material, aus welchem sie schaffen, dann durch
den schönen Inhalt, den sie für künstlerische Behandlung vorfinden. In beiden Punkten
verhält sich die Natur zu den Künsten als mütterliche Spenderin der ersten und
wichtigsten Mitgift.
[113] Es gilt den
Versuch, diese Ausstattung im Interesse der musikalischen Aesthetik rasch zu
besichtigen und zu prüfen, was die vernünftig und darum ungleich schenkende Natur
für
die Tonkunst gethan hat.
6.4Untersucht man, inwiefern die Natur Stoff für die Musik biete, so ergiebt sich, daß sie dies nur in dem untersten Sinn des rohen Materials thut, welches der Mensch zum Tönen zwingt. Das stumme Erz der Berge, das Holz des Waldes, der Thiere Fell und Gedärm sind Alles, was wir vorfinden, um den eigentlichen Baustoff für die Musik, den reinen Ton zu bereiten. Wir erhalten also vorerst nur Material zum Material: dies Letztere ist der reine, nach Höhe und Tiefe bestimmte, d. i. meßbare Ton. Er ist erste und unumgängliche Bedingung jeder Musik. Diese gestaltet ihn zu Melodie und Harmonie, den zwei Hauptfactoren der Tonkunst. Beide finden sich in der Natur nicht vor, sie sind Schöpfungen des Menschengeistes.
6.5Das geordnete Nacheinanderfolgen meßbarer Töne, welches wir Melodie nennen, vernehmen wir in der Natur auch nicht in den dürftigsten Anfängen; ihre successiven Schallerscheinungen entbehren der verständlichen Proportion und entziehen sich der Reduction auf unsere Scala. Die Melodie aber ist „der springende Punkt“, das Leben, die erste Kunstgestalt des Tonreichs, an sie ist jede weitere Bestimmtheit, alle Erfassung des Inhalts geknüpft.
6.6Ebensowenig wie Melodie kennt die Natur, diese
großartige Harmonie aller Erscheinungen, Harmonie im musikalischen Sinn,
als Zusammenklingen bestimmter Töne. Hat Jemand in der Natur einen Dreiklang gehört,
einen Sext- oder Septimaccord? Wie die Melodie, so war auch (nur in
[114] viel langsamerem
Fortschreiten) die Harmonie ein Erzeugniß menschlichen Geistes.
6.7Die Griechen kannten keine Harmonie, sondern sangen in der Octave oder im Einklang, wie noch heutzutage jene asiatischen Völkerschaften, bei welchen überhaupt Gesang angetroffen wird. Der Gebrauch der Dissonanzen (wozu auch Terz und Sext gehörten) begann allmälig vom 12. Jahrhundert an, und bis ins 15. beschränkte man sich bei Ausweichungen auf die Octave. Jedes der Intervalle, die jetzt unserer Harmonie dienstbar sind, mußte einzeln gewonnen werden, und oft reichte ein Jahrhundert nicht hin für solch kleine Errungenschaft. Das kunstgebildetste Volk des Alterthums, so wie die gelehrtesten Tonsetzer des früheren Mittelalters konnten nicht, was unsere Hirtinnen auf der entlegensten Alpe: in Terzen singen. Durch die Harmonie aber ist der Tonkunst nicht etwa ein neues Licht aufgegangen, sondern es ist zum erstenmal Tag geworden. „Die ganze Tonschöpfung wurde von dieser Zeit an erst ausgeboren.“ (Nägeli.)
6.8Harmonie und Melodie fehlen also in der Natur. Nur
ein drittes Element in der Musik, dasjenige, von dem die beiden ersten getragen
werden, existirt schon vor und außer dem Menschen: der Rhythmus. Im
Galopp des Pferdes, dem Klappern der Mühle, dem Gesang der Amsel und Wachtel äußert
sich eine Einheit, zu welcher aufeinanderfolgende Zeittheilchen sich zusammenfassen
und ein anschauliches Ganze bilden. Nicht alle, aber viele Lautäußerungen der Natur
sind rhythmisch. Und zwar herrscht in ihr das Gesetz des zweitheiligen
Rhythmus, als Hebung und Senkung, Anlauf und Auslauf. Was diesen Naturrhythmus von
der menschlichen Musik trennt, muß alsbald auffallen. In der Musik giebt
es nämlich keinen isolirten Rhythmus als solchen,
[115] sondern nur
Melodie und Harmonie, welche rhythmisch sich äußert. In der Natur dagegen trägt der
Rhythmus weder Melodie noch Harmonie, sondern nur unmeßbare Luftschwingungen. Der
Rhythmus, das einzige musikalische Urelement in der Natur, ist auch das erste, so
im
Menschen erwacht, im Kinde, im Wilden am frühsten sich entwickelt. Wenn die
Südsee-Insulaner mit Metallstücken und Holzstäben rhythmisch klappern und dazu ein
unfaßliches Geheul ausstoßen, so ist das natürliche Musik, denn es ist
eben keine Musik. Was wir aber einen Tiroler Bauer singen hören, zu welchem anscheinend
keine Spur von Kunst gedrungen, ist durchaus künstliche Musik. Der Mann
meint freilich, er singe wie ihm der Schnabel gewachsen ist: aber damit dies möglich
wurde, mußte die Saat von Jahrhunderten wachsen.
6.9Wir hätten somit die nothwendigen
Elementarbestandtheile unserer Musik betrachtet und gefunden, daß der Mensch von der
ihn umgebenden Natur nicht musiciren lernte. In welcher Art und Folge sich unser
heutiges Tonsystem ausgebildet hat, lehrt die Geschichte der Tonkunst. Wir haben
diese Nachweisung vorauszusetzen und nur ihr Ergebniß festzuhalten, daß Melodie und
Harmonie, daß unsere Intervallenverhältnisse und Tonleiter, die Theilung von Dur und
Moll nach der verschiedenen Stellung des Halbtons, endlich die schwebende Temperatur,
ohne welche unsere (europäisch-abendländische) Musik unmöglich wäre, langsam und allmälig
entstandene Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. Die Natur hat dem Menschen
nur
die Organe und die Lust zum Singen mitgegeben, dazu die Fähigkeit, sich auf Grundlage
der einfachsten Verhältnisse nach und nach ein Tonsystem zu bilden. Nur diese
einfachsten Verhältnisse (Dreiklang, harmonische Progression) werden als unwandelbare
Grundpfeiler jedem
[116] künftigen
Weiterbau bleiben. – Man hüte sich vor der Verwechselung, als ob dieses
(gegenwärtige) Tonsystem selbst nothwendig in der Natur läge. Die
Erfahrung, daß selbst Naturalisten heutzutage mit den musikalischen Verhältnissen
unbewußt und leicht hantieren wie mit angeborenen Kräften, die sich von selbst
verstehen, stempelt die herrschenden Tongesetze keineswegs zu Naturgesetzen; es ist
dies bereits Folge der unendlich verbreiteten musikalischen Cultur.
Hand
bemerkt ganz richtig, daß darum auch unsere Kinder in der Wiege schon besser
singen, als erwachsene Wilde.
„Läge die Tonfolge der Musik in der Natur fertig von, so sänge auch jeder
Mensch und immer rein.“
32
6.10Wenn man unser Tonsystem ein „künstliches“ nennt, so gebraucht man dies Wort nicht in dem raffinirten Sinn einer willkürlichen conventionellen Erfindung. Es bezeichnet blos ein Gewordenes im Gegensatz zum Erschaffenen.
6.11Dies übersieht
Hauptmann
, wenn er den Begriff eines künstlichen Tonsystems einen
„durchaus nichtigen“
nennt,
„indem die Musiker eben so wenig haben Intervalle bestimmen und ein
Tonsystem erfinden können, als die Sprachgelehrten die Worte der Sprache und
die Sprachfügung erfunden haben.“
33
[117]
Gerade die Sprache ist in demselben Sinne wie die Musik ein künstliches Erzeugniß,
indem beide nicht in der äußeren Natur vorgebildet liegen, sondern allmälig geworden
sind und erlernt werden müssen. Nicht die Sprachgelehrten, aber die Nationen bilden
sich ihre Sprache nach ihrem Charakter und ändern sie vervollkommnend immerfort. So
haben auch die „Tongelehrten“ unsere Musik nicht „errichtet“, sondern lediglich das
fixirt und begründet, was der allgemeine, musikalisch befähigte Geist mit
Vernünftigkeit, aber nicht mit Nothwendigkeit unbewußt ersonnen hatte. 34 Aus diesem Proceß ergiebt sich, daß auch unser
Tonsystem im Zeitverlauf neue Bereicherungen und Veränderungen erfahren wird. Doch
sind innerhalb der gegenwärtigen Gesetze noch so vielfache und große Evolutionen
möglich, daß eine Aenderung im Wesen des Systems sehr fernliegend
erscheinen dürfte. Bestände z. B. die Bereicherung in der „Emancipation der
Vierteltöne“, wovon eine moderne Schriftstellerin schon Andeutungen bei
Chopin
finden will 35 , so würde
Theorie, Compositionslehre und Aesthetik der Musik eine total andere. Der
musikalische Theoretiker kann daher gegenwärtig den Ausblick auf diese Zukunft noch
kaum anders frei lassen, als durch die einfache Anerkennung ihrer Möglichkeit.
6.12Unserem Ausspruch, es gebe keine Musik in der
Natur, wird man den Reichthum mannigfaltiger Stimmen einwenden, welche die Natur so
wunderbar beleben. Sollte das Rieseln
[118] des Baches, das
Klatschen der Meereswellen, der Donner der Lawinen, das Stürmen der Windsbraut nicht
Anlaß und Vorbild der menschlichen Musik gewesen sein? Hatten all die lispelnden,
pfeifenden, schmetternden Laute mit unserem Musikwesen nichts zu schaffen? Wir müssen
in der That mit Nein antworten. Alle diese Aeußerungen der Natur sind lediglich
Schall und Klang, d. h. in ungleichen Zeittheilen
aufeinander folgende Luftschwingungen. Höchst selten und dann nur isolirt bringt die
Natur einen Ton hervor, d. i. einen Klang von bestimmter, meßbarer Höhe
und Tiefe. Töne sind aber die Grundbedingungen aller Musik. Mögen diese
Klangäußerungen der Natur noch so mächtig oder reizend das Gemüth anregen, sie sind
keine Stufe zur menschlichen Musik, sondern lediglich elementarische Andeutungen
einer solchen. Selbst die reinste Erscheinung des natürlichen Tonlebens, der
Vogelgesang, steht zur menschlichen Musik in keinem Bezug, da er unserer Scala nicht
angepaßt werden kann. Auch das Phänomen der Naturharmonie, jedenfalls die einzige
und
unumstößliche Naturgrundlage, auf welcher die Hauptverhältnisse unserer Musik
beruhen, – ist auf seine richtige Bedeutung zurückzuführen. Die harmonische
Progression erzeugt sich auf der gleichbesaiteten Aeolsharfe von selbst, gründet also
auf einem Naturgesetz, allein das Phänomen selbst hört man nirgend von der Natur
unmittelbar erzeugt. Sobald nicht auf einem musikalischen Instrument ein bestimmter,
meßbarer Grundton angeschlagen wird, erscheinen auch keine sympathischen Nebentöne,
keine harmonische Progression. Der Mensch muß also fragen, damit die Natur Antwort
gebe. Die Erscheinung des Echo erklärt sich noch einfacher. Es ist merkwürdig, wie
selbst tüchtige Schriftsteller sich von dem Gedanken einer eigentlichen „Musik“ in
der
[119]
Natur nicht losmachen können. Selbst
Hand
, von dem wir absichtlich früher Beispiele citirten, welche seine richtige
Einsicht in das incommensurable, kunstunfähige Wesen der natürlichen
Schallerscheinungen darthun, bringt ein eigenes Kapitel
„von der Musik der Natur“
, deren Schallerscheinungen
„gewissermaßen“
auch Musik genannt werden müssen. Eben so Krüger. 36 Wo es sich aber um
Principienfragen handelt, da giebt es kein „gewissermaßen“; was wir in der Natur
vernehmen, ist entweder Musik, oder es ist keine Musik. Das
entscheidende Moment kann nur in die Meßbarkeit des Tons gelegt werden.
Hand
legt den Nachdruck überall auf die
„geistige Beseelung“,
„den Ausdruck inneren Lebens, innerer Empfindung“,
„die Kraft der Selbstthätigkeit, wodurch unmittelbar ein Inneres zur
Aussprache gelangt.“
Nach diesem Princip müßte der Vogelsang Musik genannt werden, die mechanische
Spieluhr hingegen nicht; während gerade das Entgegengesetzte wahr ist.
6.13Die „Musik“ der Natur und die Tonkunst des Menschen sind zwei verschiedene Gebiete. Der Uebergang von der ersten zur zweiten geht durch die Mathematik. Ein wichtiger, folgenreicher Satz. Freilich darf man ihn nicht so denken, als hätte der Mensch seine Töne durch absichtlich angestellte Berechnungen geordnet; es geschah dies vielmehr durch unbewußte Anwendung ursprünglicher Größen- und Verhältnißvorstellungen, durch ein verborgenes Messen und Zählen, dessen Gesetzmäßigkeit erst später die Wissenschaft constatirte.
6.14Dadurch, daß in der Musik Alles commensurabel sein
muß, in den Naturlauten aber nichts commensurabel ist, stehen diese beiden
Schallreiche unvermittelt neben einander. Die Natur giebt uns nicht das künstlerische
Material eines fertigen,
[120] vorgebildeten
Tonsystems, sondern nur den rohen Stoff der Körper, die wir der Musik dienstbar
machen. Nicht die Stimmen der Thiere, sondern ihre Gedärme sind uns wichtig, und das
Thier, dem die Musik am meisten verdankt, ist nicht die Nachtigall, sondern das
Schaf.
6.15Nach dieser Untersuchung, welche für das Verhältniß des Musikalisch-Schönen nur ein Unterbau, aber ein nothwendiger war, heben wir uns eine Stufe höher, auf eigentlich ästhetisches Gebiet.
6.16Der meßbare Ton und das geordnete Tonsystem sind erst, womit der Componist schafft, nicht was er schafft. Wie Holz und Erz nur „Stoff“ waren für den Ton, so ist der Ton nur „Stoff“ (Material) für die Musik. Es giebt noch eine dritte und höhere Bedeutung von „Stoff“, Stoff im Sinne des behandelten Gegenstandes, der dargestellten Idee, des Sujets. Woher nimmt der Componist diesen Stoff? Woher erwächst einer bestimmten Tondichtung der Inhalt, der Gegenstand, welcher sie als Individuum hinstellt und von andern unterscheidet?
6.17Die Poesie, die Malerei, die Sculptur haben ihren unerschöpflichen Quell von Stoffen in der uns umgebenden Natur. Der Künstler findet sich durch irgend ein Naturschönes angeregt, es wird ihm Stoff zu eigner Hervorbringung.
6.18In den bildenden Künsten ist das
Vorschaffen der Natur am auffallendsten. Der Maler könnte keinen Baum, keine Blume
zeichnen, wenn sie nicht schon in der äußeren Natur vorgebildet wären; der Bildhauer
keine Statue, ohne die wirkliche Menschengestalt zu kennen und zum Muster zu nehmen.
Dasselbe gilt von erfundenen Stoffen. Sie können nie im strengen Sinn „erfunden“
sein. Besteht nicht die
[121] „ideale“
Landschaft aus Felsen, Bäumen, Wasser und Wolkenzügen, lauter Dingen, die in der
Natur vorgebildet sind? Der Maler kann nichts malen, was er nicht
gesehen und genau beobachtet hat. Gleichviel ob er eine Landschaft
malt oder ein Genrebild, ein Historiengemälde erfindet. Wenn uns Zeitgenossen einen
„Huß“,
„Luther“,
„Egmont“
malen, so haben sie ihren Gegenstand nie wirklich gesehen aber für jeden Bestandtheil
desselben müssen sie das Vorbild genau der Natur entnommen haben. Der Maler muß nicht
diesen Mann, aber er muß viele Männer gesehen haben, wie sie sich
bewegen, stehen, gehen, beleuchtet werden, Schatten werfen; der gröbste Vorwurf wäre
gewiß die Unmöglichkeit oder Naturwidrigkeit seiner Figuren.
6.19Dasselbe gilt von der Dichtkunst, welche ein noch weit größeres Feld naturschöner Vorbilder hat. Die Menschen und ihre Handlungen, Gefühle, Schicksale, wie sie uns durch eigene Wahrnehmungen oder durch Tradition – denn auch diese gehört zu dem Vorgefundenen, dem Dichter Dargebotenen – gebracht werden, sind Stoff für das Gedicht, die Tragödie, den Roman. Der Dichter kann keinen Sonnenaufgang, kein Schneefeld beschreiben, keinen Gefühlszustand schildern, keinen Bauer, Soldaten, Geizigen, Verliebten auf die Bühne bringen, wenn er nicht die Vorbilder dazu in der Natur gesehen und studirt oder durch richtige Traditionen so in seiner Phantasie belebt hat, daß sie die unmittelbare Anschauung ersetzen.
6.20Stellen wir nun diesen Künsten die Musik entgegen, so erkennen wir, daß sie ein Vorbild, einen Stoff für ihre Werke nirgend vorfindet.
6.21 Es giebt kein Naturschönes für die Musik.
6.22Dieser Unterschied zwischen der Musik und den
übrigen
[122] Künsten (nur die Baukunst findet gleichfalls kein Vorbild in der
Natur) ist tiefgehend und folgenschwer.
6.23Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein stetes (inneres oder wirkliches) Nachzeichnen, Nachformen, – etwas nachzumusiciren giebt es in der Natur nicht. Die Natur kennt keine Sonate, keine Ouvertüre, kein Rondo. Wohl aber Landschaften, Genrebilder, Idyllen, Trauerspiele. Der aristotelische Satz von der Naturnachahmung in der Kunst, welcher noch bei den Philosophen des vorigen Jahrhunderts gang und gäbe war, ist längst berichtigt und bedarf, bis zum Ueberdruß abgedroschen, hier keiner weiteren Erörterung. Nicht sklavisch nachbilden soll die Kunst die Natur, sie hat sie umzubilden. Der Ausdruck zeigt schon, daß vor der Kunst etwas da sein mußte, was umgebildet wird. Dies ist eben das von der Natur dargebotene Vorbild, das Naturschöne. Der Maler findet sich von einer reizenden Landschaft, einer Gruppe, einem Gedicht, der Dichter von einer historischen Begebenheit, einem Erlebniß, zur künstlerischen Darstellung des Vorgefundenen veranlaßt. Bei welcher Naturbetrachtung könnte aber der Tonsetzer jemals ausrufen: das ist ein prächtiges Vorbild für eine Ouvertüre, eine Symphonie! Der Componist kann gar nichts umbilden, er muß Alles neu erschaffen. Was der Maler, der Dichter in Betrachtung des Naturschönen findet, das muß der Componist durch Concentration seines Innern herausarbeiten. Er muß der guten Stunde warten, wo es in ihm anfängt zu singen und zu klingen: da wird er sich versenken und aus sich heraus etwas schaffen, was in der Natur nicht seines Gleichen hat, und daher auch, ungleich den andern Künsten, geradezu nicht von dieser Welt ist.
6.24Es unterliegt keineswegs eine parteiische
Begriffsbe
[123]stimmung, wenn
wir zu dem „Naturschönen“ für den Maler und Dichter den Menschen
hinzurechneten, für den Musiker hingegen den kunstlos aus der Menschenbrust
quellenden Gesang verschwiegen. Der singende Hirt ist nicht Object, sondern schon
Subject der Kunst. Besteht sein Lied aus meßbaren, geordneten, wenn noch so einfachen
Tonfolgen, so istʼs ein Product des Menschengeistes, ob es nun ein Hirtenjunge
erfunden hat oder Beethoven.
6.25Wenn daher ein Componist wirkliche Nationalmelodien benützt, so ist dies kein Naturschönes, denn man muß bis zu Einem zurückgehen, der sie erfunden hat, – woher hatte sie dieser? Fand er ein Vorbild dafür in der Natur? Dies ist die berechtigte Frage. Die Antwort kann nur verneinend lauten. Der Volksgesang ist kein Vorgefundenes, kein Naturschönes, sondern die erste Stufe wirklicher Kunst, naive Kunst. Er ist für die Tonkunst ebensowenig ein von der Natur erzeugtes Vorbild, als die mit Kohle an Wachtstuben und Schuttböden geschmierten Blumen und Soldaten natürliche Vorbilder für die Malerei sind. Beides ist menschliches Kunstproduct. Für die Kohlenfiguren lassen die Vorbilder in der Natur sich nachweisen, für den Volksgesang nicht; man kann nicht hinter ihn zurückgehen.
6.26Zu einer sehr gangbaren Verwirrung gelangt man,
wenn man den Begriff des „Stoffs“ für die Musik in einem anwandten, höheren Sinne
nimmt und darauf hinweist, daß Beethoven wirklich eine Ouvertüre zu Egmont, – oder damit das Wörtchen „zu“ nicht an
dramatische Zwecke mahne, – eine Musik „Egmont“ geschrieben hat, Berlioz einen „König Lear“, Mendelssohn eine „Melusina.“ Haben diese Erzählungen, fragt man, dem
Tondichter nicht ebenso den Stoff geliefert, wie dem Dichter? Keineswegs. Dem Dichter
[124]
sind diese Gestalten wirkliches Vorbild, das er umbildet, dem Componisten bieten sie
blos Anregung, und zwar poetische Anregung. Das Naturschöne
für den Tondichter müßte ein Hörbares sein, wie es für den Maler ein
Sichtbares, für den Bildhauer ein Greifbares ist. Nicht die Gestalt Egmontʼs, nicht seine
Thaten, Erlebnisse, Gesinnungen sind Inhalt der Beethovenschen Ouvertüre,
wie dies im Bilde „Egmont“, im Drama „Egmont“ der Fall ist. Der
Inhalt der Ouvertüre sind Tonreihen, welche der Componist vollkommen
frei nach musikalischen Denkgesetzen aus sich erschuf. Sie sind ganz unabhängig und
selbstständig von der Vorstellung „Egmont“, mit welcher sie lediglich die poetische
Phantasie des Tonsetzers in Zusammenhang bringt. Dieser Zusammenhang ist so
willkürlich, daß niemals ein Hörer des Musikstückes auf dessen angeblichen Gegenstand
verfallen würde, wenn nicht der Autor durch die ausdrückliche Benennung
unserer Phantasie im vorhinein die bestimmte Richtung octroyirte.
Berliozʼ großartige Ouvertüre hängt mit der Vorstellung „König Lear“
ebensowenig zusammen, als ein Straußʼscher Walzer. Man kann das nicht scharf genug
aussprechen, da hierüber die irrigsten Ansichten allgemein sind. Erst mit dem
Augenblick erscheint der Straußʼsche Walzer der Vorstellung „König Lear“ widerstrebend, die Berliozʼsche Ouvertüre
hingegen entsprechend, wo wir diese Musiken mit jener Vorstellung
vergleichen. Allein eben zu dieser Vergleichung existirt kein innerer
Anlaß, sondern nur eine ausdrückliche Nöthigung vom Autor. Durch eine bestimmte
Ueberschrift werden wir zur Vergleichung des Musikstückes mit einem außer ihm
stehenden Object genöthigt, wir müssen es mit einem bestimmten Maßstab messen,
welcher nicht der musikalische ist.
6.27Man darf dann vielleicht sagen, Beethovenʼs Ouvertüre
[125] „Prometheus“ sei zu wenig großartig für
diesen Vorwurf. Allein nirgend kann man ihr von Innen her beikommen, nirgend ihr eine
musikalische Lücke oder Mangelhaftigkeit nachweisen. Sie ist vollkommen, weil sie
ihren musikalischen Inhalt vollständig ausführt; ihr
dichterisches Thema analog auszuführen ist eine zweite, ganz
verschiedene Forderung. Diese entsteht und verschwindet mit dem Titel. Ueberdies kann
ein solcher Anspruch an ein Tonwerk mit bestimmter Ueberschrift nur auf gewisse
charakteristische Eigenschaften lauten: daß die Musik erhaben, düster oder niedlich,
froh klinge, von einfacher Exposition zu betrübtem oder freudigem Abschluß sich
entwickle u. s. w. An die Dichtkunst oder Malerei stellt der Stoff die Forderung
einer bestimmten concreten Individualität, nicht bloßer Eigenschaften.
Darum wäre es recht wohl denkbar, daß Beethovenʼs Ouvertüre zu „Egmont“ allenfalls „Wilhelm Tell“
oder „Jeanne dʼArc“ überschrieben sein könnte. Das Drama
Egmont, das
Bild
Egmont
lassen höchstens die Verwechslung zu, daß dies ein anderes Individuum in den gleichen
Verhältnissen, nicht aber, daß es ganz andere Verhältnisse sind.
6.28Man sieht, wie eng das Verhältniß der Musik zum Naturschönen mit der ganzen Frage von ihrem Inhalt zusammenhängt.
6.29Noch einen Einwand wird man aus der musikalischen
Literatur herholen, um der Musik ein Naturschönes zu vindiciren. Beispiele nämlich,
daß Tonsetzer aus der Natur nicht blos den poetischen Anlaß geschöpft (wie in obigen
Historien), sondern wirklich hörbare Aeußerungen ihres Tonlebens nachgebildet haben:
der Hahnenruf in
Haydnʼs
Jahreszeiten, Kuckuk, Nachtigall und
Wachtelschlag in
Spohrʼs „Weihe der Töne“
und
Beethovenʼs
Pastoralsymphonie. Allein
[126] wenn wir gleich
diese Nachahmung hören und in einem musikalischen Kunstwerk
hören, so haben sie doch darin keine musikalische Bedeutung, sondern eine poetische.
Es soll uns der Hahnenschrei nicht als schöne Musik, oder überhaupt als
Musik vorgeführt, sondern nur der Eindruck zurückgerufen werden, welcher mit jener
Naturerscheinung zusammenhängt.
„Ich habe Haydn’s Schöpfung – gesehen beinahe“
, schreibt Jean Paul
nach einer Aufführung dieses Tonwerks an
Thieriot
. Allgemein bekannte Stichwörter, Citate sind es, welche uns erinnern: es ist
früher Morgen, laue Sommernacht, Frühling. Ohne diese beschreibende Tendenz hat nie
ein Componist Naturstimmen zu wirklichen musikalischen Zwecken verwenden können. Ein
Thema können alle Naturstimmen der Erde zusammen nicht hervorbringen,
eben weil sie keine Musik sind, und bedeutungsvoll erscheint es, daß die
Tonkunst von der Natur nur Gebrauch machen kann, wenn sie in die Malerei pfuscht.
[127]
7.1 Hat die Musik einen Inhalt?
7.2So lautet, seit man gewohnt ist, über unsere Kunst nachzudenken, ihre hitzigste Streitfrage. Sie wurde für und wider entschieden. Gewichtige Stimmen behaupten die Inhaltlosigkeit der Musik, sie gehören beinahe durchaus den Philosophen: Rousseau , Kant , Hegel , Herbart , 37 Kahlert u. A. Von den zahlreichen Physiologen, welche diese Ueberzeugung unterstützen, sind uns die durch musikalische Bildung hervorragenden Denker Lotze und Helmholtz die wichtigsten. Die ungleich zahlreichern Kämpfer fechten für den Inhalt der Tonkunst; es sind die eigentlichen Musiker unter den Schriftstellern, und das Gros der allgemeinen Ueberzeugung steht zu ihnen.
7.3Fast mag es seltsam erscheinen, daß gerade
Diejenigen, welchen die technischen Bestimmungen der Musik vertraut sind, sich nicht
von dem Irrthum einer diesen Bedingungen widersprechenden Ansicht lossagen mögen,
die
man eher den abstracten Philosophen verzeihen könnte. Das kommt daher, weil es vielen
Musikschriftstellern in diesem Punkt mehr um die vermeintliche Ehre ihrer Kunst, als
um die Wahrheit zu
[128] thun ist. Sie
befehden die Lehre von der Inhaltlosigkeit der Musik nicht wie Meinung gegen Meinung,
sondern wie Ketzerei gegen Dogma. Die gegnerische Ansicht erscheint ihnen als
unwürdiges Mißverstehen, als grober frevelnder Materialismus. „Wie, die Kunst, die
uns hoch erhebt und begeistert, der so viele edle Geister ihr Leben gewidmet, die
den
höchsten Ideen dienstbar werden kann, sie sollte mit dem Fluch der Inhaltlosigkeit
beladen sein, bloßes Spielwerk der Sinne, leeres Geklingel!?“ Mit derlei vielgehörten
Ausrufungen, wie sie meist koppelweise ausgelassen werden, obwohl ein Satz zum andern
nicht gehört, wird nichts widerlegt noch bewiesen. Es handelt sich hier um keinen
Ehrenpunkt, kein Parteizeichen, sondern einfach um die Erkenntniß des Wahren, und
zu
dieser zu gelangen, muß man sich vor Allem über die Begriffe klar sein, die man
bestreitet.
7.4Die Verwechslung der Begriffe: Inhalt,
Gegenstand, Stoff ist es, was in der Materie so viel
Unklarheit verursacht hat, und noch immer veranlaßt, da Jeder für denselben Begriff
eine andere Bezeichnung gebraucht, oder mit dem gleichen Wort verschiedene
Vorstellungen verbindet. „Inhalt“ im ursprünglichen und eigentlichen
Sinne ist: was ein Ding enthält, in sich hält. In dieser Bedeutung sind
die Töne, aus welchen ein Musikstück besteht, welche als dessen Theile
es zum Ganzen bilden, der Inhalt desselben. Daß sich mit dieser Antwort Niemand
zufrieden stellen mag, sie als etwas ganz Selbstverständliches abfertigend, hat
seinen Grund darin, daß man gemeiniglich „Inhalt“ mit „Gegenstand“ verwechselt. Bei
der Frage nach dem „Inhalt“ der Musik hat man die Vorstellung von
„Gegenstand“ (Stoff, Sujet) im Sinne, welchen man als die Idee, das
Ideale, den Tönen als „materiellen Bestandtheilen“ geradezu entgegensetzt. Einen
[129] Inhalt
in dieser Bedeutung, einen Stoff im Sinne des behandelten Gegenstandes
hat die Tonkunst in der That nicht.
Kahlert
stützt sich mit Recht nachdrücklich darauf, daß sich von der Musik nicht, wie
vom Gemälde, eine
„Wortbeschreibung“
liefern läßt (Aesth. 380), wenngleich seine weitere Annahme irrig ist, daß solche
Wortbeschreibung jemals eine
„Abhülfe für den fehlenden Kunstgenuß“
bieten könne. Aber eine erklärende Verständigung, um was es sich handelt, kann
sie bieten. Die Frage nach dem „Was“ des musikalischen Inhaltes müßte sich nothwendig
in Worten beantworten lassen, wenn das Musikstück wirklich einen „Inhalt“ (einen
Gegenstand) hätte. Denn ein „unbestimmter Inhalt“, den sich Jedermann
als etwas Anderes denken kann, der sich nur fühlen, nicht in Worten wiedergeben läßt,
ist eben kein Inhalt in der genannten Bedeutung.
7.5Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, diese haben keinen andern Inhalt als sich selbst. Wie erinnern abermals an die Baukunst und den Tanz, die uns gleichfalls schöne Verhältnisse ohne bestimmten Inhalt entgegenbringen. Mag nun die Wirkung eines Tonstücks Jeder nach seiner Individualität anschlagen und benennen, der Inhalt desselben ist keiner, als eben die gehörten Tonformen, denn die Musik spricht nicht blos durch Töne, sie spricht auch nur Töne.
7.6
Krüger
, der geist- und kenntnißreichste Verfechter des musikalischen „Inhalts“ gegen
Hegel und
Kahlert,
behauptet, die Musik gebe blos eine andere Seite desselben Inhalts,
welcher den übrigen Künsten, z. B. der Malerei zusteht.
„Jede plastische Gestalt“
, sagt er (Beiträge, 131),
„ist eine ruhende: sie giebt nicht die Handlung, sondern die gewesene
Handlung oder das Seiende. Also nicht: Apollo überwindet, sagt das Gemälde aus, sondern es zeigt den
Ueberwinder, den zornigen Kämpfer“
etc. Hingegen
„die Musik giebt zu jenen stillstehenden
[130]
plastischen Substantiven das Verbum, die Thätigkeit, das innere Wogen hinzu,
und wenn wir dort als den wahren ruhenden Inhalt erkannt haben: Zürnend,
Liebend, so erkennen wir hier nicht minder den wahren bewegenden Inhalt: Zürnt,
Liebt, Rauscht, Wogt, Stürmt.“
Letzteres ist nur zur Hälfte richtig: „rauschen, wogen und stürmen“ kann die
Musik, aber „zürnen“ und „lieben“ kann sie nicht. Das sind schon hineingefühlte
Leidenschaften. Wir müssen hier auf unser zweites Kapitel zurückweisen.
Krüger
fährt fort, der Bestimmtheit des gemalten Inhalts die des
musicirten an die Seite zu stellen. Er sagt:
„Der Bildner stellt Orest von Furien verfolgt
dar: es erscheint auf der Außenfläche seines Leibes, in Auge, Mund, Stirn und
Haltung der Ausdruck des Flüchtigen, Düstern, Verzweifelten, neben ihm die
Gestalten des Fluchs, die ihn beherrschen, in gebietender, furchtbarer Hoheit,
ebenfalls äußerlich in verharrenden Umrissen, Gesichtszügen, Stellungen. Der
Tondichter stellt Orest den Verfolgten nicht
im beruhenden Umriß hin, sondern nach der Seite, die dem Bildner fehlt: er
singt das Grausen und Beben seiner Seele, die fliehend kämpfende
Regung“
u. s. f. Dies ist, meines Erachtens, ganz falsch. Der Tonkünstler kann den
Orestes weder so noch so, er kann ihn gar
nicht darstellen.
7.7Man wende nicht ein, daß ja auch die bildenden
Künste uns die bestimmte, historische Person nicht zu geben vermögen, und wir die
gemalte Gestalt nicht als dieses Individuum erkennen würden, brächten
wir nicht die Kenntniß des Historisch-Thatsächlichen hinzu. Freilich ist es nicht
Orest
, der Mann mit diesen Erlebnissen und bestimmten biographischen
Momenten; diesen kann nur der Dichter darstellen, weil nur er zu
erzählen vermag. Allein das Bild „Orest“
zeigt uns
[131] doch
unverkennbar einen Jüngling mit edlen Zügen, in griechischem Gewand, Angst und Seelenpein in den
Mienen und Bewegungen, es zeigt uns die furchtbaren Gestalten der Rachegöttinnen,
ihn
verfolgend und quälend. Dies Alles ist klar, unzweifelhaft, sichtlich erzählbar –
ob
nun der Mann Orest heiße oder anders. Nur die Motive: daß der Jüngling
einen Muttermord begangen u. s. w., sind nicht ausdrückbar. Was kann die Tonkunst
jenem sichtbaren (vom Historischen abstrahirten) Inhalt des Gemäldes an Bestimmtheit
entgegensetzen? Verminderte Septimaccorde, Mollthemen, wogende Bässe u. dgl., kurz
musikalische Formen, welche eben so gut ein Weib, anstatt eines Jünglings, einen von
Häschern anstatt von Furien Verfolgten, einen Eifersüchtigen, Rachesinnenden, einen
von körperlichem Schmerz Gequälten, kurz alles Erdenkliche bedeuten können, wenn man
schon das Tonstück etwas will bedeuten lassen.
7.8Es bedarf wohl auch nicht der ausdrücklichen Berufung auf den früher begründeten Satz, daß, wenn vom Inhalt und der Darstellungsfähigkeit der Tonkunst die Rede ist, nur von der reinen Instrumentalmusik ausgegangen werden darf. Niemand wird dies so weit vergessen, uns z. B. den Orestes in Gluckʼs „Iphigenia“ einzuwenden. Diesen „Orestes“ giebt ja nicht der Componist: die Worte des Dichters, Gestalt und Mimik des Darstellers, Costüm und Deocrationen des Malers – dies istʼs, was den Orestes fertig hinstellt. Was der Musiker hinzugiebt, ist vielleicht das Schönste von Allem, aber es ist gerade das Einzige, was nichts mit dem wirklichen Orest zu schaffen hat: Gesang.
7.9
Lessing
hat mit wunderbarer Klarheit auseinandergesetzt, was der Dichter und was der
bildende Künstler aus der Geschichte des Laokoon zu machen vermag. Der
Dichter, durch das
[132] Mittel der
Sprache, giebt den historischen, individuell bestimmten Laokoon, der Maler und Bildhauer hingegen einen Greis mit zwei Knaben (von
diesem bestimmten Alter, Aussehen, Costüm u. s. f.) von den
furchtbaren Schlangen umwunden, in Mienen, Stellung und Geberden die Qual des
nahenden Todes ausdrückend. Vom Musiker sagt Lessing nichts. Ganz
begreiflich, denn Nichts ist es eben, was dieser aus dem Laokoon
machen kann.
7.10Wir haben bereits angedeutet, wie eng die Frage nach dem Inhalt der Tonkunst mit deren Stellung zum Naturschönen zusammenhängt. Der Musiker findet nicht das Vorbild für seine Kunst, welches den andern Künsten die Bestimmtheit und Erkennbarkeit ihres Inhalts gewährleistet. Eine Kunst, der das vorbildende Naturschöne abgeht, wird im eigentlichen Sinne körperlos sein. Das Urbild ihrer Erscheinungsform begegnet uns nirgend, fehlt daher in dem Kreis unserer gesammelten Begriffe. Es wiederholt keinen bereits bekannten, benannten Gegenstand, darum hat es für unser in bestimmte Begriffe gefaßtes Denken keinen nennbaren Inhalt.
7.11Vom Inhalt eines Kunstwerkes kann
eigentlich nur da die Rede sein, wo man diesen Inhalt einer Form
entgegenhält. Die Begriffe „Inhalt“ und „Form“ bedingen und ergänzen einander. Wo
nicht eine Form von einem Inhalt dem Denken trennbar erscheint, da existirt auch kein
selbstständiger Inhalt. In der Musik aber sehen wir Inhalt und Form, Stoff und
Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit verschmolzen. Dieser
Eigenthümlichkeit der Tonkunst, Form und Inhalt ungetrennt zu besitzen, stehen die
dichtenden und bildenden Künste schroff gegenüber, welche denselben Gedanken,
dasselbe Ereigniß in verschiedener Form darstellen können. Aus der Geschichte des
Wilhelm Tell machte
Florian
einen historischen Roman,
Schiller
ein Drama,
[133]
Goethe
begann sie als Epos zu bearbeiten. Der Inhalt ist überall derselbe, in Prosa
aufzulösende, erzählbare, erkennbare, die Form ist verschieden. Die dem Meer
entsteigende Aphrodite ist der gleiche Inhalt unzähliger gemalter und
gemeißelter Kunstwerke, die durch die verschiedene Form nicht zu verwechseln sind.
Bei der Tonkunst giebt es keinen Inhalt gegenüber der Form, weil sie keine Form hat
außerhalb des Inhalts. Betrachten wir dies näher.
7.12Die selbstständige, ästhetisch nicht weiter theilbare, musikalische Gedankeneinheit ist in jeder Composition das Thema. Die primitiven Bestimmungen, die man der Musik als solcher zuschreibt, müssen sich immer am Thema, dem musikalischen Mikrokosmus, nachweisbar finden. Hören wir irgend ein Hauptthema, z. B. zu Beethovenʼs B-dur-Symphonie. Was ist dessen Inhalt? Was seine Form? Wo fängt diese an, wo hört jener auf? Daß ein bestimmtes Gefühl nicht Inhalt des Satzes sei, hoffen wir dargethan zu haben, und wird in diesem wie in jedem andern concreten Fall nur immer einleuchtender erscheinen. Was also will man den Inhalt nennen? Die Töne selbst? Gewiß; allein sie sind eben schon geformt. Was die Form? Wieder die Töne selbst, – sie aber sind schon erfüllte Form.
7.13Jeder praktische Versuch, in einem Thema Form von
Inhalt trennen zu wollen, führt auf Widerspruch oder Willkür. Zum Beispiel: wechselt
ein Motiv, das von einem andern Instrument, oder einer höheren Octave wiederholt
wird, seinen Inhalt oder seine Form? Behauptet man, wie zumeist geschieht, das
Letztere, so bliebe als Inhalt des Motivs blos die Intervallenreihe als
solche, als Schema der Notenköpfe, wie sie in der Partitur dem Auge sich darstellt.
Dies ist aber keine musikalische Bestimmtheit, sondern ein Abstractum.
[134] Es
verhält sich damit, wie mit den gefärbten Glasfenstern eines Pavillons, durch welche
man dieselbe Gegend roth, blau, gelb erblicken kann. Diese ändert hierdurch weder
ihren Inhalt, noch ihre Form, sondern lediglich die
Färbung. Solch zahlloser Farbenwechsel derselben Formen vom grellsten
Contrast bis zur feinsten Schattirung ist der Musik ganz eigenthümlich und macht eine
der reichsten und ausgebildetsten Seiten ihrer Wirksamkeit aus.
7.14Eine für Clavier entworfene Melodie, die ein Zweiter später instrumentirt, bekommt durch ihn ebenfalls eine neue Form, aber nicht erst Form; sie ist schon geformter Gedanke. Noch weniger wird man behaupten wollen, ein Thema ändere durch Transposition seinen Inhalt und behalte die Form, da sich bei dieser Ansicht die Widersprüche verdoppeln und der Hörer augenblicklich erwiedern muß, er erkenne einen ihm bekannten Inhalt, nur „klinge er verändert.“
7.15Bei ganzen Compositionen, namentlich größerer
Ausdehnung, pflegt man freilich von deren Form und Inhalt zu sprechen. Dann gebraucht
man aber diese Begriffe nicht in ihrem ursprünglichen logischen Sinne, sondern schon
in einer specifisch musikalischen Bedeutung. Die „Form“ einer Symphonie,
Ouvertüre, Sonate nennt man die Architektonik der verbundenen Einzeltheile und
Gruppen, aus welchen das Tonstück besteht, näher also: die Symmetrie dieser Theile
in
ihrer Reihenfolge, Contrastirung, Wiederkehr und Durchführung. Als den
Inhalt begreift man aber dann die zu solcher Architektonik
verarbeiteten Themen. Hier ist also von einem Inhalt als „Gegenstand“
keine Rede mehr, sondern lediglich von einem musikalischen. Bei ganzen Tonstücken
wird daher „Inhalt“ und „Form“ in einer künstlerisch angewandten, nicht in der rein
logischen Bedeutung gebraucht; wollen wir diese an den Be
[135]griff
der Musik legen, so müssen wie nicht an einem ganzen, daher zusammengesetzten
Kunstwerk operiren, sondern an dessen letztem, ästhetisch nicht weiter theilbarem
Kerne. Dies ist das Thema, oder die Themen. Bei diesen läßt sich in gar
keinem Sinne Form und Inhalt trennen. Will man Jemand den „Inhalt“ eines Motivs
namhaft machen, so muß man ihm das Motiv selbst vorspielen. So kann also
der Inhalt eines Tonwerks niemals gegenständlich, sondern nur musikalisch aufgefaßt
werden, nämlich als das in jedem Musikstück concret Erklingende. Da die Composition
formellen Schönheitsgesetzen folgt, so improvisirt sich ihr Verlauf nicht in
willkürlich planlosem Schweifen, sondern entwickelt sich in organisch übersichtlicher
Allmäligkeit wie reiche Blüthen aus Einer Knospe.
7.16Dies ist das Hauptthema, – der wahre Stoff und Inhalt des ganzen Tongebildes. Alles darin ist Folge und Wirkung des Themas, durch dieses bedingt und gestaltet, von ihm beherrscht und erfüllt. Es ist das selbstständige Axiom, das zwar augenblicklich befriedigt, aber von unserm Geist bestritten und entwickelt gesehen werden will, was denn in der musikalischen Durchführung, analog einer logischen Entwicklung stattfindet. Wie die Hauptfigur eines Romans bringt der Componist das Thema in die verschiedensten Lagen und Umgebungen, in die wechselndsten Erfolge und Stimmungen, – alles Andere, wenn noch so contrastirend, ist in Bezug darauf gedacht und gestaltet.
7.17 Inhaltlos werden wir demnach etwa jenes freieste Präludiren nennen, bei welchem der Spieler, mehr ausruhend als schaffend, sich blos in Accorden, Arpeggioʼs, Rosalien ergeht, ohne eine selbstständige Tongestalt bestimmt hervortreten zu lassen. Solch freie Präludien werden als Individuen nicht erkennbar oder unterscheidbar sein, wir werden sagen dürfen, sie haben (im weiteren Sinne) keinen Inhalt, weil kein Thema.
[136]
7.18Das Thema eines Tonstückes ist also sein wesentlicher Inhalt.
7.19In Aesthetik und Kritik wird auf das Hauptthema einer Composition lange nicht das gehörige Gewicht gelegt. Das Thema allein offenbart schon den Geist, der das ganze Werk geschaffen. Wenn ein Beethoven die Ouvertüre zur „Leonore“ so anfängt, oder ein Mendelssohn die Ouvertüre zur „Fingalshöhle“ so, – da muß jeder Musiker, ohne von der weiteren Durchführung noch eine Note zu wissen, erkennen, vor welchem Palast er steht. Klingt uns aber ein Thema entgegen, wie das zur Faust-Ouvertüre von Donizetti, oder „Louise Miller“ von Verdi, so bedarf es ebenfalls keines weiteren Eindringens in das Innere, um uns zu überzeugen, daß wir in der Kneipe sind. In Deutschland legt Theorie und Praxis einen überwiegenden Werth auf die musikalische Durchführung gegenüber dem thematischen Gehalt. Was aber nicht (offenkundig oder versteckt) im Thema ruht, kann später nicht organisch entwickelt werden, und weniger vielleicht in der Kunst der Entwickelung, als in der symphonischen Kraft und Fruchtbarkeit der Themen liegt es, daß unsere Zeit keine Beethovenʼschen Orchesterwerke mehr aufweist.
7.20Bei der Frage nach dem Inhalt der
Tonkunst muß man sich insbesondere hüten, das Wort in lobender Bedeutung zu nehmen.
Daraus, daß die Musik keinen Inhalt (Gegenstand) hat, folgt nicht, daß sie des
Gehalts entbehre. „Geistigen Gehalt“ meinen offenbar Diejenigen,
welche mit dem Eifer einer Partei für den „Inhalt“ der Musik fechten. Mag man den
„Gehalt“ nun mit
Goethe
(45, 419) als
„etwas Mystisches außer und über dem Gegenstand und Inhalt“
eines Dinges begreifen oder dem allgemeinen Verstand gemäßer als die
substantiell werthvolle Grundlage, das geistige Substrat überhaupt, immer wird man
ihn der Tonkunst zuerkennen,
[137] und in ihren
höchsten Gebilden als gewaltige Offenbarung bewundern müssen. Die Musik ist ein
Spiel, aber keine Spielerei. Gedanken und Gefühle rinnen wie Blut in den Adern des
ebenmäßig schönen Tonkörpers; sie sind nicht er, sind auch nicht
sichtbar, aber sie beleben ihn. Der Componist dichtet
und denkt. Nur dichtet und denkt er, entrückt aller gegenständlichen
Realität, in Tönen. Muß doch diese Trivialität hier ausdrücklich
wiederholt sein, weil sie selbst von Denjenigen, die sie principiell anerkennen, in
den Consequenzen allzuhäufig verläugnet und verletzt wird. Sie denken sich das
Componiren als Uebersetzung eines gedachten Stoffs in Töne, während doch die Töne
selbst die unübersetzbare Ursprache sind. Daraus, daß der Tondichter gezwungen ist,
in Tönen zu denken, folgt ja schon die Inhaltlosigkeit der Tonkunst,
indem jeder begriffliche Inhalt in Worten müßte gedacht werden
können.
7.21So strenge wir bei der Untersuchung des Inhalts alle Musik über gegebene Texte, als dem reinen Begriff der Tonkunst widersprechend, ausschließen mußten, so unentbehrlich sind die Meisterwerke der Vocalmusik bei der Würdigung des Gehaltes der Tonkunst. Vom einfachen Lied bis zur gestaltenreichen Oper und der altehrwürdigen Gottesfeier durch Kirchenmusik hat die Tonkunst nie aufgehört, die theuersten und wichtigsten Bewegungen des Menschengeistes zu theilen und zu verherrlichen.
7.22Nebst der Vindication des geistigen
Gehaltes muß noch eine zweite Consequenz nachdrücklich hervorgehoben
werden. Die gegenstandlose Formschönheit der Musik hindert sie nicht, ihren
Schöpfungen Individualität aufprägen zu können. Die Art der
künstlerischen Bearbeitung, so wie die Erfindung gerade dieses Themaʼs ist in jedem
Fall eine so einzige, daß sie niemals in einer höheren Allgemeinheit zerfließen kann,
sondern als Indivi
[138]
duum dasteht. Ein Motiv von Mozart oder Beethoven ruht so fest und
unvermischbar auf eigenen Füßen, wie ein Vers
Goetheʼs, ein Ausspruch
Lessingʼs, eine Statue
Thorwaldsenʼs, ein Bild
Overbeckʼs. Die selbstständigen musikalischen Gedanken (Themen) haben
die Sicherheit eines Citats und die Anschaulichkeit eines Gemäldes; sie sind
individuell, persönlich, ewig.
7.23Wenn wir daher schon Hegelʼs Ansicht von der Gehaltlosigkeit der Tonkunst nicht theilen können, so scheint es uns noch irrthümlicher, daß er dieser Kunst nur die Aussprache des „individualitätslosen Innern“ zuweist. Selbst von Hegelʼs musikalischem Standpunkt, welcher die wesentliche formende, objective Thätigkeit des Componisten übersieht, die Musik rein als freie Entäußerung der Subjectivität auffassend, folgt nicht die „Individualitätslosigkeit“ derselben, da ja der subjectiv producirende Geist wesentlich individuell erscheint.
7.24Wie die Individualität sich in der Wahl und Bearbeitung der verschiedenen musikalischen Elemente ausprägt, haben wir im 3. Kapitel berührt. Gegenüber dem Vorwurf der Inhaltlosigkeit also hat die Musik Inhalt, allein musikalischen, welcher ein nicht geringerer Funke des göttlichen Feuers ist, als das Schöne jeder andern Kunst. Nur dadurch aber, daß man jeden andern „Inhalt“ der Tonkunst unerbittlich negirt, rettet man deren „Gehalt“. Denn aus dem unbestimmten Gefühle, worauf sich jener Inhalt im besten Fall zurückführt, ist ihr eine geistige Bedeutung nicht abzuleiten, wohl aber aus der bestimmten schönen Tongestaltung als der freien Schöpfung des Geistes aus geistfähigem Material.